DIE KACKE IST AM DAMPFEN

Als ich mir das Motorola an den Gürtel hänge, fällt mir wieder ein, warum ich Mathe immer gehasst habe:
Weil zwei plus zwei nicht immer vier ergibt.
Das fällt mir in dem Moment ein, als mir klar wird, dass Jinx bereits die Treppen hinaufgelaufen und draußen ist. Auf und davon. Scheiße. Ich hänge mich wieder ans Telefon. Wähle Two Hands Nummer. Er nimmt beim ersten Klingeln ab.
Ja, was gibt's?
Ich komme rauf, sage ich. Hast du Jinx gesehen?
Wen?, fragt er.
Den gelben Nigger.
Nein, sagt er. Und dann: Der ist doch bei dir.
Nein, erkläre ich ihm. Er ist nicht bei mir, und genau das ist das Problem. Ein großes Problem. Unser Problem. Halt die Augen offen. Ruf Jeffers an und gib ihm Bescheid. Ich bin gleich bei dir.
Der Motor des Vans heult auf und hört sich wie das Knurren eines müden Hundes an. Und ich stehe einfach nur da und starre ihn an, bis ich Mr. Filialleiters Blick erhasche. Mir gefällt nicht, was ich sehe. Der Kerl hat noch nicht mal den Laderaum überprüft. Es gefällt mir ganz und gar nicht.
Ich bin raus aus der Tür, im Treppenhaus und dann wieder draußen auf der Straße. Niemand befindet sich auf dem Gehweg, niemand zu sehen. Jinx und Mr. Filialleiters Statisten sind verschwunden. Gegenüber dem Eingang zur Tiefgarage, hinter dem übersichtlichen Sonntagmorgenverkehr, steht Two Hand am Fenster des Restaurants. Er schüttelt den Kopf von links nach rechts. Nein. Also stecke ich mir die Hände in die Taschen meines Regenmantels und verhalte mich wie ein New Yorker, latsche mit eingezogenem Kopf bei Rot über die Straße, um mir einen Cappuccino und einen Bagel zu gönnen.
Renny fängt mich an der Tür ab, mit einem verlorenen Gesichtsausdruck.
Jeffers und Rose–
Lass mich raten, unterbreche ich ihn. Die haben sich mit ihrem Chevy aus dem Staub gemacht.
Ja, aber–
Sind sie Jinx gefolgt? Dem U-Street-Typen?
Nein, nein, sagt Renny. Den hab ich nicht gesehen, aber das Ding ist, Burdon, ich hätte ihn nicht übersehen können. Auf gar keinen Fall. Ich war–
Du hast alles richtig gemacht, Kid, sage ich. Aber wir müssen verschwinden, und ich meine verschwinden. Irgendwas stimmt hier nicht.
Ich wühle in meinen Taschen herum: Hier.
Ich halte ihm den Parkschein hin.
Warwick Hotel. Das ist an der 54th und – Scheiße, kann mich nicht mehr erinnern – Sixth Avenue, glaube ich. Der Taxifahrer wird's wissen. Nimm den Olds vor dem Hotel und beweg deinen Arsch nach Jersey. Aber egal, was du auch tust, bleib von Morristown weg. Hör mir zu, das ist wichtig. Fahr nicht nach Morristown, verstanden?
Ich nehme den Kuli aus seiner Hemdtasche und schreibe ihm die Orte auf eine Serviette.
Das ist der andere Treffpunkt, erkläre ich ihm. Süd-Jersey. Ein paar Lagerhallen. Ich treffe dich dort. Um ein Uhr. Warte nicht länger als eine Stunde auf mich. Wenn ich nicht aufkreuze … Scheiße, Mann, wenn ich nicht aufkreuze, dann fahr nach Hause und finde Trey Costa, okay?
Aber was, wenn ich–
Ich drehe ihm den Rücken zu, denn ich weiß, dass er ein guter Soldat ist, so wie ich, ein guter Soldat, und er wird zum Warwick fahren, er wird den Wagen nehmen, zum zweiten Treffpunkt fahren und sich aus allem raushalten.
