2. Kapitel
Den Umzug in die WG hatte ich so schnell wie möglich organisiert. Meinen Kram in den Transporter zu laden, hatte keine Stunde gedauert. Aber das Bett die fünf Stockwerke, zwölf Meter, hoch in die WG zu tragen, war noch schwerer als ich erwartet hatte. Und ich hatte sogar Teile abgeschraubt.
„Vorsicht! Mehr nach rechts!“, rief Katrin von oben. Ich wendete meine ganze Kraft auf, um von unten zu drücken. Neben mir keuchte Nils. Oben zogen Jens und Katrin. Als wir endlich oben ankamen, keuchten wir alle.
„Den Rest schaffen wir auch noch! Kommt schon!“ Katrin erhob sich von ihrer erschlafften Haltung und blickte uns herausfordernd an. Wie konnte sie nur so viel Energie haben? Am liebsten hätte ich mich irgendwo hingelegt, aber ich würde jetzt sicher nicht schlapp machen. Es war unheimlich nett von allen, dass sie mir beim Einzug halfen. Tim hatte angeboten mitzukommen, aber er hatte mir schon beim Einladen geholfen und ich hatte das Gefühl gehabt, dass hier ohne ihn machen zu müssen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen. Eigentlich hatte Katrin angekündigt, dass Vicky und Julius auch da sein würden. Aber sie waren nicht erschienen. Während ich mit Jens das Bücherregal hochtrug, wurde mir erst richtig bewusst, dass ich jetzt hier wohnen würde. Dass ich nie mehr in mein altes zu Hause würde zurückkehren können. Aber ein Neuanfang war das, was ich gewollt hatte, und das was ich brauchte.
Wir stellten alles in mein Zimmer, das Bett ans Fenster, den massiven dunklen Holz-Schreibtisch daneben. An die andere Wand den weißen Ikea-Kleiderschrank und das Bücher-Regal. Zwei alte Korbsessel und einige Kartons. Mein Einrad hängte ich an einem Haken an der Wand und ordnete die Jonglierbälle, Keulen und Ringe auf einem Regalbrett an.
„So!“ Sieht doch schon ganz gut aus.“ Katrin klopfte mir auf die Schulter.
Dann hörte ich sie im Flur reden. Ich hatte den anderen gesagt, dass ich den letzten Kleinkram auch alleine tragen konnte.
„Mann, Jules!“, rief Katrin im Flur „Du hast gesagt, du würdest helfen!“
„Ich hab gesagt, dass ich vielleicht da bin“, erklang eine erstaunlich sanfte männliche Stimme.
„Es würde dir nicht schaden, ab und zu mal ein bisschen nett zu sein!“ Katrin klang ziemlich aufgebracht. Oha, das hatte ich ihr gar nicht zugetraut.
Ich blickte mich in meinem Zimmer um und rückte dann die Möbel ein wenig um. Die Zimmertür ging auf und meine Zimmerpflanze, eine kleine Palme, schwebte in der Luft. Nein, jemand hielt sie hoch. Ich nahm sie entgegen und blickte in braune Augen. Der junge Mann vor mir war klein und zierlich, aber seine Präsenz ließ einen das sofort vergessen. Sein Blick war durchdingend. Unter seiner Lippe steckte ein Piercing, in der Nase ein Ring. Seine schwarzen Haare zu einem kurzen lockeren Zopf gebunden. Es war der Mitbewohner, den ich völlig nackt aus der Dusche hatte kommen sehen. Mit Mühe drängte ich diese Erinnerung beiseite und hoffte, dass ich nicht rot anlief. Verdammt, das Bild wurde ich wohl nie mehr vergessen.
„Hi, ich bin Jules.“ Er drückte mir die Pflanze in die Hände. „Sorry, dass ich nicht helfen konnte. Hab die Nacht gearbeitet und bin gerade erst gekommen.“
„Oh, okay ...“
„Deine Pflanze wurde beim Transport abgeknickt. Ich hab sie festgebunden“, sagte er.
