6. Kapitel
Als ich aufwachte, war es noch dunkel. Mein Handy zeigte erst drei Uhr an. Stöhnend wälzte ich mich herum, aber ich konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte von meiner Mutter geträumt, dass sie für einen Tag wieder da war. Es kam mir im Traum schon seltsam vor, ich wusste, dass es nicht ganz real war. Außerdem hatte sie im Traum ein neues Haus kaufen wollen und Pläne gemacht, wie sie es einrichten wollte und meine Bedenken, dass sie ja eh nur einen Tag da wäre, völlig ignoriert. So ein Blödsinn. Ich stand auf, zog den Vorhang beiseite und sah aus dem Fenster. Meine Mutter hatte immer wieder mal Pläne gehabt, das Haus umzugestalten, aber es doch nie getan. Weil es ihr dann doch alles zu kompliziert war. Dann hätte ja jemand die alten Möbel entsorgen müssen, jemand hätte streichen müssen und so weiter. Mit einem Blick zu mir. Aber ich hatte ihr nie angeboten, es zu tun. Weil ich neben dem Studium und der Arbeit überhaupt keine Zeit dafür hatte und außerdem wusste, dass sie genug Geld hatte, jemanden damit zu beauftragen. Ich hatte ihr immer geholfen, und wahrscheinlich hätte ich auch die Wohnung komplett renoviert, wenn Tim mir das nicht ausgeredet hätte. „Du hast immer so viel für sie getan“, hatte er gesagt. „Du musst dein eigenes Leben leben.“ Er wurde wütend, wenn ich ihm von früher erzählte. Wie es nach der Trennung meiner Eltern gewesen war, wie meine Mutter mich darauf eingeschworen hatte, dass es jetzt hieß, wir gegen den Rest der Welt, auch gegen Papa. Aber der hatte sich dann ohnehin kaum noch blicken lassen. Immer wieder hatte ich mir anhören können, dass alle Männer scheiße wären. Kein Wunder, dass ich so ein verzerrtes Selbstbild entwickelt hatte.
Unten huschten Leute über die Straßen, hier war auch nachts immer was los. Ich musste an Jules’ Eltern denken. Noch Eltern zu haben, aber so ein zerrüttetes Verhältnis, dass man keinen Kontakt mehr wollte, das stellte ich mir einfach furchtbar vor. Mit meinem Vater hatte ich zwar auch keinen Kontakt, aber das war schon so lange so, dass es mich nicht mehr kümmerte. Wie konnten Eltern nur so sein? Ich beobachtete die Kreuzung, ob ich sie da irgendwo stehen sah, darauf lungernd, dass Jules das Haus verließ. Doch ich sah sie
auch diesmal nicht.
Da ich eh nicht mehr schlafen konnte, ging ich erst ins Bad und dann in die Küche. Als ich die Tür öffnete, sah ich Jules, der dort im Dunkeln saß und an einer Tasse nippte. Er schrak zusammen, als ich das Licht anschaltete.
„Sorry“, sagte ich leise und schloss die Tür hinter mir.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er.
„Nein. Habe komisch geträumt.“
„Kakao?“, fragte er und deutete zum Herd, wo ich einen Topf mit Kakao aus Mandelmilch fand. Ich goss mir etwas davon in eine Tasse und probierte. Gar nicht so schlecht.
„Ich auch“, sagte Jules. „Ich meine, ich habe auch komisch geträumt.“
„Seltsam, was das Unterbewusstsein so fabriziert.“ Ich setzte mich an den Tisch und blinzelte. Dieses Deckenlicht war echt zu hell. Ich schaltete es wieder aus und zündete stattdessen die Kerzen auf der Fensterbank an. Viel besser. Die Kerzen flackerten und das Licht warf lange Schatten über den Raum, und Jules’ Gesicht. Irgendwie sah er ohne sein Make-up erwachsener aus. Seine Haare hingen ihm offen über die Schultern und er trug einen pinken Plüschoverall mit Bärenohren an der Kapuze. Als er meinen Blick bemerkte, zupfte er an dem Stoff. „Spaßgeschenk von Jamie“, sagte er etwas verlegen. „Was hast du denn geträumt?“
„Dass meine Mutter wieder lebt.“
„Tut mir leid.“ Jules wandte sich mir zu. „Ich meine, dass sie tot ist. Das wusste ich nicht.“
„Sie hatte Krebs.“ Ich sagte nicht, dass es schon okay wäre, dass es schnell gegangen wäre. Denn das stimmte nicht. Ich wollte jetzt nicht an sie denken und wechselte das Thema. „Ich habe deine Eltern nicht mehr gesehen.“
„Ich auch nicht.“ Jules umklammerte seine Tasse. „Aber sie kommen wieder. Ständig denke ich, ich sehe sie irgendwo. Im Bus, an der Uni ...“ Er schüttelte den Kopf.
