4. Kapitel
Die nächsten Nächte schlief ich jedes Mal mit Ohrstöpseln und das nicht nur wegen dem Verkehr draußen, der störte mich gar nicht so sehr. Eher der Verkehr nebenan. Jules hatte offenbar einen Typen kennengelernt, der ihm gefiel. Jedenfalls war der jetzt schon dreimal hintereinander hier gewesen. Wie machte Jules das nur? War das einfacher unter Männern? Ich hätte ihn fragen können, aber ich traute mich nicht. Dann hätte ich ihm sagen müssen, dass ich völlig unfähig war, jemanden kennenzulernen und vielleicht auch, dass ich bi war und irgendwie wollte ich das nicht. Ich wusste selbst nicht warum eigentlich.
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Für einen Sonntag war ich viel zu früh aufgewacht und fühlte mich total matschig im Kopf. Dabei hatte ich am Abend zuvor, als ich mit Katrin und Nils ausgegangen war, gar nicht viel getrunken. Ich rieb mir die Augen und nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus meiner Glasflasche. Dann schlurfte ich in die Küche. Es überraschte mich, Jules dort anzutreffen. Sonst war er am Wochenende bis mittags im Bett. Er trug nur eine Unterhose und stand an der Kaffeemaschine.
„Machst du mir auch einen?“, fragte ich und blinzelte gegen das viel zu grelle Licht von draußen. Ich ließ mich auf das gemütliche Sofa sinken und streckte die Beine aus. Mein Körper war total steif und schmerzte überall. Jules reichte mir eine Tasse Kaffee. Ich war sogar zu faul, zum Kühlschrank zu gehen und Milch zu holen und trank ihn schwarz.
„Wieso bist du schon so früh wach?“, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr. Es war neun. Meistens sah ich Jules erst gegen Mittag, wenn er abends weg gewesen war.
„Ich muss noch was für die Uni machen.“ Er sagte es ganz ernst.
„Und dann gehst du abends feiern? Ich bin total fertig und ich war schon um zwei zu Hause. Ich bin wohl langsam zu alt für so was.“
„Pf.“ Jules schüttelte den Kopf. „Du bist nicht viel älter als ich.“
Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, und ich sah das erste Mal das Tattoo auf seiner Brust komplett. Es war eine Blume, umgeben von Dornen, aber sie sah keineswegs kitschig aus. Alle seine Tattoos hatten etwas Künstlerisches. Auf seinen Armen Krähen und Federn, innen auf seinem Handgelenk ein Semikolon. Das Zeichen kam mir bekannt vor. Hatte das nicht etwas mit Selbstmord zu tun? Hatte Jules etwa mal versucht sich umzubringen? Ich schluckte. Er wirkte immer so fröhlich. Aber ich wusste nur zu gut, dass es leicht war, Probleme zu verbergen. Auf seinem Bauch prangte diese Schlange, die sich um ein umgedrehtes Kreuz wand. Was sollte das bedeuten? Als ich wieder zu seinem Gesicht aufsah, zog er eine Augenbraue hoch und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Ich hatte ihn angestarrt.
„Das ist schön“, sagte ich hastig. „Die Blume.“
„Hab ich mir letztes Jahr machen lassen. Das hier ist noch nicht fertig.“ Er drehte sich um und zeigte es mir. Das Bild füllte beinahe den kompletten Rücken aus. Ein großer Phoenix prangte dort. Rote und orangene Linien zeichneten die Flügel, die sich über seine Schulter erstreckten, links allerdings noch unausgefüllt. Es war wirklich gut gemacht, erinnerte mich an traditionelle japanische Tattoos.
„Wie lange dauert so was?“
„Ich habe da schon drei Sitzungen von je zwei Stunden gehabt, muss noch ein oder zwei machen.“
Mein Blick wanderte von seinen Schultern seinen Rücken runter, wo der Phoenix in Flammen mündete. Das Bild schien unter seiner Unterhose noch weiter zu gehen. Auf seinem kleinen kompakten Hintern, den ich definitiv nicht anstarren sollte, was ich gerade tat. Ich schluckte und zwang mich, wegzusehen.
„Cool“, sagte ich nur. Ich hatte keine Ahnung von Tattoos, und hatte nie darüber nachgedacht, mir eins stechen zu lassen. Immer dasselbe Bild auf der Haut zu haben, kam mir langweilig vor. Ich wusste ja nicht, ob mir das mit 80 immer noch gefiel. Aber zu Jules passten sie.
Vicky kam in die Küche, mit einem aufgeregten Nacho im Schlepptau.
„Gott Jules, kannst du dir nicht was anziehen“, maunzte sie und bückte sich, um Nacho zu füttern.
„Warum? Es ist warm.“
„Du hast mich aufgeweckt, du könntest echt mal versuchen, leiser zu sein.“
„Hä? Ich habe gar nichts gemacht, ich bin gerade erst aufgewacht.“
Vicky sah ihn irritiert an. „Du hattest doch wieder irgendwen mitgenommen.“
„Nein, habe ich nicht.“ Jules sah sie ärgerlich an.
