Die aristotelische Poetik und wir1

Erlauben Sie mir als einem Italiener, die Frage der aristotelischen Poetik in Form von Bekenntnissen eines Kindes meiner Zeit anzugehen. Die italienische Kultur hat die großen Aristoteles-Kommentatoren der Renaissance hervorgebracht, und in der Barockzeit war es Emanuele Tesauro, der mit seinem Cannocchiale aristotelico die Welt der nachgalileischen Physik wieder auf die poetischen Theorien des Aristoteles als den einzigen Weg zur Lösung der Probleme der Humanwissenschaften verwies. Doch schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist die italienische Kultur durch jene Scienza nuova von Vico befruchtet worden, die jedwede aristotelische Vorschrift in Frage stellte, um von einer Sprache und einer Dichtung zu sprechen, die sich außerhalb aller Regeln entwickeln. Während man in Frankreich - von Boileau bis Batteux, von Le Bossu bis Dubos und sogar bis zur Encyclopédie -noch dabei war, zusammen mit den Regeln des Geschmacks die Regeln der Tragödie zu suchen, öffnete Vico ungewollt das Tor zu einer Philosophie und einer Sprachwissenschaft und einer Ästhetik der unvorhersehbaren Freiheit des Geistes.

Nicht der von Adel und Klassik geprägte esprit im französischen Sinne ist hier gemeint, sondern der

romantische und hegelianische Geist2, der sich durch und in der Geschichte verwirklicht und selber Geschichte ist. Daher war unsere Kultur hundert Jahre lang, vom Idealismus des 19. Jahrhunderts bis zu Croce, von der Ablehnung jeder Rhetorik und jeder Poetik beherrscht. In einer idealistischen Ästhetik, die das gesamte Sprachvermögen von Anfang an in der ästhetischen Kreativität begründet sah, konnte das dichterische Phänomen nicht mehr als Abweichung von einer vorgegebenen Norm beschrieben werden, sondern nur als »auroraler« (morgenrötlicher) Augenblick. Die wenigen Seiten, die Croce über Aristoteles geschrieben hat, bezeugen unausrottbare Vorurteile, die einen formal unangreifbaren Syllogismus gebären:

(a)    Die Ästhetik entsteht mit Baumgarten und seiner Idee einer scientia cognitionis sensitivae, gnoseologia inferior,

(b)    Aristoteles hat Baumgarten nicht lesen können,

(c)    ergo hat Aristoteles nichts über die Ästhetik zu sagen.

Ich erinnere mich noch an die Schauder, die ich als junger Mensch verspürte - wobei ich mich ausgegrenzt fühlte wie ein kleiner Homosexueller in der viktorianischen Welt -, als ich entdeckte, daß die angelsächsische Tradition während der ganzen Zeit nicht aufgehört hatte, die aristotelische Poetik ernst zu nehmen.

Es überraschte mich nicht, Spuren von Aristoteles bei Dryden oder Hobbes, Reynolds oder Samuel Johnson zu finden, um nicht von den oft unpräzisen und manchmal polemischen Bezugnahmen auf die Poetik zu sprechen, die ich bei Wordsworth oder Coleridge fand, aber ich war frappiert, als ich Literaturwissenschaftler und Dichter aus der Generation von Croce las, die mir das Bild einer

Kultur vermittelten, für welche Aristoteles noch immer ein Vorbild oder Bezugspunkt war.

Ein Klassiker der amerikanischen Theorie der Literaturkritik, I. A. Richards’ Principles of Literary Criticism (1924), beginnt mit einem Verweis auf Aristoteles; wenn es der Theory of Literature von Wellek und Warren (1942) gelungen ist, die Prinzipien der angelsächsischen Kritik mit den Forschungen der russischen Formalisten und der Prager Strukturalisten zu verschmelzen, dann weil sie sich fast in jedem Kapitel unter das Zeichen von Aristoteles stellt. In den vierziger Jahren haben die Meister des New Criticism sich mit Aristoteles gemessen. Ich entdeckte die Schule von Chicago, die sich ohne Vorbehalt als neoaristotelisch definierte, und einen Theoretiker des modernen Theaters wie Francis Ferguson (The Idea of Theater, 1949), der die Begriffe plot and action benutzte und den Macbeth unter dem Aspekt der Mimesis einer Handlung analysierte, oder Northrop Frye, der in seiner Anatomy of Criticism (1957) mit dem aristotelischen Begriff des Mythos spielte.

Doch es würde genügen, den Einfluß der Poetik auf einen Autor wie Joyce zu nennen. Er erwähnt sie nicht nur im Paris Notebook von 1903, das er während seiner Besuche in der Bibliothèque Sainte Geneviève geschrieben hat, sondern er verfaßt auch 1904 ein ironisches kleines Gedicht über die Katharsis. Er sagt Stuart Gilbert, daß die Äolus-Episode im Ulysses auf der Rhetorik beruhe. In einem Brief an seinen Bruder Stanislaus vom 9. März 1903 kritisiert er John Millington Synge, weil er für seinen Geschmack nicht aristotelisch genug sei. In einem Brief an Ezra Pound vom 9. April 1917 schreibt er über den Ulysses: »I am doing it, as Aristotle would say -by different means in different parts.« Und last but not least ist die Theorie der literarischen Gattungen im

Portrait eindeutig aristotelischen Ursprungs. Im Portrait entwickelt Stephen Dedalus eine Definition von Furcht und Mitleid, wobei er bedauert, daß Aristoteles keine in seiner Poetik gegeben habe, und übersieht, daß er es in seiner Rhetorik getan hat. Dank einer Art von wundertätiger Wahlverwandtschaft sind die Definitionen, die Joyce erfindet, sehr ähnlich denen in der Rhetorik - doch er studierte bei den Jesuiten, und mit einem Aquinaten aus zweiter Hand muß ihm auch ein Aristoteles aus dritter Hand zugewachsen sein. Zu schweigen von dem englischsprachigen kulturellen Milieu, in dem er lebte und dessen aristotelische Neigungen wir schon erwähnt haben.