„Sie würden dir doch nicht wehtun oder?“
„Nein. Sie wollen mich bekehren! Und jedes Mal, wenn ich sie sehe ...“ Er stockte und ich fürchtete schon, dass er wieder in Tränen ausbrach. Doch dann fuhr er ruhig fort. „Kommen diese furchtbaren
Erinnerungen in mir hoch. Ich will sie nicht in meinem Leben.“
„Kann ich verstehen. Ich meine, nicht dass ich mir wirklich vorstellen kann, wie es ist, in einer Sekte aufzuwachsen ...“
„Stell dir einfach vor, du glaubst etwas, was du für völlig normal hältst, weil es ja alle Leute glauben, die du kennst. Bis du dann feststellst, dass alle anderen Menschen das nicht glauben, und alle die du kennst völlig durchgedreht sind! Und dass alles was du bist dem widerspricht, was du immer geglaubt hast ...“ Er holte tief Luft. Ich wollte ihn drücken und ihm diesen Schmerz nehmen, aber natürlich konnte ich das nicht.
„Lust noch einen Film zu gucken? Ich habe gerade Netflix-Abo.“
Er schüttelte nur den Kopf. Also stand ich auf, nachdem ich den Kakao ausgetrunken hatte. Ich machte es mir im Bett gemütlich und suchte nach einem Film, der mich ablenken würde. Dieser Anime-Film sah recht harmlos aus. Etwas Dramatisches ertrug ich jetzt nicht. Gerade als ich den Film starten wollte, klopfte es zaghaft an die Tür. Jules steckte seinen Kopf durch den Spalt.
„Ähm, kann ich noch zugucken?“
„Klar.“ Ich deutete auf den Platz neben mir. Er schloss die Tür und setzte sich mit angezogenen Beinen. Ich hatte nicht bedacht, wie nah wir uns sein würden, und zwang mich, nicht von ihm abzurücken. Dass er da war, störte mich nicht. Es war nur so ungewohnt, dass jemand in meinem Bett saß. Ich startete den Film und wir sahen ihn uns schweigend an. Er war wirklich süß gemacht und ließ mich all meine Sorgen für eine Weile vergessen. An einer Stelle musste ich lachen und sah zu Jules. Er war eingeschlafen. Lag da mit geschlossenen Augen und bekam nichts mehr mit. Auch als der Film zu Ende war, wachte er nicht auf. Ich war immer noch ziemlich müde und wollte auch noch etwas schlafen. Sollte ich Jules wecken? Aber er war gerade erst eingeschlafen und sah so friedlich aus. Sein Gesicht hatte sich entspannt, er atmete gleichmäßig und hatte sich zusammengerollt wie eine Katze. Ich zog die Decke über ihn zurecht und ließ ihn schlafen. Aber ich konnte mich nicht einfach daneben legen. Mir war klar, dass ich dann niemals einschlafen würde. Und was, wenn er aufwachte und sich beschwerte, dass ich ihn nicht geweckt hatte? Ich überlegte, mich in die Küche zu setzen, aber Jules würde vermutlich bis zum Morgen schlafen und ich
konnte nicht so lange in der Küche sitzen. Außerdem war das hier ja mein Zimmer. Ich könnte rübergehen und mich in Jules’ Bett legen, aber das wäre noch merkwürdiger, wenn er dann aufwachte und mich dort vorfand. Einen Augenblick lang sah ich Jules beim Schlafen zu. Schließlich nahm ich mir ein Buch und las. Vielleicht würde Jules ja irgendwann von selbst aufwachen. Das tat er jedoch nicht. Immer wieder sah ich zu ihm rüber, betrachtete sein Gesicht. Seine langen Wimpern, seine kleine schmale Nase, die Lippen leicht geöffnet, sein Piercing links unter der Lippe, ein kleiner schwarzer Knopf und der Ring in der Nase, die ausgeprägten hohen Wangenknochen, seine makellose helle Haut. Er bewegte die Lippen, seine Hand zuckte und er kuschelte sich noch mehr in die Decke ein. Eine Haarsträhne war ihm vor die Nase gefallen und bewegte sich jedes Mal, wenn er ausatmete. Ich widerstand dem Drang, sie wegzustreichen. Irgendwann musste ich doch selbst eingenickt sein. Denn ich wachte wieder auf und es war hell im Zimmer. Meine Vorhänge ließen genug Sonnenlicht durch, um alles zu erkennen. Jules schlief immer noch tief und fest neben mir. Gähnend stand ich auf. Ich konnte nicht glauben, dass ich mit Jules in meinem Bett einfach so eingeschlafen war. Seit ich mit zehn meine Tante besucht und bei meinem Cousin einquartiert worden war, hatte ich nicht mehr mit jemandem in einem Bett geschlafen. Es war nur mit meiner bleiernen Müdigkeit zu erklären.