In Vickys Ausdruck zeichnete sich die Erkenntnis ab, dass es jemand anderes gewesen sein musste, den sie gehört hatte.
„Oh Mann, Nils! Ah!“
„Ach Vicky, wieso bist du so verklemmt?“ Jules grinste frech.
„Ich bin nicht verklemmt, aber ich wollte nicht hören, was ...“ Sie schüttelte den Kopf. Dann seufzte sie. „Aber denk dran, dass du heute mit dem Bad dran bist.“
„Ja ja“, sagte Jules und stapfte mit seinem Kaffee davon. Vicky sah mich kurz an, schüttelte den Kopf und verließ die Küche. Nacho mampfte weiter sein Futter und legte sich dann in die Sonne auf dem Boden. So ein Leben musste man haben. Ich setzte mich neben ihn und kraulte ihm den Bauch. Er sabberte und jedes Mal wenn ich aufhören wollte, stupste er mich mit der Pfote an und ich war gezwungen, weiter zu kraulen. Es war eigentlich ganz schön, sein Fell war warm und er schien es sichtlich zu genießen. Ich hatte es vermisst, ein Tier zu haben. Bei einem Tier musste ich mir keine Gedanken machen, was es von mir dachte, hatte keine Hemmungen, es zu berühren.
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In den nächsten Wochen gewöhnte ich mich immer mehr an das Leben in Hamburg und in der WG. Unser Viertel kannte ich inzwischen ganz gut, hatte mir mein Zimmer gemütlich eingerichtet, Vorhänge angebracht, außerdem einen gebrauchten Sessel aus grünem Samt und einen Teppich gekauft. Katrin und Nils fragten mich öfter, ob ich etwas mit ihnen unternahm. Mit Katrin kochte ich manchmal zusammen, und Nils hatte mich eingeladen, mal bei seiner Rollenspielrunde mitzumachen. Die Freunde, mit denen er spielte, waren alle noch nerdiger als er selbst, aber sie waren freundlich und es machte echt Spaß. Außerdem hatte ich mich im Sportstudio angemeldet, mich aber noch nicht oft aufraffen können, wirklich hinzugehen. Aber das würde ich auch noch schaffen. Jetzt musste nur noch eine Sache in meinem Leben klappen, damit ich glücklich sein konnte.
Aber meine Versuche des Online-Datings führten zu nichts. Ich schrieb mit ein paar Frauen, die ich für sympathisch hielt. Aber die meisten antworteten entweder nicht mehr, oder stellten sich als bekloppt heraus. Eine wollte mir weismachen, dass man mit Kristallen Krebs heilen konnte. Eine andere sagte, dass ihr ihr Hund wichtiger war, als ein Partner. Eine dritte suchte einen Mann, der sofort ein Kind haben wollte. Ich wusste nicht, ob ich Kinder haben wollte. Ich mochte Kinder, es machte mir Spaß, sie zu unterrichten. Aber ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen Vater zu sein. Und besonders nicht mit einer Frau ein Kind zu bekommen, die ich kaum kannte. Wahrscheinlich waren einfach alle vernünftigen Frauen in meinem Alter schon in einer Beziehung. Mit den Männern, mit denen ich schrieb, lief es noch schlechter. Ich hatte nur zwei gefunden, die nicht gleich Sex wollten. Einer war allerdings schon in einer polyamoren Beziehung und der andere fragte mich, ob ich schon Erfahrungen mit Männern hatte. Ich verstand die Frage, aber ich traute mich nicht ehrlich zu antworten. Wenn ich ihm sagte, dass ich überhaupt keine Erfahrungen hatte, würde er mich sicher nicht treffen wollen.
Nachdem auch Amelie, mit der ich schon einige Nachrichten geschrieben hatte, plötzlich nicht mehr antwortete, war ich endgültig frustriert. Ich sagte mir, dass sie wahrscheinlich mit zig Männern gleichzeitig schrieb. Dass es nicht an mir lag. Aber das war schwer zu glauben. Sie hatte meinen Humor, wir hatten uns lustige GIFs geschickt und sie hatte mir lange Texte geschrieben, darüber was sie gerade so machte. Wir hätten uns sicher gut verstanden, wenn wir uns getroffen hätten. Es war zu früh, um aufzugeben, aber ich hatte nicht gewusst, wie anstrengend und zeitraubend diese Sache sein würde. War es das echt wert? Es würde am Ende doch eh nicht klappen. Ich ließ mein Handy im Zimmer liegen und schlurfte in die Küche. Auf der Suche nach etwas Essbarem öffnete ich den Kühlschrank und fand einen Kuchen, der mit einer Plastikhaube geschützt war. Ich hob sie an und es kam ein grüner Überzug über braunem Kuchen zum Vorschein. Das sah lecker aus, offenbar Schokolade mit Minze oder so. Aber da ich nicht wusste, wem er gehörte, aß ich ihn nicht. Stattdessen fand ich eine Tafel Schokolade und riss sie auf. Ich würde nachher eine neue kaufen und sie ersetzen.