Meine entscheidende aristotelische Erfahrung war jedoch, glaube ich, Edgar Allan Poes Essay Philosophy of Composition, in dem er Wort für Wort und Struktur für Struktur die Entstehung, die Technik und die Motivation seines berühmten Gedichts The Raven analysiert. In diesem Essay wird Aristoteles zwar nie erwähnt, aber als Vorbild ist er allgegenwärtig, auch im Gebrauch einiger Schlüsselbegriffe.

Poe wollte zeigen, wie der Effekt einer »starken und reinen Erhebung der Seele« (die Schönheit) durch eine entsprechende Strukturierung erreicht wird, und dem Leser vor Augen führen, wie das Werk »Schritt für Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung entgegengeht«, wenn man auf eine Einheit des Eindrucks (die materiell die Zeiteinheit eines Leseakts ist), des Themas und der emotionalen Tonart achtet.

Der Skandal dieses Textes besteht darin, daß sein Autor die Regeln darlegt, mit deren Hilfe es ihm gelungen ist, den Eindruck von Spontaneität zu erzeugen, und genau diese Lehre ist es, die uns auch die Poetik des Aristoteles entgegen jeder Ästhetik des Unsagbaren erteilt. Dieselbe

aristotelische Lehre findet sich in dem späthellenistischen Text Vom Erhabenen des sogenannten Pseudo-Longinos, der gewöhnlich als eine Verherrlichung des ästhetischen je-ne-sais-quoi angesehen wird. Der Text will zwar über einen poetischen Effekt sprechen, der sich nicht auf rationale oder moralische Überzeugung gründet, sondern auf ein Gefühl des Staunens, das sich als Ekstase und Blitzschlag äußert. Doch schon auf der ersten Seite erklärt der Autor, er wolle nicht nur den Gegenstand seiner Rede definieren, sondern auch sagen, durch welche Mittel dieser Effekt erzeugt werden kann. Daher folgt im zweiten Teil eine detaillierte Analyse der rhetorischen Strategien, die ins Werk gesetzt werden müssen, um durch definierbare Vorgehensweisen diesen nicht definierbaren Effekt zu erzielen.

In gleicher Weise geht Poe vor, nur ist seine Philosophy of Composition ein ebenso faszinierender wie mehrdeutiger Text: Handelt es sich um Anweisungen für andere Dichter oder um eine implizite Theorie der Kunst im allgemeinen, extrapoliert aus einer persönlichen Schreiberfahrung durch einen Autor, der sich als kritischer Leser seines eigenen Werks betätigt?

Die fruchtbare Ambiguität dieses Textes hat Kenneth Burke bemerkt, der Poes Essay von Anfang an in explizit aristotelischen Begriffen angeht.3 Wenn es darin eine Disziplin namens Poetik gibt, dann hat sie nichts zu tun mit einer Kritik, die als kommerzieller Ratschlag für den Leser oder als Verteilung von Lob und Tadel verstanden wird. Sie muß sich mit einer der Dimensionen von

Sprache befassen, und in diesem Sinne ist sie der eigentliche Gegenstand des Kritikers, so wie Dichtung der Gegenstand des Dichters ist. »Eine Annäherung an Dichtung in Begriffen von Poetik ist eine Annäherung in Begriffen der Natur jener Dichtung als Gattung (eine Spezies und literarische Form).«

In diesem Sinne nähert sich Burkes Definition derjenigen der Prager Schule, für die Poetik die Disziplin ist, welche die »Literarizität« der Literatur erklärt, das heißt die Frage, warum ein literarisches Werk als solches bezeichnet werden kann.

Burke weiß sehr wohl, daß der Versuch, literarische Vorgehensweisen und Regeln zu definieren, wie geschehen dazu führen kann, eine deskriptive Wissenschaft in eine normative zu verwandeln. Dennoch kann die Poetik sich nicht der Pflicht entziehen, Anleitungen oder Gebote zu formulieren, die in der Praxis des Dichters implizit sind, auch wenn er sich ihrer nicht bewußt ist.

Poe war sich ihrer durchaus bewußt, und folglich arbeitete er als philosophus additus artifici. Vielleicht hat er sie sich erst nachträglich klargemacht und beim Schreiben noch nicht gewußt, was er tat, aber als Leser seiner selbst hat er dann begriffen, warum sein Gedicht The Raven den Effekt produziert, den es produziert, und warum wir es schön finden. Die Analyse, die der Autor Poe macht, hätte ein Leser wie Roman Jakobson machen können. Indem er eine Schreibpraxis zu definieren versucht, für die ihm sein eigenes Gedicht als Beispiel dient, hat Poe Strategien beschrieben, die das künstlerische Schaffen im allgemeinen charakterisieren.

Poes Essay ist aristotelisch in seinen Ausgangsprinzipien, in seinen Zielen, in seinen Ergebnissen und in seiner Ambiguität. Lubomir Dolezel hat sich die Frage gestellt, ob die aristotelische Poetik ein Werk der Kritik ist (das auf Bewertung des Werks zielt, über das sie spricht) oder eines der Poetik, das wie gesagt darauf abzielt, die Bedingungen der Literarizität zu bestimmen.3

Mit einem Zitat von Northrop Frye erinnert Dolezel, daran, daß die Poetik eine intelligible Struktur der Erkenntnis freilegt, die weder selbst Dichtung noch Erfahrung von Dichtung ist, und betrachtet sie (unter Verweis auf einige Unterscheidungen in der aristotelischen Metaphysik) als eine produktive Wissenschaft, die auf Erkenntnis zielt, um Objekte zu schaffen.

In diesem Sinne interpretiert die Poetik nicht individuelle Werke, sondern benutzt sie lediglich als einen Fundus von Beispielen. Doch bei der Verfolgung dieses Ziels gerät sie in eine paradoxe Lage, denn während sie das Wesen der Dichtung zu erfassen versucht, entgeht ihr deren wesentlichstes Merkmal, nämlich ihre Einmaligkeit und die Variabilität ihrer Erscheinungsformen.