An der kleinen Palme war ein Ast abgeknickt und mit einer Schnur an den anderen gebunden. Wie aufmerksam von Jules.
„Danke.“
Als ich ihn gerade fragen wollte, wo er arbeitete, hatte Jules sich bereits umgedreht. „Ich hau mich hin“, sagte er.
Ich würde schon noch mehr über ihn erfahren.
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Nachdem ich den Transporter zum Verleih zurückgefahren und dann im verwirrenden Bahnnetz nach Hause gefunden hatte, lag ich endlich ausgestreckt in meinem Bett. Ich war völlig fertig und jeder Muskel im Rücken tat mir weh. Von meinen Armen ganz zu schweigen. Als Dank für die Hilfe wollte ich meinen neuen Mitbewohnern ein Bier ausgeben. Aber davor würde ich nur ganz kurz ein Nickerchen machen. Nur ganz kurz ausruhen ...
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„Robin! Hey, genug gepennt! Wir gehen gleich los, also wenn du mitkommen willst ...“ Katrin klopfte an meine Tür und es klang als würde sie dafür einen Hammer benutzten. Ich fühlte mich, als hätte ich seit gestern gar nicht geschlafen und quälte mich hoch. Wieder klopfte es laut.
„Ich komme!“
Als ich aus der Tür trat, wäre beinahe in jemanden hineingelaufen. Ein fremder Mann war gerade aus dem Bad gekommen.
"Sorry", murmelte ich und sah mich um. Jules stand vor der Haustür und er war nackt. Komplett nackt. Schon wieder. Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen, aber mein Gehirn verursachte einen Kurzschluss und ich starrte ihn an. Seine helle fast weiße Haut mit zahlreichen Tattoos übersät. Normalerweise stand ich nicht so auf Tattoos, aber auf Jules Körper sahen sie aus, als müssten sie dort sein. Zum Glück schien Jules mein Starren nicht bemerkt zu haben. Er öffnete die Tür und zog ein missbilligendes Gesicht, während er den fremden Mann ansah.
"Ciao." Der fremde Mann trat hinaus. "Wir sehen uns dann ..."
Jules schloss die Tür. "Sicher nicht." Er schnaubte und verschwand dann in seinem Zimmer, nicht ohne mir noch einen Blick auf seinen kleinen kompakten Hintern zu gewähren. Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Offenbar hatte Katrin nicht übertrieben. Der arme Kerl hatte Jules jedoch offenbar nicht zum lauten Stöhnen gebracht. Jedenfalls war ich nicht davon aufgewacht. Ich ging ins Bad, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr mir durch die aschblonden Haare, die schon wieder zu lang geworden waren und mir in die Stirn hingen. Dann gesellte ich mich zu den anderen, die bereits dabei waren, sich Schuhe anzuziehen, Bierflaschen in den Händen. Katrin hatte eine glitzernde Bauchtasche umgeschnallt.
„Dann zeigen wir dir mal, was hier so geht“, sagte sie und lachte. Wir liefen eine Weile an der vielbefahrenen Straße entlang, bis wir in eine kleine Seitenstraße einbogen und an einer Ecke stehenblieben. „Wir treffen uns noch mit Freunden“, sagte Katrin und winkte im nächsten Moment zwei Frauen, die auf uns zukamen. Die eine trug laut klackernde Stiefel, und hatte lange schwarze Haare bis zur Hüfte. Die andere hatte eine kurze asymmetrische Frisur, einen Ring im Nasensteg und trug eine geblümte Bomberjacke.
