Vor der Polizeiwache zögert Gott. Rechts oder links? Egal, bloß weg hier. Schnellen Schrittes geht Er bis zur nächsten Kreuzung. Dort entdeckt Er ein kleines Schild mit einem Fahrrad und zwei Pfeilen darauf; unter dem einen Pfeil steht »Rhein«, unter dem anderen »Zentrum«. Zentrum, das klingt nach Menschen. Also folgt Gott diesem Weg, bis Er sich wieder den Einkaufsstraßen nähert. Die ersten Geschäfte werden gerade geöffnet. Gott biegt um die Ecke eines Kaufhauses – und befindet sich plötzlich mitten im Wald. Mitten in der Fußgängerzone stehen, fein säuberlich aufgereiht, mindestens fünfzig Nadelbäume, einer neben dem anderen. Das Geäst ist mit Netzen zusammengebunden, sodass die Bäume aussehen, als seien sie gefesselt. Gott stellt mit Schaudern fest, dass alle Bäume tot sind – jemand hat sie unten abgesägt. Vor dem Wald geht ein Mann in dicker Winterjacke auf und ab. Als er Gott entdeckt, kommt er mit einem aufmunternden Lächeln auf ihn zu. »Na, schon ein Prachtexemplar ausgesucht?«, ruft er durch die Bäume hindurch. Gott schüttelt zaghaft den Kopf. Der Verkäufer stutzt und wirft einen kritischen Blick auf Erwins Kleidung. Schlagartig weicht das Lächeln von seinem Gesicht. »Na dann zieh Leine«, stößt er zwischen den Zähnen hervor, bevor er sich umdreht und weiter die Grenzen seines kleinen Waldes abschreitet.
Gott beeilt sich wegzukommen und dringt dabei tiefer in die Fußgängerzone vor. Nach der Nacht auf dem Polizeirevier fühlt er sich müde, und Erwins Magen macht sich wieder einmal bemerkbar. Jeden Tag dasselbe. An einer Sitzbank macht Gott Rast. Bevor Er sich jedoch niederlassen kann, muss Er ein paar Fast-Food-Verpackungen von der Sitzfläche räumen. Weiße Plastikteller, mit Alufolie abgedeckt. Einer der Teller fühlt sich schwerer an als die anderen. Verstohlen klappt Gott die Folie hoch, und tatsächlich, darin liegen ein paar gebratene Kartoffelstücke und ein Rest Fleisch in weißer Soße. Gott blickt sich um, und als Er sicher ist, dass ihn niemand beobachtet, schaufelt Er die Stückchen in sich hinein. Die Kartoffeln sind matschig, und die Soße brennt scharf auf Erwins Zunge. Aber jetzt hat Er wenigstens etwas im Magen. Die nun wirklich leere Verpackung quetscht Er in einen vollen Mülleimer, der neben der Bank steht. Der Müll quillt schon über den Rand, und zwischen Coladosen, Bananenschalen und einem kaputten Regenschirm entdeckt Gott eine zusammengefaltete Zeitung. Er erinnert sich an Marias Worte – wenn Er wissen will, was in der Welt passiert, muss Er Zeitung lesen! – und zieht sie vorsichtig aus dem Unrat. Er streicht das feuchte Papier glatt. Die Ausgabe stammt vom vergangenen Tag, aber das macht nichts. Auf der ersten Seite ist ein großer Fettfleck, außerdem prangt dort das Wort »EXPRESS«. Gott beginnt zu lesen, über Köln, über Fernsehstars – was immer das ist –, über schwarz weiß gefleckte Bälle und ein bisschen etwas über die Welt. Merkwürdig ist das alles, sehr merkwürdig. Er steckt das Blatt in Erwins Schlafsack und beginnt, noch andere Mülltonnen zu durchstöbern.
Eine knappe Stunde später hat Gott eine ordentliche Sammlung zusammengetragen. Er sucht sich einen ruhigen Ort etwas abseits der Einkaufsstraßen, lässt sich dort auf einer Bank nieder und liest. Unglaublich, was in der Welt los ist! Eine Zeitung nach der anderen nimmt Er sich vor, und wenn Er damit fertig ist, verstaut Er die Blätter in Erwins Schlafsack. Die wird er Jesus geben. Er muss unbedingt etwas unternehmen! Erschüttert über die Lage der Menschheit, den Zustand der Umwelt und die Wettervorhersage lässt Gott die letzte Seite sinken. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange Er hier schon sitzt. Erwins Glieder schmerzen, die Finger sind blau vor Kälte, und der Magen knurrt schon wieder.