So bemerkt Dolezel, daß die Poetik des Aristoteles zugleich der Gründungsakt sowohl der Literaturtheorie als auch der abendländischen Literaturkritik ist, und dies gerade aufgrund ihres inneren Widerspruchs. Sie etabliert eine Metasprache der Kritik und ermöglicht Urteile auf der Basis des von ihr gelieferten Wissens. Aber dieses Ergebnis kostet sie einen Preis: Jede Poetik, die von idealen Strukturen spricht und dabei die Besonderheiten der individuellen Werke ignorieren will, ist immer auch eine Theorie der Werke, die der Theoretiker als die besten beurteilt. Daher hat auch die aristotelische Poetik eine -um Popper zu paraphrasieren - »beeinflussende Ästhetik«, und Aristoteles verrät seine literarischen Präferenzen jedesmal, wenn er ein Beispiel wählt.

Nach Gerald Frank Else4 könnte nur ein Zehntel aller griechischen Tragödien den von Aristoteles beschriebenen Strukturen entsprechen. In einem Circulus vitiosus hat ein intuitiv-kritisches Urteil die Auswahl der Beispiele im voraus getroffen, aufgrund derer dann die allgemeinen Prinzipien entwickelt werden, die diese Auswahl kritisch rechtfertigen. Wozu Dolezel anmerkt, daß zwar auch Eises Behauptung auf einem kritischen Vor-Urteil beruht, sein Argument aber in jedem Fall stichhaltig ist, da es auf jenen Teufelskreis hinweist, der wahrscheinlich die ganze Geschichte der Poetik und der Kritik durchzieht.

Wir stehen also nicht vor dem Gegensatz (wie man lange geglaubt hat) zwischen einer normativen Poetik und einer Ästhetik, die sich auf einer so allgemeinen Ebene bewegt, daß sie sich nicht mit der Realität der je besonderen Werke kompromittiert (der Satz »Schönheit ist der Glanz der vereinigten Transzendentalien« ist eine ästhetische Definition, mit der sich sowohl König Ödipus als auch ein schöner Abenteuerroman rechtfertigen läßt), sondern eher vor dem Schwanken zwischen einer deskriptiven Theorie und einer kritischen Praxis, die sich gegenseitig voraussetzen.

Aristoteles behandelt nicht nur abstrakte Kriterien von Ordnung und Maß, Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit und organischem Gleichgewicht (Kap. 7, 1450b 21 ff.), sondern auch jenes Kriterium, das jede rein formalistische Lektüre der Poetik sprengt. Grundlegendes Element der Tragödie ist die Intrige (im Sinne von Handlungsgang oder Plot), und die Intrige ist Nachahmung einer Handlung, deren Ziel, das Telos, der von ihr produzierte Effekt, das Ergon ist. Und dieses Ergon ist die Katharsis. Schön oder gut gelungen ist diejenige Tragödie, die eine Reinigung von den Leidenschaften zu bewirken vermag. Daher ist der kathartische Effekt eine Art Krönung des tragischen Werks, und er hat seinen Sitz nicht in der Tragödie als geschriebenem oder rezitiertem Diskurs, sondern in der Tragödie als rezipiertem Diskurs.

Die Poetik stellt das erste Auftauchen einer Rezeptionsästhetik dar, aber sie stellt uns auch vor einige ungelöste Probleme jeder »leserorientierten« Theorie.

Bekanntlich kann die Katharsis auf zweierlei Weise interpretiert werden, und beide Interpretationen werden von jener rätselhaften Formel gestützt, die in 1449b    27-28 steht:    Die Tragödie verwirklicht

tfiv tijv Towrrtov nttOTNiaxojv wäGcijjaiv - »die Reinigung von dieser Art Leidenschaften«.

Nach der ersten Lesart spricht Aristoteles hier von einer Reinigung, die uns durch intensive Erfahrung unserer Leidenschaften befreit - wie es von seiner Politik nahegelegt würde (die jedoch unglücklicherweise auf die Poetik verweist, um eine Erklärung zu geben, die in keinem der beiden Werke explizit ausgeführt wird). Demnach wäre die Katharsis in traditionell medizinischen Termini als eine »homöopathische« Aktion zu verstehen, eine Befreiung des Zuschauers durch Identifikation mit den Leidenschaften der Personen des Dramas, und würde sich als Erfahrung des Unvermeidlichen aufzwingen. Die Tragödie wäre, so verstanden, eine korybantische oder psychagogische, den Zuschauer unmittelbar ins Geschehen hineinziehende Maschine (ein gewisser Abstand wäre nur bei der Komödie möglich, doch über das, was Aristoteles unter Komödie verstand, wissen wir zu wenig).

Die zweite Lesart versteht Katharsis im »allopathischen« Sinn, nämlich als Reinigung der Leidenschaften selbst, insofern diese »schön« dargestellt und aus der Distanz als Leidenschaften anderer gesehen werden, und das mit dem kühlen Blick eines Zuschauers, der reines, körperloses Auge geworden ist und nicht selbstempfundene Leidenschaften genießt, sondern den Text, der sie in Szene setzt.

Um diesen Konflikt zweier Lesarten zu radikalisieren könnte man sagen, einerseits ergibt sich eine dionysische Ästhetik und andererseits eine apollinische. Oder um ihn zu banalisieren, einerseits haben wir eine Ästhetik der Disko und des Splatterfilms (auf die Lesart der aristotelischen Poetik als Theorie der massenmedialen Emotionen komme ich noch zu sprechen) und andererseits eine Ästhetik als Moment von heiter-gelassener, uneigennütziger Kontemplation, in der die Kunst den Glanz des Wahren zeigt.