„Hey, das sind Leah und Amyra“, stellte sie vor und ich gab beiden die Hand. Ich fragte mich, ob die Frauen ein Paar waren, aber wurde gleich wieder abgelenkt, als Nils und Vicky andere Bekannte trafen. Wir standen eine Weile auf der kopfsteingepflasterten Straße, in der kaum ein Auto einbog und tranken unsere Biere aus. Es schmeckte etwas wässrig und nicht sehr kräftig. Es war schwer, mich ins Gespräch einzubringen, da Katrin und ihre Freunde über irgendwelche anderen Freunde redeten und über einen Typen klagten, der offenbar eine ihrer Freundinnen schlecht behandelte. „Hast du ne Freundin?“, fragte Katrin mich.
„Nein.“
„Sei froh, Fernbeziehungen sind scheiße“, meinte Leah und erzählte von einem Ex, der sie wochenlang betrogen hatte, während sie immer die Fahrkarten zu ihm nach München bezahlt hatte.
„Boah, das waren hunderte Euro! So was mach ich nie wieder!“
„Na jetzt hast du ja mich“, sagte Amyra und legte einen Arm um Leah. Das klärte dann wohl die Sache mit dem Paar.
Ich hatte nichts dazu zu sagen. Schließlich hatte ich keine Ahnung wie es war eine Fernbeziehung zu führen, ich hatte keine Ahnung, wie es war irgendeine Beziehung zu führen. Aber wenn ich das gesagt hätte, hätten mich alle angestarrt, als wäre ich ein Freak. Und deshalb redete ich eigentlich nie darüber. Selbst mit Tim hatte ich kaum darüber geredet. Wie auch, ich hätte ihm schließlich nicht sagen können, dass ich in seine Freundin verliebt war. Irgendwann hatte ich ihm mal gesagt, dass ich auch an Männern interessiert war, aber das war fünf Jahre her. Tim hatte wie erwartet kein Problem damit, aber vertieft hatten wir das Thema auch nie. Damals hatte ich noch nicht geahnt, dass ich mit achtundzwanzig immer noch völlig planlos war, was Beziehungen und Sex anging.
„Okay, wollen wir? Wird bestimmt voll heute“, sagte Katrin schließlich und wir gingen weiter, bis wir an einem großen Backsteingebäude ankamen.
„Das wird dir hier sicher gefallen“, sagte Katrin. Ich folgte den anderen in den Innenhof des Gebäudes zur Kasse. Der Eintritt betrug lediglich drei Euro. Von innen wummerte Elektro und bunt gekleidete Leute wuselten im Flur herum. Das hier war anders als die Clubs zu Hause. Alternativ, frei, bunt. Von total aufgestylt bis Jeans und Shirt war alles dabei . Katrins Freunde verteilten sich und ich versuchte, an die Bar zu kommen, um mir eine Cola zu holen. Ohne würde ich die Nacht nicht durchhalten. Im Gang hatten sich Leute einfach hingesetzt, unterhielten sich, rauchten.
Die Atmosphäre gefiel mir auf Anhieb, nur das Rauchen störte mich. „Was ist das hier eigentlich?“, fragte ich Katrin, die sich gerade von ein paar Freundinnen verabschiedet hatte.
„Das Frappant. Ein selbstverwaltetes Kulturzentrum. Hier gibt es alles Mögliche. Partys, Konzerte, Ausstellungen, Vorträge ... komm, lass uns rausgehen, da gibt es heute eine Bühne.“ Ich folgte ihr durch die Gänge und wusste schon jetzt nicht mehr, wo der Ausgang war. Dann kamen wir in den Innenhof, der gefüllt war mit Leuten und Punkmusik. An zusammengezimmerten Tresen wurde Bier verkauft und weiter hinten brannten Lagerfeuer. So etwas hätte es zu Hause nie gegeben. In diesem Moment wusste ich, dass ich mich richtig entschieden hatte. Dass ich diese Stadt mochte, und dass ich mich hier zu Hause fühlen konnte. Ich folgte Katrin die Treppe runter und durch die Menge. „Da ist Nils“, sagte sie und steuerte auf eine Gruppe zu. Nils, Jens und drei Frauen, die Katrin ebenfalls kannte, begrüßten uns.
