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Die Zelle ist klein. Mit acht Schritten kann Gott sie der Länge nach durchmessen. Dann steht Er vor einer weiß gekachelten Wand, in die weit oben, gleich unter der Decke, ein schmales Fenster eingelassen ist. Man kann nicht hindurchsehen, das Glas ist getrübt. Nur das Gitter, das das Fenster von außen sichert, lässt sich durch die matte Scheibe erahnen. Gott dreht sich um, macht acht Schritte in die Gegenrichtung. Vorbei an der schmalen Liege mit der grauen Decke darauf, vorbei an der Toilettenschüssel, die frei im Raum steht. Acht Schritte. Auf und ab. Auf und ab.

Er versucht, den Ereignissen etwas Positives abzugewinnen. Immerhin wird Er diese Nacht ein Dach über dem Kopf haben. Dennoch macht es ihn wütend, ja fuchsteufelswild, dass Er nun mit seiner Arbeit schon wieder nicht vorankommt!

Die Tür wird geöffnet, ein junger Polizeibeamter stellt ein Tablett auf den Boden. »Abendessen. ’n Guten!«, wünscht er und verschwindet sofort wieder. Gott bricht seine Wanderung ab und wendet sich dem Tablett zu. Ein belegtes Brot, in Folie eingepackt, dazu ein Plastikbecher mit lauwarmem Tee. Gott packt das Brot aus seiner Hülle, beißt hinein und setzt sich dann mit dem Brot in der einen und dem Becher in der anderen Hand auf die Liege. Ein Schlafplatz und ein Abendessen. Vielleicht nicht von der besten Sorte, aber immerhin.

Nach dem Mahl streckt Er sich auf der Liege aus. Erwins Schlafsack haben sie ihm abgenommen, darum muss Er mit der kratzigen Decke vorlieb nehmen, der noch ein wenig der Schweißgeruch des vorherigen Benutzers anhaftet. Während Gott noch über die Ungerechtigkeiten nachsinnt, die ihm auf Erden bisher widerfahren sind, geht mit einem Mal das Licht aus. Jetzt liegt Er auf dem harten Bett und betrachtet das milchige Rechteck oben in der Wand. Vor dem Fenster steht eine Straßenlaterne, die einen schwachen Schein in die Zelle schickt. Das hat beinahe etwas Tröstliches. Über diesen Gedanken schläft Gott ein.

Als ihn ein lautes Summen aus dem Schlaf reißt, hat Er den Eindruck, dass kaum Zeit vergangen ist. Das Neonlicht der Zelle flackert auf, sodass Gott die gerade geöffneten Augen schnell wieder schließen muss. Dann wird die Tür aufgestoßen.

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»Erwin, Erwin, Erwin.« Ein ältlicher Polizist steht vor der Liege und schüttelt den Kopf. »Was hat dich denn diesmal zu uns geführt?« Gott rappelt sich auf. Der Beamte sieht einigermaßen nett aus. Vielleicht ist das eine Chance? Aber diesmal muss Er aufpassen, was Er sagt, denn offensichtlich mögen die Menschen die Wahrheit nicht besonders. Er räuspert sich. »Also das mit dem Bus, das tut mir leid. Ich hatte mich nur kurz hingesetzt, um mein Geld zu suchen …« – »Und weil du ein bisschen viel getrunken hattest, bist du darüber eingeschlafen, nicht wahr? So wie beim letzten Mal vielleicht?« Gott nickt zögerlich. Der Polizist seufzt. »Erwin, was sollen wir denn mit dir machen? Früher oder später landest du immer wieder hier.« Zur Bekräftigung macht er eine Handbewegung, die in die Zelle weist. Gott blickt schuldbewusst zu Boden. »Es soll nicht mehr vorkommen, ehrlich«, flüstert Er. Aber der Beamte ist noch nicht fertig: »Ich habe dir schon einiges durchgehen lassen, Erwin. Das weißt du. Aber irgendwann ist Schluss.« Der Polizist blickt in das ängstliche Gesicht des Gefangenen, lässt ihn ein wenig zappeln. Dann seufzt er nochmals. »Also gut, dieses eine Mal noch werde ich ein Auge zudrücken. Aber dass du mir nicht gleich das nächste Ding drehst, klar?« Gott springt erleichtert von der Liege auf und bedankt sich überschwänglich. Er bekommt seine Besitztümer ausgehändigt: Erwins Schlafsack, die zwei Zeitungen und den Knopf, der in Erwins Tasche steckte. Dann tritt Er als freier Mann wieder auf die Straße hinaus.