Diese Ambiguität steckt bereits in den Quellen, auf die Aristoteles sich bezog. Die Pythagoräer »hatten passende Gesänge für die Leidenschaften der Seele, einige für die Schwächen und andere für die Wutausbrüche, durch welche sie, indem sie die Leidenschaften im richtigen Maße erregten und steigerten, sie sich zu einer mutvollen Tugend formten« (Jamblichos, Leben des Pythagoras). Und Pythagoras selbst benutzte poetische Texte - Homer, Dithyramben, Trauer- und Klagelieder - zu kathartisehen Zwecken. Wahrscheinlich ist, daß Aristoteles von einer Reinigung sprechen wollte, die sich durch einen Akt freier Schau der wunderbaren Organisation des Großen Tragischen Tieres verwirklicht, und daß er zugleich fasziniert war von den psychagogischen Kräften, die seine Kultur ihm nahelegte.

Andere fruchtbare Ambiguitäten machen die Aktualität der Poetik aus. Aristoteles ist ein Alexandriner, der den religiösen Geist, der noch das fünfte Jahrhundert beseelte, weitgehend verloren hat. Er arbeitet ein bißchen wie ein moderner westlicher Ethnologe, der nach universalen Invarianten in den Erzählungen der Wilden sucht, von denen er fasziniert ist, die er jedoch nur von außen versteht. Damit kommen wir zu einer anderen, sehr modernen Lesart von Aristoteles, die er selbst nahelegt, indem er so tut, als spreche er von der Tragödie, während er in Wirklichkeit eine Semiologie der Narrativität entwickelt. Das tragische Schauspiel umfaßt die Erzählung (den Mythos), die Charaktere, die Sprache, den Gedanken, die Inszenierung und die Musik, aber »das wichtigste dieser Elemente ist die Zusammenfügung der Geschehnisse ... Daher sind die Geschehnisse und die Erzählung (der Mythos) das Ziel der Tragödie« (1450a 15 - 23).

Ich stimme Ricreur zu, wenn er schreibt6, in der Poetik werde die auf der Intrige gegründete Narration, diese Fähigkeit, eine Erzählung als »Zusammenfügung der Geschehnisse« zu komponieren, gleichsam zur allgemeinen Gattung, von der die Epopöe eine Art oder Spezies darstellt. Die Gattung, von der die Poetik spricht, ist die Darstellung einer Handlung (pragma) durch einen mythos (im Sinne von Intrige, Plot, Handlungsgang oder -verwicklung5), von welchem die epische Diegesis und die dramatische Mimesis nur Arten sind.

Nun ist die Theorie der Intrige das, was unser Jahrhundert vielleicht am tiefsten beeinflußt hat. Die erste Theorie der Narrativität entstand bei den russischen Formalisten, die einerseits die Unterscheidung zwischen fabula und sjuzet vorschlugen und andererseits die Zerlegung der Fabel in eine Reihe von Motiven und narrativen Funktionen. Zwar ist es schwer, direkte Bezugnahmen auf Aristoteles in den Texten von Sklovskij, Veselovskij oder Propp zu finden, aber in der ersten Monographie über die russischen Formalisten, der von Victor Erlich (Russian Formalism, 1954)6, zeigte sich klar, wieviel die Formalisten der aristotelischen Tradition verdankten - auch wenn Erlich zu Recht bemerkte, daß die formalistischen Begriffe fabula und sjuzet nicht deckungsgleich mit pragma und mythos sind. Mit gleichem Recht könnte man darauf hinweisen, daß die narrativen Funktionen bei Aristoteles weniger zahlreich sind als bei Propp. Aber das Prinzip ist ohne Zweifel dasselbe, und dieser Tatsache waren sich die ersten strukturalistischen Kritiker zu Beginn der sechziger Jahre bewußt geworden (es wäre allerdings ungerecht, hier nicht an die 36 dramatischen Situationen von Polti und ihre Vervielfachung bei Souriau zu erinnern, die wie immer auch ungenau auf Gozzi zurückgehen - also auf einen Italiener des 18. Jahrhunderts, der Aristoteles nicht vergessen hatte).7

»Zahllos sind die Erzählungen der Welt«, schrieb Roland Barthes in seiner »Introduction à l’analyse structurale des récits« (Communications 8, 1966). »Es ist daher legitim, daß man, weit davon entfernt, auf jeden Ehrgeiz einer Theorie der Erzählung zu verzichten unter dem Vorwand, es handle sich um eine universelle Tatsache, sich immer wieder (seit Aristoteles) für die narrativen Formen interessiert hat; und es ist normal, daß der aufkommende Strukturalismus dieser Form besondere Aufmerksamkeit widmet.« In derselben Nummer von Communications, die sich mit der Aristoteles-Lektüre befaßte, fand sich auch der erste Beitrag von Genette, »Frontières du récit«, und die erste Formulierung jener Semiotik des Erzählens von Bremond, die als eine detaillierte Systematisierung der von Aristoteles angeregten formalen Strukturen angesehen werden könnte (seltsamerweise hat dann Todorov, der sich in seinen anderen Werken als ein guter Aristoteles-Kenner erweist, seine Grammaire du Décameron auf rein grammatikalische Fundamente gestellt).

Ich behaupte nicht, daß eine Theorie der Intrige und der Narrativität erst im 20. Jahrhundert entstanden sei.8 Das

Interessante ist aber, daß die moderne Kultur zu diesem »starken« Aspekt der aristotelischen Poetik genau in der Periode zurückgekehrt ist, in der die Romanform nach Aussage vieler in die Krise geraten war.