Die Frauen stellten sich als Fini, Luna und Wiebke vor und ich vergaß sofort, welche welche war. „Robin ist unser neuer Mitbewohner“, sagte Katrin und grinste.
„Oha, da wirst du deinen Spaß haben“, sagte eines der Mädchen. Die mit dem Sidecut und den blondierten Haaren, ich glaube sie hieß Luna. Ich hoffte, sie meinte das nicht ironisch.
„Gleich fängt die Show an“, sagte eine der anderen und wir postierten uns vor der Bühne. „Was für eine Show?“, fragte ich.
„Eine Dragshow. Irgendein Kumpel von Jules macht da mit.“
Ich hatte noch nie eine Dragshow gesehen und war neugierig. Als die Dragqueens auf die Bühne traten, sahen sie aber nicht so aus, wie die aus dem amerikanischen Shows. Irgendwann hatte mich Lisa mal gezwungen, Ru Pauls Drag Race zu sehen. Oder eher, sie hatte Tim dazu gezwungen und ich war auch dabei gewesen. War eigentlich ganz lustig. Hier jedoch erschien nun eine Dragqueen in einem schwarzen Ballkleid, das halb zerrissen und mit Sicherheitsnadeln bestückt war. Außerdem war sie lediglich mit glitzerndem Lidschatten und Lippenstift geschminkt, ohne Versuch, den Bart zu verdecken. Nach der Ansage fing sie an zu singen und ich blinzelte überrascht.
„Krasse Stimme“, meinte Wahrscheinlich-Luna. Da konnte ich nur zustimmen. Die Dragqueen schmetterte ein Lied aus einem Musical, das allerdings mit rockiger Musik unterlegt war. Das Publikum applaudierte tosend. Katrin und ihre Freunde gingen alle so locker miteinander um. Ich war ihr echt dankbar, dass sie mich mitgenommen hatte. Offenbar waren meine Sorgen, hier nicht so schnell Anschluss zu finden, unbegründet. Neben all diesen coolen Leuten, die entweder künstlerisch-modisch oder punkig gekleidet waren, neben den Dragqueens, den Männern in hautenger Jeans und den Frauen mit Sidecut und zahlreichen Piercings, kam ich mir doch etwas sehr gewöhnlich vor. Wie der Junge aus der Kleinstadt, der ich halt war. Mit meiner braven Frisur, dem langweiligen T-Shirt und der heilen Jeans. Ohne Piercings oder Tattoos. Ich bot an, Bier zu holen. Nachdem ich mich am Tresen durchgekämpft hatte, kehrte ich mit einem Arm voll Bier und Friz-Cola-Flaschen zurück und verteilte die Getränke. Ich selbst machte mir eine Cola auf. Als Teenager hatte ich nie Alkohol getrunken. Nachdem meine Mutter angefangen hatte zu trinken, als mein Vater sie verlassen hatte, und sie mich regelmäßig losschickte, die leeren stinkenden Flaschen zu entsorgen, konnte ich den Geruch nicht mehr ertragen. Erst im Studium hatte ich angefangen, Bier zu trinken. Der Geschmack von härterem Alk war mir zuwider, Bier war okay. Aber ich trank selten mehr als eins. Betrunken zu sein war mir nie wie ein erstrebenswerter Zustand vorgekommen. Nicht mehr wissen, was ich tat, Zeug reden, das ich nüchtern nie sagen würde, womöglich irgendwo einpennen und mit einem Edding-Penis auf der Stirn aufwachen, oder auf den Teppich kotzen – mit irgendjemanden schlafen und mich nicht mehr daran erinnern – das waren alles Horrorvorstellungen für mich. Vielleicht lag es an meiner Abstinenz, dass ich noch nie jemanden geküsst hatte. Tim hatte seinen ersten Kuss bekommen, nachdem er und das betreffende Mädchen eine Flasche Wodka geleert hatten. Jedenfalls behauptete er das immer. Ich wäre nach einer halben Flasche Wodka tot. Allein der Gedanke, ich könnte die Kontrolle verlieren und nicht mehr wissen, was ich tat, jagte mir einen kalten ekligen Schauer über den Rücken. Dann lieber einen Cola-Koffein-Flash.