Und was mache ich? Ich hab noch was zu erledigen. Jinx ist auf und davon, und er unterhält sich entweder mit den Banktypen über Geldmarktkonten oder ist auf dem Weg zu Juan E und dem Rest seiner Crew. Da braucht man nicht lange nachzudenken. Ich muss Jinx von diesem Hotel fernhalten. Und herausfinden, was für eine Scheiße hier wirklich abgeht.
Ich rufe mir ein Taxi heran und sage dem Fahrer, einer von diesen Turban-Typen, wo ich hin will. Seine Augen bekommen diesen glasigen Ausdruck, und er fängt an, in seinem Stadtplan herumzublättern. Mittlerweile kennt die ganze Welt diese Ecke, aber jetzt, in diesem Moment, um 09:30 Uhr an diesem gewissen Sonntagmorgen hat Manhattan das Excelsior Hotel vergessen, wenn es den Ort überhaupt je gekannt hat.
Scheiße, sage ich zu dem Taxifahrer, und dann nenne ich ihm die Straße, die Avenue und die Kreuzung. Und jetzt gib Gas, Gandhi, sage ich.
Das Excelsior. Ein schöner Name für ein Hotel, wenn vielleicht auch ein wenig zu großspurig für eines, das seit zwanzig Jahren keinen zahlenden Gast mehr gesehen hat. Weit oben hinter der 110th Street in einer entmilitarisierten Zone, am Rand von Harlem.
Der Taxifahrer eiert immer noch mit seinem Stadtplan und seinen Straßenkarten herum.
Gib Gas, sage ich noch einmal und hämmere gegen die Plexiglasscheibe.
Er zwinkert nicht mal, legt nur die Karten zur Seite, und wir fahren stadtaufwärts. Er nimmt die Westseite des Central Parks, und ich weiß nie, ob ich von diesen Fahrern verschaukelt werde oder nicht, jedenfalls sehe ich die Stadthäuser an mir vorbeiziehen, und dann weichen sie Gebäuden am Rand einer Fantasterei von Stadtsanierung, die in den späten Sechzigern rapide den Bach runterging. Wohnkomplexe, die wie Schrottplätze aussehen. An jeder neuen Kreuzung das gleiche erbärmliche Bild, ein ausgebranntes Gebäude, ein ausgebranntes Auto und dazwischen ausgebrannte Männer und Frauen und Kinder, die wie Kriegsflüchtlinge aussehen.
Als das Taxi am Ziel ankommt und an den Straßenrand fährt, fällt mein Blick auf eine Reihe von Polizeifahrzeugen, und beinahe hätte ich laut ausgesprochen, was ich denke: Oh, Scheiße. Aber dann sehe ich die Leute, die sich auf der anderen Straßenseite versammelt haben, und deren Gesichter – lächelnde schwarze Gesichter und schwarze Körper in den besten Sonntags-Ausgehklamotten, eine nicht enden wollende Welle aus Pink und Blau und Gelb und Weiß, die gegen das weit offene und einladende Maul der Free African Methodist Church brandet, und ich denke bei mir: Nur CK schafft es, ein Treffen mitten in einem Sonntagsgottesdienst anzuordnen.
Ich gebe dem Fahrer einen Zehner, sage ihm, dass er den Rest behalten kann, ein Trinkgeld, aber nicht zu hoch, um im Gedächtnis zu bleiben, und dann bin ich auf der Straße und bewege mich langsam und eingewickelt in meiner New-Yorker-im Regenmantel-Verkleidung voran, die mich an mehr Cops vorbeibringt, als ich in einer ganzen Woche in Virginia zu Gesicht kriegen würde. Sie sehen gelangweilt aus, ein lästiger Job, der aber gemacht werden muss, und die ganze Straße ist abgesperrt. Muss ja eine verdammt beliebte Kirche sein. Auf der anderen Seite sehe ich eine kleine Reihe von NYPD-Fahrzeugen, dazu ein paar Limousinen und sogar Übertragungswagen von Funk und Fernsehen.
Auf dieser Seite der Straße ist ein Appartementhaus, irgendein Sozialbau, ein Altenheim, das noch ganz gut aussieht, und bündig daneben lehnt sich das heruntergekommene Hotel Excelsior an. An dem verwitterten Vordach lässt sich noch geisterhaft der Name des Hotels ausmachen. Die eingeschlagenen Fenster links und rechts des Eingangs sind mit schmiedeeisernen Gittern gesichert, die ein kunstvolles verschnörkeltes Gebilde ergeben. Was von dem Gebäude noch übrig ist, also die unteren Etagen, wurde von den Methodisten übernommen und in eine Art billige Absteige umgewandelt, die sie Obdach nennen. Für die Landstreicher, die Hilflosen und natürlich für die Cracksüchtigen.