Jedenfalls ist das Erzählen und das Erzählern Zuhören eine biologische Grundfunktion. Man entzieht sich nicht leicht der Faszination einer guten Intrige im Reinzustand. Joyce ignoriert vielleicht die Regeln der attischen Tragödie, aber nicht die aristotelische Idee des Erzählens. Er stellt sie höchstens in Frage, aber er respektiert sie. Die Nicht-Abenteuer von Leopold und Molly Bloom bleiben uns verständlich, weil sie sich vor dem Hintergrund unserer Erinnerungen an die Abenteuer von Tom Jones oder Telemaque/Telemach abzeichnen. Sogar die Weigerung des Nouveau Roman, uns Furcht und Mitleid empfinden zu lassen, wird aufregend vor dem Hintergrund unserer tief eingewurzelten Überzeugung, daß eine Romanerzählung nun einmal diese Gefühle in uns hervorrufen soll. Die Biologie rächt sich. Als die Literatur sich weigerte, uns spannende Handlungen zu liefern, haben wir sie uns im Kino oder in der Reportage gesucht.

Es gibt noch einen anderen Grund, aus dem unsere Zeit sich so sehr für die Theorie der Intrige interessiert hat. Wir sind davon überzeugt, daß das Grundmuster der Begriffspaare Story und Plot, Fabel und narrativer Diskurs, pragma und mythos, nicht nur zur Erklärung jener literarischen Gattungen taugt, die man im Englischen fiction nennt. Jeder Diskurs hat eine Tiefenstruktur, die narrativ ist oder in narrativen Begriffen entfaltet werden kann. Ich könnte die Analyse zitieren, die Greimas von Dumézil s Einführung in seine Naissance d’Ar change gemacht hat,9 worin der wissenschaftliche Text eine polemische Struktur an den Tag legt, die sich in Form von akademischen Theatercoups, Kämpfen gegen Opponenten, Siegen und Niederlagen ausdrückt. In meinem Buch Lector in fabula (1979) habe ich zu zeigen versucht, wie man eine Fabel sogar noch unter dem scheinbar gänzlich handlungsfreien Anfangssatz von Spinozas Ethik finden kann: Per causam sui intelligo id cuius essentia involvit existentiam; sive id cuius natura non potest concipi nisi existens.10

In diesem Satz sind mindestens zwei fabulae enthalten. Die eine betrifft einen grammatikalisch impliziten Agenten (ego), der die Handlung des Verstehens oder Bedeutens vollführt und dadurch von einer wirren zu einer klareren Erkenntnis Gottes gelangt. Bedenken wir dabei: wenn intelligo als »ich verstehe« oder »ich anerkenne« verstanden wird, dann bleibt Gott ein Objekt, das durch die Handlung nicht modifiziert wird, wenn aber das Verb als »ich will bedeuten« oder »ich will sagen«, verstanden wird, dann instauriert der Agent durch den Akt seiner Definition das Objekt seiner Rede (läßt es als kulturelles Objekt existieren).

Dieses Objekt mitsamt seinen Attributen ist zudem das Subjekt einer anderen fabula. Es ist ein Subjekt, das eine Handlung vollführt, durch welche es kraft der Tatsache, daß es west (vorhanden ist), existiert. Es scheint, daß der göttlichen Natur bei diesem Abenteuer nichts »passiert«, da es weder einen zeitlichen Abstand zwischen Aktualisierung des Wesens/Vorhandenseins und Aktualisierung der Existenz gibt (und beide niemals durch irgendeine dem Akt vorangehende Potenz hindurchmüssen, da sie immer schon da sind), noch die Existenz, indem sie überhandnähme, das Wesen/Vorhandensein verändert. Wir haben es zweifellos mit einem Grenzfall zu tun, bei dem sich sowohl die Handlung wie der Zeitverlauf in einem Nullzustand befinden (= unendlich sind), während Gott seit jeher in seiner Selbstmanifestation handelt, indem er ununterbrochen und seit jeher die Tatsache schafft, daß er kraft seines bloßen Wesens/ Vorhandenseins existiert. Das ist wenig Handlung für eine Abenteuergeschichte, aber genug, um die Grundbedingungen einer Fabel zu ergeben. Es fehlt vielleicht an überraschenden Wendungen, aber das hängt von der Sensibilität des Lesers ab. Der Modell-Leser einer solchen

Geschichte ist ein Mystiker oder ein Metaphysiker, ein am Text Mitarbeitender mit der Fähigkeit, angesichts dieses Nicht-Geschehens, das ihn unaufhörlich durch seine Außerordentlichkeit erregt, intensivste Gefühle zu empfinden. Auch der Amor Dei Intellectualis, die Geistige Liebe zu Gott, ist eine brennende Leidenschaft, und es gibt verblüffende und fortdauernde Überraschung in der Erkenntnis des Vorhandenseins der Notwendigkeit.

Wenn wir also heute entdecken, daß auch jeder philosophische oder wissenschaftliche Text als Erzählung gelesen werden kann, dann liegt das vielleicht auch daran, daß heute, mehr als in anderen Epochen, Wissenschaft und Philosophie sich als »Große Erzählungen« präsentieren wollen (vielleicht sogar, um der Krise des Romans zu begegnen). Dies heißt nicht, daß sie nun - wie es einigen widerfährt -, bloß weil sie Erzählungen sind, nicht mehr in Begriffen der Wahrheit beurteilt zu werden brauchten. Sie wollen ganz einfach eine bestimmte Wahrheit auch durch eine fesselnde narrative Struktur ausdrücken. Und wenn dann die großen philosophischen Erzählungen unzureichend erscheinen, sehen wir einen Großteil der heutigen Philosophie, statt die Wahrheit bei den Philosophen der Vergangenheit zu suchen, sie bei Proust oder Kafka, bei Joyce oder Thomas Mann suchen gehen. Was wohl nicht so sehr daran liegt, daß die Philosophen es aufgegeben hätten, die Wahrheit zu sagen, als daran, daß auch die Kunst und Literatur sich dieser Aufgabe angenommen haben. Aber dies sind marginale Betrachtungen, die mit Aristoteles nichts zu tun haben.