Auf der großen Bühne spielte jetzt eine Band Punk-Musik mit unverständlichen Texten. Nicht so mein Geschmack. Lunas offenbar auch nicht, denn sie verzog den Mund. „Lass uns da hinten hingehen“, sagte ich und wir folgten ihr in eine ruhigere Ecke abseits der Bühne. Dort brannten ein paar Lagerfeuer und wir setzten uns auf eine Bank am Feuer.
„Auf deine erste Nacht in Hamburg“, sagt Katrin und wir stießen an.
„Was machst du? Studium?“, fragte Wahrscheinlich-Luna.
„Ja, Master Lehramt, Deutsch und Gemeinschaftskunde.“
„Ich mach Kuwi in Lüneburg“, sagt sie, und ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass Kuwi Kultruwissenschaften bedeutete.
„Cool“, sagte ich und könnte mich ohrfeigen. Konnte ich nicht irgendwas Interessantes sagen? Ich redete mit einem netten attraktiven Mädchen. Sonst fiel mir doch auch immer ein Spruch ein. Aber Luna wandte sich schon wieder von mir ab.
Nils und ein Mädchen, das in unserem Alter war, kamen auf uns zu. Sie sah nett aus, mit einem runden Gesicht, großen Augen unter einer schwarzen Brille, dazu trug sie ein ausgestelltes buntes Kleid, das ihrer rundlichen Figur schmeichelte. Sie musste Nils’ Freundin sein, denn sie gab ihm einen Kuss. Als sie bei uns ankamen, reichte sie mir die Hand.
„Hi, ich bin Caro“, sagte sie und lächelte. Ich nahm ihre Hand und stellte mich vor. Dann würde ich sie wohl öfter sehen. Caro wandte sich wieder an Nils, der sie verliebt ansah.
Das Konzert war bald zu Ende und danach legte ein DJ auf. Es erklang Elektro von der Sorte, die ich ganz erträglich fand. Die anderen strömten zurück Richtung Bühne, wo die Menge jetzt zur Musik abging und mischten sich darunter. Um nicht allein zurückzubleiben, folgte ich ihnen und stellte mich an den Rand neben den Tresen. Zum tanzen war ich noch nicht betrunken genug. Seit mir Lisa mal gesagt hatte, dass ich tanzte wie ein Pinguin, hatte ich mich selten getraut. Natürlich meinte sie es nicht böse, aber es blieb bei mir hängen. Leider war ich nicht gerade gut darin, mich zu bewegen. Abgesehen vom Jonglieren und Einradfahren. Aber beim Tanzen war die Gefahr lächerlich auszusehen, einfach zu groß. Das war Katrin und Nils aber offensichtlich völlig egal, denn sie tanzten lachend und nicht besonders elegant. Ich wünschte mir, ich könnte einfach wie sie sein. Und dann sah ich Jules. Etwas an ihm hatte meinen Blick auf ihn gezogen. Er tanzte vor der Bühne, hatte einen kleinen Platz für sich beansprucht und ging so vollkommen in der Musik auf, tanzte, als gäbe es nichts Besseres auf der Welt. Und verdammt, er war sexy dabei. Wie er seine Hüften bewegte, wie er seinen ganzen Körper bewegte. Und er wusste, wie sexy er war. Für eine Weile tanzte er allein, dann sprach ihn ein Mann an. Vielleicht kannte Jules ihn schon. Die beiden tanzten miteinander. Niemanden störte das hier. Natürlich nicht, aber für mich war das noch ungewohnt. In meinem Freundeskreis hatte ich nie queere Leute gehabt, obwohl ich es nett gefunden hätte. Hätte ich mich mal geoutet, hätten