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Draußen hat es angefangen zu schneien. Gott tritt aus dem Domizil der Heilsarmee heraus und legt den Kopf in den Nacken, um das Gewimmel der winzigen Flocken auf sich zu fliegen zu sehen. Er fühlt ein leichtes Prickeln auf Erwins Gesicht, wenn die Flöckchen dort landen. Um ihn herum sieht alles aus wie gepudert. Eine dünne weiße Schicht bedeckt die parkenden Autos, die Straße, den Gehweg. Kaum ein Laut ist zu hören, als hätte die Ruhe und Bedächtigkeit, mit der der Schnee auf die Erde rieselt, auch die Stadt zum Stillstand gebracht. Plötzlich braust ein Auto vorbei und durchpflügt die weiße Fläche mit zwei nassen, dunklen Streifen. Als wäre ein Zauber gebrochen, hört man gleich darauf eine laut schimpfende Männerstimme, Hundegebell und ein Martinshorn in der Ferne. Gott reibt das Wasser von Erwins Gesicht und geht langsam die Straße entlang. Er hat keine Ahnung, wie Er mit Maria hierher gekommen ist. Auf dem Hinweg ging alles so schnell. Die Straße ist relativ ruhig, kein Vergleich zu dem Gewimmel in der Fußgängerzone. In den Fenstern und an den Fassaden der Häuser hängt bunter Weihnachtsschmuck. An einigen Häusern baumeln außerdem weißbärtige Männer in roten Anzügen. Gott erschrickt bei dem Anblick, aber dann erkennt Er, dass es keine Selbstmörder, sondern aufgeblasene Plastikpuppen sind. Erleichtert lacht Er auf. Die Menschen haben schon seltsame Ideen …

Es wird schon wieder dunkel. Der Schneefall hat nachgelassen, und die Puderzuckerschicht, die vorhin noch alles so schön überzogen hat, ist zu grauen Pfützen geschmolzen. Gott spürt, wie das Wasser langsam durch Erwins Schuhe dringt. Missmutig stapft Er weiter. An einer Bushaltestelle macht Er kurz Rast, um sich zu orientieren. Er betrachtet den Plan mit dem städtischen Verkehrsnetz: Ein undurchschaubares Chaos von kreuz und quer verlaufenden bunten Linien, unterbrochen von dicken Punkten, neben denen Straßennamen stehen. Mühsam macht Gott die Stelle ausfindig, an der Er sich gerade befindet. Ganz schön weit ab vom Schuss! Bei der Vorstellung, sich noch länger durch die nassen Straßen zu schleppen, wird Er schlagartig müde. Er lässt sich auf eine der überdachten Plastikbänke sinken, um einen Moment auszuruhen. Kaum hat Er Platz genommen, da kommt ein Bus angefahren. Die Türen öffnen sich vor Erwins Nase, und Gott fühlt die Wärme, die ihm aus dem beleuchteten Wageninneren entgegenschlägt. Er zögert nicht lange, steigt die Stufen empor und macht es sich auf einem der Sitzpolster bequem. Die Türen schließen sich, und der Bus fährt vorsichtig an. Gott erfreut sich an dem monotonen Brummen des Motors. Er streckt Erwins Beine aus und spürt, wie die Wärme der Heizung die Kälte aus den Knochen vertreibt. Draußen ist es jetzt richtig dunkel, und Regentropfen schlagen gegen die Scheibe, was von innen betrachtet sehr heimelig wirkt. Gott lehnt den Kopf gegen die Scheibe, schließt die Augen und nickt ein.

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Eine laute Stimme lässt ihn auffahren. »Guten Abend, Herrschaften. Die Fahrkarten bitte!« Ein Mann und eine Frau arbeiten sich langsam durch die Reihen, sie vom vorderen, er vom hinteren Teil des Busses aus. Gott versucht, möglichst unbeteiligt zu wirken, und schielt nach dem Ausgang. Keine Chance, die Frau ist schon bei ihm. Unter ihrem strengen Blick hat Gott das Gefühl, zusammenzuschrumpfen. Er räuspert sich: »Einen Moment, wo hatte ich sie denn …« und wühlt in Erwins Jackentaschen, während die Frau ihrem Kollegen ein Zeichen macht. Der eilt sogleich herbei, und beide sehen dem Schauspiel noch eine halbe Minute lang zu, ehe der Mann Gott auffordert, ihn zu begleiten. Unter den teils schadenfrohen, teils mitleidigen Blicken der anderen Passagiere verlassen sie an der nächsten Haltestelle zu dritt den Bus.