Die Poetik hat viele Gesichter. Es kann keinen fruchtbaren Text geben, der nicht auch widersprüchliche Resultate zeitigt. Unter meinen ersten Entdeckungen der Aktualität des Aristoteles war ein Buch von Mortimer

Adler, der eine Ästhetik des Films auf aristotelischer Grundlage entwickelt hatte.11 Darin gab er folgende Definition: »Ein Film ist Nachahmung einer vollständigen Handlung von einer gewissen Größe unter Benutzung von Bildern, klanglichen Effekten, Musik und anderem.« Die Definition war vielleicht ein bißchen scholastisch (Adler war ein Thomist, der auch Marshall McLuhan inspiriert hat), aber der Gedanke, daß die Poetik, wenn sie auch nicht mehr zur Definition der »hohen« Literatur tauge, immer noch als eine perfekte Theorie der populären Literatur und Kunst benutzt werden könne, ist auch von anderen Autoren vertreten worden.12

Ich teile nicht die Auffassung, daß die Poetik nicht zur Definition der »hohen« Literatur tauge, aber sicher ist, daß sie sich mit ihrem Beharren auf der Intrige (immer verstanden als Plot und Handlungsgang) besonders gut dazu eignet, die Strategie der Massenmedien zu beschreiben. Die Poetik ist zweifellos unter anderem die Theorie der Western a la John Ford - nicht weil Aristoteles ein Prophet gewesen wäre, sondern weil jeder, der eine Handlung durch eine Intrige darstellen will (was ein Western voll und ganz tut), nicht anders vorgehen kann, als Aristoteles es vorausgesehen hatte. Wenn das Geschich-ten-Erzählen eine biologische Funktion ist, hatte Aristoteles von dieser Biologie der Narrativität bereits alles verstanden, was man dazu brauchte.

Die Massenmedien stellen sich nicht gegen unsere biologischen Neigungen, im Gegenteil, man könnte sie eher anklagen, menschlich, allzu menschlich zu sein. Die

Frage ist allenfalls, ob die Furcht und das Mitleid, die sie hervorrufen, wirklich zu einer Katharsis führen, aber wenn man Katharsis in ihrem homöopathischen Minimalsinn versteht (weine, und du fühlst dich besser), sind sie angewandte Poetik im Minimalzustand.

Man könnte sogar sagen, wenn wir uns an die aristotelischen Ideen über die Konstruktion eines mythos halten, der ein effizientes ergon hervorbringt, ist der Absturz ins Massenmediale unvermeidlich. Nehmen wir noch einmal Poe: Läsen wir nur die Seiten, die er über die Erzeugung der gewünschten Emotionen geschrieben hat, könnten wir glauben, wir hätten es mit einem Drehbuchschreiber von Dallas zu tun. In der Absicht, ein Gedicht zu schreiben, das in etwas mehr als hundert Versen ein Gefühl von Melancholie erzeugt (»denn Melancholie ist die legitimste aller poetischen Tonarten«), fragt er sich, welcher unter allen melancholischen Stoffen der melancholischste sei, und kommt zu dem Schluß: der Tod, und der poetischste all dieser melancholischsten Stoffe sei der Tod einer schönen Frau, »fraglos der poetischste Stoff der Welt«.

Hätte Poe sich allein an diese Prinzipien gehalten, hätte er Love Story geschrieben. Zum Glück wußte er, daß der Plot als dominierendes Element jeder Story mit anderen Elementen abgestimmt und temperiert werden muß. Er entging der massenmedialen Falle (ante litteram), weil er andere formale Prinzipien hatte. Daher die Berechnung der Verse, die Analyse der Musikalität des Nevermore, der kalkulierte visuelle Kontrast zwischen der weißen Pallasbüste und der Schwärze des Raben und all das übrige, was The Raven zu einem dichterischen Werk und nicht zu einem Horrorfilm macht.

Aber wir sind noch bei Aristoteles. Poe kalkulierte eine richtige und organische Mischung aus lexis, opsis, dianoia, ethos und melos. So bepackt man das Skelett eines mythos mit Fleisch. Die Massenmedien können uns zum Weinen bringen und trösten, aber gewöhnlich erlauben sie uns nicht, uns durch den Genuß eines wohlgeformten »Großen Tieres« zu läutern. Wenn sie doch einmal so weit gelangen - und für mich ist das fraglos bei John Fords Stagecoach der Fall -, dann haben sie tatsächlich die Ideale der Poetik verwirklicht.

Wir kommen zur letzten Ambiguität. Die Poetik ist das Werk, in dem erstmals eine Theorie der Metapher entwickelt wird. Ricreur bemerkt13 (unter Verweis auf Derrida, für den bei Aristoteles das Definierte im Definierenden impliziert ist), daß Aristoteles, um die Metapher zu erklären, eine Metapher bildet, die er sich aus dem Bereich der Dynamik entleiht. Tatsächlich stellt uns die aristotelische Theorie vor das Grundproblem jeder Philosophie der Sprache, nämlich ob die Metapher eine Abweichung von einem unterliegenden Buchstabensinn oder der Geburtsort jeder Nullstufe der Literatur ist.

Wenn es auch wahr ist, daß ich einer Theorie der Interpretation treu bleibe, die angesichts schon geschriebener Texte eine Nullstufe des Buchstabensinns voraussetzen muß, von der die Metapher dann die zu interpretierende Abweichung ist, so ist es doch ebenso wahr, daß unter dem Gesichtspunkt der Glottogonie, also wenn wir den Blick auf die Sprachentstehung richten (sei’s auf den Ursprung der Sprache, wie es Vico wollte, oder auf den Ursprung jedes einzelnen Textes), der Moment ins Auge gefaßt werden muß, in dem Kreativität sich nur um den Preis der metaphorischen Vagheit einstellen kann, mit der ein noch unbekanntes oder unbenanntes Objekt benannt wird.