es andere mir gegenüber vielleicht auch getan. Aber ich hatte mich einfach nie getraut. Als ich mich mit fünfzehn unsterblich in einen Jungen aus der Schule verliebt hatte, hatte ich das niemandem erzählt. Damals war mir klar geworden, dass ich bisexuell sein musste. Ich hatte sogar mal nach queeren Jugendgruppen gegoogelt, war aber nie hingegangen, weil ich mich nicht queer genug gefühlt hatte. Die ganzen Probleme, die homosexuelle Jugendliche erlebten, hatte ich nicht. Ich konnte so tun, als wäre ich hetero und eine Beziehung mit einer Frau eingehen. Dachte ich zumindest. Da hatte ich natürlich noch nicht gewusst, dass das auch nicht passieren würde. Weil es nie jemanden gegeben hatte, den ich meinen Freunden oder meiner Mutter vorstellen konnte, hatte es nie eine Rolle gespielt. Zumindest hatte ich das gedacht. Aber vielleicht wäre es anders gewesen, hätte ich mich zuerst in ein Mädchen verliebt. Vielleicht hätte ich dann mit meinen Freunden darüber geredet und mich nicht so für meine Gefühle geschämt.
Es war ewig her, dass ich einen Mann so sexy gefunden hatte wie Jules gerade. Es kam einfach generell nicht oft vor, dass ich jemanden attraktiv fand. Jetzt küssten sich die beiden auch noch und der Typ hatte die Hände auf Jules’ Hintern. Das ging eine Weile so, dann nahm Jules den Typ an der Hand und zog ihn mit sich fort von der Tanzfläche und verschwand mit ihm irgendwo. Ich schluckte. So einfach war das. So verdammt einfach. Warum konnte ich das nicht? Einfach irgendjemanden hier antanzen, knutschen, Sex haben? Aber allein beim Gedanken daran, schnürte sich meine Brust zu. Ich wusste, das würde nur peinlich werden. Denn selbst wenn sich jemand finden würde, der mit mir Sex haben wollte, spätestens wenn es dann zur Sache ging, würde der andere merken, dass ich null Erfahrung hatte. Das hatte mich auch davon abgehalten, mich mit irgendwem über Tinder zu verabreden, um es hinter mich zu bringen.
Jetzt war es vielleicht einfach zu spät. Kurz schloss ich die Augen. Die ganze Zeit stand ich neben dem Tresen und fühlte mich, wie jemand, der aus Versehen hier hinein gestolpert war. Ich wusste nicht, wie ich mich einfügen sollte, wollte mich nicht zu Nils und seiner Freundin stellen, die in ein privates Gespräch vertieft waren und auch nicht zu Katrins Freundinnen, die ich kaum kannte. Sie selbst war irgendwo in der Menge verschwunden.
„Hey, Robin“, hörte ich neben mir und blickte auf. Katrin stand vor mir. Sie war verschwitz und gähnte herzhaft. „Wollen wir gehen? Gott, ich bin echt nicht mehr achtzehn.“
Ich schmunzelte und nickte. „Ja. Ich bin auch ziemlich müde.“ Es stimmte. Ich wusste nicht, wie ich überhaupt so lange wach blieb, nach dem Umzug und allem. Wahrscheinlich nur durch die drei Cola, die ich getrunken hatte.
„Die anderen bleiben noch. Also, gehen wir.“ Wir machten uns auf den Weg und Katrin redete irgendwas über Existenzphilosophie und ich fragte mich, ob sie Drogen genommen hatte, oder ob sie immer so war, wenn sie getrunken hatte.