Es ist der perfekte Ort für ein Treffen. Ein Ort für die, die durchs Raster fallen, die Anonymen, die Unsichtbaren, die Verlorenen. Ein Ort, wo man sich, egal ob Schwarz oder Weiß, unter die Leute mischen kann. Selbst an einem Sonntag.
In der Lobby des Excelsior treibt sich der übliche Abschaum herum. Die meisten hier sind im Heroinrausch eingenickt, und der Gestank ist wirklich erstaunlich, ein feuchter Dunst aus Lysol und Sperma. Wood Williams tut so, als wäre er hinter seiner Zeitung schon fast eingeschlafen, aber er grinst, als ich an ihm vorbeitrabe. Ich drücke auf die Schalter, um mir einen der Fahrstühle zu rufen, und kann kaum glauben, dass die Tür von einem offensteht und darin sogar noch Licht brennt, doch ich nehme viel lieber im Rollstuhl die Treppen bis in den zehnten Stock als mein Leben diesem elenden Kasten anzuvertrauen.
Das Treppenhaus sagt schon alles: Das Haus ist tot und verfault von innen nach außen. Farbe und Putz lösen sich von den Wänden, bauliches Lepra, das den Blick auf verrottenden Gipskarton und Ziegel freigibt. Die Absätze auf jeder Etage bestehen aus einer Mischung aus abgeplatztem Beton, Glasscherben, Bierdosen, Crackpfeifen, gebrauchten BIC-Feuerzeugen und leeren Medizinfläschchen. Die Treppen scheinen mit jeder Stufe mehr nachzugeben, und jede weitere Etage offenbart neue Wunden an dem Gebäude. Im siebten Stock muss ich über ein paar Stufen springen, auf die Putz und Steine von der Decke gefallen sind.
Im neunten Stock versuche ich, zu Atem zu kommen. Noch ein Stockwerk vor mir. Ich höre eine Stimme, verstehe aber nicht, was sie sagt. Jemand summt. Ein Husten. Also scheint alles in Ordnung zu sein.
Möglicherweise.
Die letzten Stufen nehme ich sehr vorsichtig. Wie in vielen Stockwerken darunter fehlt auch hier die Tür zur Etage. Irgendwer hat sie aus den Angeln gerissen, um Feuerholz daraus zu machen. Oder um sie für etwas Stoff zu verscherbeln. In dem Gang dahinter ist es so düster, dass ich nichts erkennen kann. Also warte ich einen Moment im Dunkeln, bis ich schließlich wieder eine Stimme höre, und dieses Mal auch die Worte: Zehn Uhr.
Ich sehe auf meine Uhr, und die scheint nachzugehen, denn da ist es erst 09:50 Uhr.
Die Stimme gehört Martinez, und Martinez gehört zu CK und Mackie. Ich lege meine Reisetasche im Treppenhaus ab, dann rufe ich:
Rudy? Danach atme ich noch einmal tief durch und trete in den Gang.
Da ist Martinez, im Schatten. Ein anderer von unseren Jungs, ich denke, es müsste Crimso sein, steht weiter hinten im Gang und hält eine langläufige Automatikwaffe an der Hüfte, eine AK mit eigens angefertigtem hölzernen Kolben.
Lane?, ruft Martinez zurück, halb flüsternd, und was kann ich schon anderes antworten als:
Ja, Rudy, ich bin's.
Meine Fresse, sagt er. Wir hätten dich beinahe erschossen. Was machst du hier? Ich dachte, du wärst in der Stadt mit den–
Ich lege mir den Finger an die Lippen und sage:
Ich muss mit CK sprechen.
Martinez rollt mit den Augen. Ach ja?, sagt er und wird lockerer. Der Typ weiter hinten – ja, es ist tatsächlich Crimso – beachtet uns gar nicht weiter, also sage ich:
Er hat mich angerufen. Es ist wichtig.
Also sagt Rudy:
Warum hast du das nicht gleich gesagt. Komm mit.