Die kognitive Kraft der Metapher, auf der Aristoteles insistierte (wenn auch nicht in der Poetik, sondern in der Rhetorik), zeigt sich sowohl darin, daß die Metapher uns etwas Neues vor Augen hält, indem sie mit einer schon vorhandenen Sprache operiert, als auch darin, daß sie uns einlädt, die Regeln einer künftigen Sprache zu entdecken. Jedoch - letzte aristotelische Erbschaft - die häretischen Strömungen der von Chomsky geprägten Linguistik, besonders George Lakoff, formulieren das Problem heute noch radikaler, auch wenn diese Radikalität schon bei Vico vorhanden war: Das Problem ist nicht so sehr, zu sehen, was die kreative Metapher mit einer schon bestehenden Sprache macht, sondern daß die schon bestehende Sprache nur verstanden werden kann, wenn man in ihrem Wortschatz die Präsenz von vagueness, von fuzziness, von metaphorischer Bastelei akzeptiert.14

Es ist kein Zufall, daß Lakoff zu den Autoren gehört, die angefangen haben, auf den Fragmenten einer Semantik, in der sich die Definition auf nicht weiter teilbare Eigenschafts-Atome gründete, eine Semantik zu entwickeln, in der die Definition in Form einer Folge von Handlungen dargestellt wird.

Einer der Pioniere dieser Richtung (die nicht verschwieg, wieviel sie Aristoteles verdankte) war Kenneth Burke mit seiner Grammatik, seiner Rhetorik und seiner Symbolik der Motive, in denen Philosophie und Literatur und Sprache in »dramatischer« Form analysiert wurden durch das kombinierte Spiel des Aktes, der Szene, des Agenten, des Instruments und des Vorhabens.

Zu schweigen von Algirdas Greimas, der gar nicht versucht zu verbergen, daß dem semantischen Verstehen eine Theorie der Narrativität vorausgeht - ich denke an jene Case Grammar, die auf einer semantischen Struktur in den Begriffen von Agent, Counter-Agent, Goal, Instrument etc. arbeitet (Fillmore, Bierwisch15), und an viele Modelle, die in der Frames Theory und in der Künstlichen Intelligenz benutzt werden. Dominique Noguez hat kürzlich einen hübschen Jux (in dem ich der Held und das Opfer bin) über die Semiologie des Regenschirms veröffentlicht. Er wußte nicht, daß hier die Realität wieder einmal die Fiktion übertraf, denn eines der in der KI-Wissenschaft benutzten Modelle ist das von Charniak16, der, um einem Computer zu erklären, wie Sätze zu verstehen sind, in denen das Wort Regenschirm vorkommt, eine narrative Beschreibung all dessen gibt, was mit einem Regenschirm gemacht wird, wie man ihn handhabt, wie er konstruiert ist und wozu er dient. Der Begriff Regenschirm löst sich in ein Netz von Handlungen auf.

Aristoteles war nicht dazu gelangt, seine Theorie des Handelns mit jener der Definition zu verschmelzen, denn als Gefangener seiner eigenen Kategorien glaubte er, es gebe Substanzen vor jedem Handeln, die das Handeln erlaubten oder erlitten. Es bedurfte erst der Krise des Begriffs der Substanz, um eine Semantik wiederzuentdecken, die nicht in seinen Werken der Logik, sondern in denen der Ethik, der Poetik und der Rhetorik enthalten ist, und den Gedanken zu fassen, daß sogar die Definition der Essenzen in Begriffen von unterliegenden Handlungen artikuliert werden kann.

Dennoch hätte Aristoteles eine Anregung aufgreifen können, die Platon im Kratylos gibt. Bekanntlich wird dort der Mythos vom Nomotheten oder »Namensgeber« eingeführt, eine Art Adam der griechischen Philosophie. Doch das Problem war schon vor Platon, ob die vom Nomotheten gegebenen Namen auf bloßer Übereinkunft (Nomos) beruhten oder durch die Natur der Dinge (Physis) motiviert waren. Zu welcher der beiden Lösungen Sokrates (und mit ihm Platon) neigte, ist eine Frage, die unzählige Kommentare zum Kratylos produziert hat und immer noch produziert. In jedem Fall spricht Platon immer dann, wenn er die Theorie vom motivierten Ursprung zu befolgen scheint, von Fällen, in denen die Wörter nicht die Sache als solche darstellen, sondern als Quelle oder Ergebnis einer Handlung. Die eigenartige Diskrepanz zwischen Nominativ und Genitiv von Zeus/ Dios erkläre sich dadurch, daß der ursprüngliche Name eine Handlung ausdrückte, di ’ hoon zen, »durch welchen das Leben gespendet wird«. In gleicher Weise lasse sich anthropos zurückführen auf die Wortfügung »der zu bedenken vermag, was er gesehen hat«, insofern der Unterschied zwischen Mensch und Tier darin liege, daß der Mensch sich nicht mit bloßer Wahrnehmung begnüge, sondern überlege und über das Wahrgenommene nachdenke. Wir sind versucht, Platons Etymologie ernst zu nehmen, wenn wir uns daran erinnern, daß Thomas von Aquin bei seiner Erörterung der klassischen Definition des Menschen als »animal mortale et rationale« die Ansicht vertrat, daß differentiae specificae wie »rational« (die den Menschen von allen anderen Tierarten unterscheiden) keine unteilbaren Akzidentien seien, sondern Namen, die wir aufgrund von Handlungen und Verhaltensweisen geben, an denen wir erkennen, daß einem bestimmten Tier die anders nicht wahrnehmbare Vernunft innewohnt. Die menschliche Vernunft wird sozusagen abgeleitet aus Symptomen wie dem Sprechen und dem Vermögen, Gedanken zu äußern. Wir erkennen unsere Fähigkeiten »ex ipsorum actuum qualitate«, durch die Qualität der Handlungen, deren Ursprung und Grund sie sind.17

Einem Beispiel von Peirce zufolge18 definiert sich das Mineral Lithium nicht nur durch seine Position im periodischen System der Elemente oder durch seine Atomzahl, sondern auch durch die Beschreibung der Operationen, die vollführt werden müssen, um eine Probe von ihm zu gewinnen. Hätte der Nomothet das Lithium gekannt und benannt, hätte er also einen Ausdruck erfunden, der wie eine Art Haken eine ganze Reihe von Erzählungen über Handlungssequenzen zusammenfassen und bündeln könnte. Nach demselben Muster hätte er beispielsweise Tiger nicht als Verkörperungen der Tigerheit gesehen, sondern als Tiere mit der Fähigkeit, in Interaktion mit anderen Tieren und in einer bestimmten Umgebung bestimmte Verhaltensweisen zu entwickeln -und der ganze Vorgang wäre nicht von seinem Protagonisten zu trennen gewesen.