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Als ich die Augen aufschlug , irritierte mich die hohe Decke. Und die Helligkeit. Dann fiel es mir wieder ein. Ich war in meinem neuen Zimmer, in Hamburg. Ein Blick aufs Handy verriet mir, dass ich genug geschlafen hatte. Es war schon fast Mittag. Gegen das viel zu grelle Sonnenlicht blinzelnd, stand ich auf und sah aus dem Fenster. Unten fuhren die Autos über die breite Straße und Menschen gingen wie kleine Spielfiguren über die Ampel. Ich musste dringend Vorhänge anbringen. Und Ohrstöpsel kaufen. Gestern war ich wohl nur eingeschlafen, weil ich so fertig gewesen war. Ich zog mich an und schlich mich ins Bad, rasierte mich und wusch mich mit einem Waschlappen, weil ich mich nicht traute, zu duschen, während alle in der Küche saßen. Es dröhnten laute Gespräche und Soulmusik durch die Tür. Als ich mich halbwegs präsentabel fand, gesellte ich mich zu ihnen. Seltsam, wie schnell ich mich schon an diese Küche gewöhnt hatte. An die bequemen Sofas und die bunten Fotos an den Wänden. Nur bei der Dusche wusste ich nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen würde. Katrin, Jens und ein Mädchen, welches ich für Jens’ Freundin hielt, so wie er den Arm um sie gelegt hatte, saßen beim Frühstück.
„Moin“, sagte Jens gedehnt.
„Moin“, erwiderte ich. Richtig, das sagte man ja hier so. Musste ich mir angewöhnen. Ich nahm mir einen Teller und setzte mich dazu.
„Nimm dir“, sagte Katrin und umfasste mit einer Geste alles auf dem Tisch. Es gab aufgebackene Brötchen, vegane Wurst, seltsam aussehende Aufstriche und Kaffee. Letzteren brauchte ich dringend. Daran, dass jetzt immer jemand da sein würde musste ich mich erst gewöhnen. Aber das hatte ich ja gewollt. Es würde mir gut tun. Ich würde nicht mehr so oft an meine Mutter denken müssen und an Lisa.
Argwöhnisch betrachtete ich die vegane Wurst und belegte mein Brötchen damit. Als ich reinbiss, war ich überrascht, wie gut sie schmeckte. Nacho stieß gegen mein Bein und sah bettelnd hoch.
„Er liebt die Wurst“, sagte Vicky. „Aber er kriegt nichts vom Tisch.“
„Okay.“ Es war schwer, diesem lieben Bettelblick zu widerstehen, aber ich wollte es mir echt nicht mit Vicky verscherzen. Sie strahlte so was aus, dass man sich nicht mit ihm anlegen wollte.
Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen und ich hörte jemanden den Flur entlanggehen. Jules stieß die Küchentür auf. Hatte er die Nacht bei dem Typen verbracht, mit dem er in der Nacht getanzt hatte? Er zog an einer selbstgedrehten Zigarette.
„Jules“, rief Katrin mahnend und er drückte die Zigarette am Spülbecken aus, bevor er sie in den Müll warf. Dann nahm er sich eine Tasse Kaffee. Alles, ohne ein Wort an uns zu richten. War er immer so wortkarg? Ich dachte daran, wie sexy er beim Tanzen ausgesehen hatte. Das war jetzt nicht mehr zu spüren. Er wirkte abwesend und abweisend. Seine Hände mit den schwarz lackierten Fingernägeln umklammerten die Kaffeetasse. Er nahm einen kräftigen Schluck, stopfte sich dann ein halbes Croissant in den Mund und verschwand wieder.
„Jules! Das war meins!“, rief ihm Jens’ Freundin nach und seufzte genervt. Ich fragte mich, ob ich mich ihr vorstellen sollte, aber sie beachtete mich gar nicht weiter. Meine Katzenwäsche hatte nicht viel gebracht und ich sollte dringend duschen, aber ich konnte mich nicht überwinden, einfach in die Dusche zu gehen und mich auszuziehen, während so viele Leute hier saßen. Gestern hatte ich es geschafft, einen Moment allein in der Küche abzupassen. Ich musste wirklich lockerer werden.