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Als ich gegen neun Uhr beschloss, einkaufen zu gehen und für alle Brötchen zu holen, fand ich Jules wach vor. Er saß im Bett und schaute sich den Film zu Ende an. Gerade lief der Abspann.
„Hey, sorry. Bin voll eingepennt“, sagte er und rieb sich die Augen. „Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Du sahst aus, als ob du den Schlaf nötig hast.“ Ich grinste.
Er hielt sich die Hände vors Gesicht und gähnte.
„Dein Bett ist auch voll bequem“, sagte er und grinste zurück. Meine Wangen wurden heiß, als er mich so ansah.
„Ich hab Brötchen geholt, falls du frühstücken willst.“
„Ist viel zu früh. Ich schlaf noch ´n bisschen.“
Er stand auf, wobei er sich aus der Decke befreien musste, und ging in sein eigenes Zimmer rüber. Wahrscheinlich fand er es überhaupt nicht seltsam, bei jemand anderem im Bett zu schlafen. So oft, wie er jemanden mitbrachte oder nicht nach Hause kam. Also versuchte ich so zu tun, als ob es wirklich überhaupt nicht seltsam war und nicht mehr daran zu denken.
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Die nächsten Tage sah ich Jules kaum. Er ging abends zur Arbeit und schlief dann wohl den halben Tag. Oder er schlief irgendwo anders. Jedenfalls sah ich ihn erst am Donnerstag wieder. Er tanzte durch den Flur, mit einer schwarzen Lederhose und einem halb durchsichtigen Shirt bekleidet, durch das man seine Haut und Tattoos sah. Ich beschäftigte mich gerade mit einer Diät, laut der man wenig Kohlenhydrate aber viel Fett essen sollte und fragte mich, ob das auch vegetarisch funktionierte. Deshalb hatte ich ein Sojasteak gekauft und ganz viel Gemüse, das ich kleinschnippelte. Wahrscheinlich brachte das eh wieder nichts. Ich hatte schon zig Diäten probiert und hatte immer das Gefühl, damit eher noch mehr zuzunehmen. Wenn ich darauf achtete, was ich aß, dachte ich ständig ans Essen und bekam noch mehr Hunger.
Jules rutschte auf seinen Socken in die Küche und stoppte vor meinem Tisch.
„Was machst du heute Abend?“, fragte er. Er schien seine schlechte Stimmung überwunden zu haben.
„Kochen“, sagte ich und schnippelte weiter.
„Wir haben heute große Leder-Party. Komm doch mit.“ Er grinste. „Würde dir bestimmt stehen.“
„Pf.“ Ich kniff mir in den Bauch. „Das will keiner sehen.“
„Ach Quatsch. Jedenfalls geh ich vorher noch mit Katrin ins Gängeviertel.“
„Danke, aber ich bleibe heute lieber zu Hause.“ Mir war irgendwie nicht danach, noch rauszugehen. Ich hatte den ganzen Tag an meine Mutter denken müssen und mir war gerade nicht danach so zu tun, als würde es mir gut gehen, als wäre alles okay. Und ich wusste, dass es keine gute Idee war, jetzt Alkohol zu trinken. Das würde meine
Stimmung noch mehr runterziehen. Mir gefiel das Leben in der WG. Es tat mir gut, nicht mehr allein zu leben, Leute um mich zu haben. Aber manchmal war es mir zu viel. Vorhin waren alle außer Jules dagewesen und dazu noch Nils’ Freundin, Jens’ Freundin und irgendwelche anderen Freunde. Sie hatten in der Küche gesessen und laut geredet, Nacho hatte gebellt und von den Nachbarn war laute Schlagermusik gedröhnt. Mein Kopf tat weh und ich brauchte etwas Ruhe.