Mit diesen Überlegungen habe ich mich vielleicht etwas weit von Aristoteles entfernt, aber ich bin immer auf der Spur seiner Anregungen über das Handeln geblieben.

Im übrigen geht es ja in diesem Kongreß um die zeitgenössischen Strategien zur Aneignung der Antike, und jeder Akt einer Aneignung impliziert eine gewisse Dosis Gewalt. So wie Kant meiner Meinung nach die interessantesten Dinge über unsere Erkenntnisprozesse nicht in der Kritik der reinen Vernunft gesagt hat (wo er von Erkenntnis spricht), sondern in der Kritik der Urteilskraft (wo er von Kunst zu sprechen scheint) -könnte nicht ebenso eine moderne Erkenntnistheorie bei Aristoteles nicht (nur) in den beiden Analytiken zu finden sein, sondern auch in der Poetik und in der Rhetorik?

1

Gekürzte Fassung des Hauptreferats auf dem Kongreß »Les stratégies contemporaines d’appropriation de l’Antiquité« im Oktober 1990 an der Sorbonne. Die Kongreßakten sind erschienen unter dem Titel Nos grecs et leurs modernes, ed. Barbara Cassin, Paris, Seuil, 1992.

2

Im Orig. deutsch (A. d. Ü.).

»Poetics in Particular, Language in General«, in Poetry, 1961, sowie in Language as Symbolic Action, Berkeley, Univ. of California Press, 1966.

3

»Aristotelian Poetics as a Science of Literature«, in Moris Halle (ed.), Semiosis, Semiotics and the History of Culture, Ann Arbor, Michigan Slavic Contributions, 1984, S. 125 - 138.

4

Aristotle’s Poetics. The Argument, Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1957.

Paul Ricreur, Zeit und Erzählung I, 2, München, Fink, 1988.

5

Im Orig. intreccio, Geflecht, Verwicklung    (scil.    der

Handlungsstränge), ab hier durchweg mit »Intrige« übersetzt (A. d. Ü.).

6

   Dt. Russischer Formalismus, übers. von Marlene Lohner, München, Hanser, 1964.

7

   Anspielung auf die These des italienischen Lustspieldichters Carlo Graf Gozzi (1720 - 1806), der zufolge es im Theater nur 36 dramatische Situationen gebe (vgl. die Bemerkung von Goethe in Eckermanns Gesprächen vom 14. Februar 1830), sowie auf deren Ausarbeitung und Weiterentwicklung durch Georges Polti (Les trente-six situations dramatiques, Paris 1895) und Étienne Souriau (Les deux cent mille situations dramatiques, Paris 1950), der durch

8

von Barockromanen, aber ohne herausragende Spitzen (dabei hielt man sich damals noch an Aristoteles), und dann nichts Interessantes mehr bis zum 19. Jahrhundert, in dem sich auch nur wenige Titel finden, die denen der Dickens, Balzac, Tolstoi etc. gegenübergestellt werden können. Wahr ist, daß der Roman ein Produkt des Bürgertums ist und daß Italien zwar in den Zeiten von Boccaccio ein aufkommendes Bürgertum hatte, aber ein modernes Bürgertum erst mit beträchtlicher Verspätung nach den anderen europäischen Nationen hervorgebracht hat. Aber, ob Ursache oder Wirkung, es hat auch keine Theorien der Intrige hervorgebracht. Aus diesem Grund war Italien (das heute hervorragende Kriminalschriftsteller hat und mindestens zwei oder drei erwähnenswerte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatte) auch kein Land, in dem der Kriminalroman entstehen und reifen konnte: Denn der Kriminalroman ist nichts anderes als die aristotelische Poetik, reduziert auf ihre wesentlichen Elemente: eine Folge von Geschehnissen (pragmata), deren Fäden sich verwirrt und verloren haben, und der Plot (mythos) erzählt, wie der Detektiv sie findet und wieder zusammenfügt.

9

   Algirdas Greimas, »Des accidents dans les sciences dites humaines«, VS 12, 1975; jetzt in Du sens II, Paris, Seuil, 1983.

10

   »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« (Vgl. hier und zum Folgenden: Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, dt. von Heinz-Georg Held, München, Hanser, 1987, S. 137 f., A. d. Ü.).

11

   Art and Prudence, New York, Longmans, 1937, S. 486.

12

   Zum Beispiel Robert Langbaum, »Aristotle and Modern Literature« in Journal of Aesthetics and Art Criticism, September 1956.

13

Paul Ricreur, Die lebendige Metapher, München, Fink, 1986.

14

George Lakoff und Mark Johnson, Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg, CarlAuer-Systeme, 1999; siehe auch George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things, Chicago, Univ. of Chicago Press, 1987.

15

   Charles Fillmore, »The Case for Case«, in E. Bach et al. (eds.), Universals in Linguistic Theory, New York, Holt, 1968; Manfred Bierwisch, »On Classifying Semantic Features«, in D. D. Steinberg und L. A. Jakobovits (eds.), Semantics, London, Cambridge Univ. Press, 1971.

16

   Eugene Charniak, »A Partial Taxonomy of Knowledge about Actions«, Institute for Semantic and Cognitive Studies, Castagnola, Working Paper 13, 1975.

17

   Thomas von Aquin, Summa Th., I. 79.8; Contra gentiles, 4.46.

18

   Charles S. Peirce, Collected Papers, 2.330.