„Sonst gerne“, sagte ich. Denn ich wollte nicht, dass Jules dachte, dass ich nichts mit ihm unternehmen wollte. Er schnappte sich einen Paprikastreifen von meinem Brett.
„Na dann langweile dich halt“, sagte er grinsend.
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Es war gerade mal zehn nach zwölf, als ich Jules zurückkommen hörte. Mittlerweile wusste ich, wie es klang, wenn die Tür direkt nebenan geöffnet wurde. Sie knarrte jedes Mal. Hatte Jules nicht etwas davon gesagt, noch in einen Club zu wollen? Sonst war er doch immer die ganze Nacht weg. Vielleicht hatte er ja nur etwas vergessen und ging gleich wieder los. Ich sah mir gerade eine Comedy-Sendung an. Mit sechzehn bis zwanzig hatte ich ein paar Mal selbst bei Poetry-Slams mitgemacht und war gar nicht so schlecht dabei gewesen. Immerhin hatten die Leute gelacht. Das war gar nicht so leicht, wie es aussah. Es kam darauf an, die Pointen so vorzutragen, dass sie wirklich zündeten. Das falsche Timing konnte alles kaputt machen. Die ganze Aufmerksamkeit auf der Bühne hatte mich aber immer so nervös gemacht, dass es mir keinen Spaß machte. Jedenfalls bewunderte ich die guten Comedians daher umso mehr. Es klopfte an meiner Tür und ich schaltete den Ton aus.
„Ja?“
Die Tür öffnete sich einen Spalt.
„Hey“, sagte Jules und sah seltsam verlegen aus. „Noch wach?“
„Ja. Wieso bist du denn schon zurück? Wolltest du nicht zur Lederparty?“
Jules zuckte die Schultern. „Hatte doch keine Lust.“ Mir fiel auf, dass er sich umgezogen hatte und jetzt eine Jogginghose und ein T-
Shirt trug. Außerdem hatte er sich abgeschminkt. Ich wartete, ob er irgendetwas Bestimmtes wollte, aber er stand nur in der Tür, ohne etwas zu sagen. Ging es ihm nicht gut? Vorhin schien er sich noch darauf gefreut zu haben, auszugehen.
„Alles okay?“, fragte ich.
„Klar.“ Doch so sah er nicht aus. Er wirkte verloren, wie er da an der Tür stand. Vielleicht wollte er nur gerade nicht allein sein. Sicher war es so, warum sollte er sonst ausgerechnet zu mir kommen? Die Sache mit seinen Eltern musste ihn immer noch mitnehmen. Ich wollte ihm helfen, ihn vor seinen Eltern beschützen. Aber natürlich konnte ich das nicht. Vielleicht konnte ich ihn wenigstens ein bisschen ablenken. „Kennst du diesen Comedian?“, fragte ich und zeigte ihm ein Foto auf meinem Handy.
„Schon mal gesehen.“
„Ich liebe ihn.“
Jules kam ins Zimmer und ich machte ihm Platz auf meinem Bett. Wir sahen uns die Show an und Jules lachte hin und wieder. Aber nicht sehr ausgelassen. War vorhin irgendetwas passiert?
„Alles okay bei dir?“, fragte ich noch einmal, nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet hatte.
Er zuckte die Schultern. „Habe vorhin wieder meine Eltern gesehen. Ich wusste, dass sie es wieder versuchen, aber ...“
Er spielte mit dem Saum seines T-Shirts und sah nach unten.
„Haben sie was gemacht?“
„Sie standen einfach nur unten und ich bin an ihnen vorbeigegangen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, muss ich daran denken, dass sie mich für einen Sünder halten.“
„Das bist du nicht.“
„Ich weiß. Das weiß ich wirklich.“ Er schnaubte. „Es macht mich so wütend, wenn ich daran denke, was sie mit den Kindern gemacht haben. Bei jeder Kleinigkeit hatte ich Angst, dafür bestraft und nicht erlöst zu werden. Es war sogar verboten zu masturbieren. Wenn man dabei erwischt wurde, musste man mit zusammengebundenen Händen schlafen und offener Tür. Und es wurde vor der ganzen Gemeinde erzählt.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Das tut mir so leid.“
„Ich dachte ja, ich würde eh nicht lange leben, weil die Welt bald
untergeht. Und nur, wenn ich artig war, würde ich erlöst werden. Kannst du dir das vorstellen? Es macht mich einfach traurig. Ich habe so viel verpasst, verstehst du? Weil ich den Scheiß früher selbst geglaubt habe. Und dann bin ich abgehauen und diese Monate auf der Straße ... aber das werden sie nie verstehen. Dass sie im Unrecht sind, dass sie mir das angetan haben.“
„Du hast auf der Straße gelebt?“, fragte ich entsetzt. Die Vorstellung war unbegreiflich. „Das muss furchtbar gewesen sein.“
„In verschiedenen leerstehenden Häusern. Mit einer Gruppe von Jugendlichen. Aber das waren nicht wirklich meine Freunde. Jeden Tag hatte ich Angst, dass meine Eltern mich finden und zurückholen. Ich habe nicht geglaubt, dass irgendjemand mir helfen würde. Bis ich Sabine kennengelernt habe. Sie war Sozialarbeiterin und hat sich um die Kinder gekümmert, hat mir einen Platz in einer Jugend-WG besorgt, obwohl ich da schon siebzehn war, hat mir geholfen, wieder zur Schule zu gehen und mein Abi zu machen.“ Das erste Mal lächelte er. „Ich hatte Glück. Aber diese Zeit war die Hölle.“
„Tut mir leid“, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich noch sagen konnte, um auszudrücken, dass es mir wirklich leid tat.
„Manchmal muss ich mich daran erinnern, dass ich Glück hatte. Weißt du, wie viele Jugendliche, die auf der Straße landen, ihr Leben nie wieder auf die Reihe kriegen, drogensüchtig werden, sich umbringen? Nie die Schule fertig machen? Und ich studiere sogar.“
„Das macht es aber nicht weniger schlimm, dass deine Eltern so ... bekloppt sind.“
Jules schnaubte. „Nein. Da hast du recht. Ich hasse es, dass es mich immer noch so fertig macht, sie zu sehen. Ich sollte sie einfach ignorieren und ihnen nicht diese Macht über mich geben ...“ Er schüttelte den Kopf.
„Wenn du das könntest, wärst du mir unheimlich. Ist doch normal, dass dich das nicht kalt lässt.“
„Vielleicht.“ Jules zuckte die Schultern und sein Blick ging in die Ferne. „Was ist mit deinen Eltern? Hast du dich gut mit ihnen verstanden?“, fragte er dann und sah mich wieder an, mit diesen warmen braunen Augen und so, als würde er im meine Seele blicken und alles über mich wissen wollen.
„Mein Vater hat uns verlassen, als ich zehn war und ich hatte
kaum noch Kontakt. Es waren immer nur ich und Mama ... meine Mutter.“ Ich ärgerte mich, dass ich Mama gesagt hatte, wie ein Kleinkind. „Es war nicht immer einfach. Manchmal war es schwierig mit ihr. Aber dass sie nicht mehr da ist ...“ ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und zuckte nur hilflos die Schultern.
„Scheiße. Und ich sage dir, dass ich meine Eltern nicht sehen will.“
„Nein, das verstehe ich. Jede Situation ist anders.“ Ich hätte Jules nie gesagt, dass er sich mit seinen Eltern versöhnen sollte, weil es sonst sein konnte, dass es zu spät war. Was sollte das bringen? So wie er sie beschrieben hatte, würden sie sich nicht ändern.
Ich musste wohl ziemlich elend ausgesehen haben, denn Jules streckte seine Hand nach mir aus und tätschelte mir etwas unbeholfen die Schulter.
„Sorry.“ Ich atmete tief durch. „Eigentlich wollte ich dich aufmuntern und jetzt belaste ich dich auch noch mit meinem Kram.“
„Quatsch. Du bist doch nicht mein Therapeut.“ Jules lächelte und ich lächelte zurück. Es wunderte mich selbst, dass ich mit ihm so offen reden konnte. Sonst fiel es mir schwer, über meine Mutter zu sprechen, sogar mit Tim hatte ich kaum reden können. Dabei hatte er alles mitbekommen und immer wieder versucht mich dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Ich musste ihm wirklich nochmal sagen, wie dankbar ich ihm war, dass er immer für mich da gewesen war.
„Wollen wir uns noch was angucken?“, fragte Jules. „Ich könnte etwas Lustiges gebrauchen, gerade. Ich verspreche auch, nicht wieder einzupennen und falls doch, weck mich bitte auf.“ Er grinste.
Als wir nebeneinandersaßen und über eine Show lachten, fühlte es sich gar nicht mehr seltsam an. Nicht mehr zu nah, nein, eigentlich ganz okay.