Wir laufen den Gang hinunter, und da gibt es nicht viel zu sehen außer blanken Glühbirnen, von denen nur die Hälfte leuchtet, und diese schmierige, grünliche Tapete, die Blasen wirft und teilweise in Fetzen von der Wand hängt. Die Türen zu den früheren Räumen sind entweder offen oder fehlen ganz, und die Zimmer selbst sind alle leer, bis wir uns schließlich dem Ende des Korridors nähern. Dann fangen die Dinge an, interessant zu werden.
Licht dringt aus einem Raum zu unserer Linken. Der Raum ist voll mit den Brüdern. Die 9 Bravos und U-Streets lungern auf dem Boden und auf den abgewetzten Möbeln herum, chillen, kippen sich Literflaschen Starkbier hinter die Binde, nuckeln an Joints oder hängen einfach nur ab. Ein wirklich geselliges Treffen.
Dann, nach ein paar weiteren leeren Räumen, gibt es einen mit Toons und Fryer darin, und sie haben Leinentaschen auf ein paar Stühlen abgestellt und kramen in den Sachen herum, die sich in den Taschen befinden, und als wir vorbeilaufen, gibt mir Toons das Daumen-Hoch-Zeichen und wühlt dann weiter in der Tasche herum.
Dann haben wir das Ende des Flurs erreicht, und dieses Mal ist da eine Tür, auf der rechten Seite, und die Tür ist geschlossen, und mir muss keiner sagen, wer sich dahinter befindet.
Martinez klopft an die Tür, und als sie sich einen Spalt breit öffnet, sagt er:
Wir haben Gesellschaft. Lane ist da.
Mackie the Lackey führt mich in einen Raum voller grinsender Gesichter. Ich lasse den Raum auf mich wirken, der mal so eine Art Suite gewesen sein muss, breit, lang und leer, mit Ausnahme eines Tisches und ein paar Stühlen, den Überresten einer Essecke. CK steht am hinteren Ende, vor zwei großen Fenstern ohne Vorhängen, wie der Gastgeber einer surrealen Dinnerparty. Juan E und sein Django-Kerl sitzen an der einen Seite des Tisches, und irgendein auf den Punkt zurechtgecasteter Boss-Nigger sitzt ihm auf der anderen Seite gegenüber, zusammen mit einem Typen, der aussieht wie die Gangster-Version von einem NFL-Linebacker. Der Boss muss Daddy Big sein, eine große Nummer bei den 9 Bravos.
Auf dem Tisch vor ihnen liegen ein offener Koffer, dicke Bündel Bargeld, jede Menge Handfeuerwaffen und vielleicht zwanzig Beutel Illejo. White Daddy. Kokain.
Verdammt. Ich wusste, es würde um Drogen gehen. Ich wusste es.
Hört zu, sagt CK, aber nicht zu mir, sondern zu den Typen am Tisch. Er ist cool. Einer von meinen Jungs. Nicht wahr, Lane?
Ich nicke, während ich mit Mackie den Raum durchquere, an dem Tisch und an Dawkins vorbei. Der Kerl lehnt zusammengesunken an der Wand, als würde er auf einen reichlich verspäteten Zug warten.
Hey, sagt Juan E, und damit meint er mich: Yo, hey. Du da. Weißbrot. Wie geht's meinem Lieblings-Nigga Jinx?
Ich werfe CK den Blick zu, den er braucht, einen, der nichts und zugleich alles sagt, und dann sage ich zu Juan E: Hey, Jinx geht's prima.
Dann finde ich meinen Platz, einen leeren Flecken an der hinteren Wand, zwischen den beiden großen Fenstern, mit freier Sicht auf die Player und freiem Weg zur Tür, lehne mich zurück und genieße den Rest der Show.
Der Warlord der 9 Bravos sitzt da, unbewegt, ungerührt. Eine Onyx-Statue mit zwei .45er Desert Eagles als Gedeck vor sich. Der Linebacker zählt Dollars ab, und ich habe noch nie so viel zornige Langeweile gesehen seit der letzten Ansprache zur Lage der Nation.
Zwei Sachen stinken: Zum einen ist der Deal gelaufen. Und wenn der Deal gelaufen ist, bleibt man nicht noch zusammen, um sich die Hände zu schütteln. Oder Drogen zu verscherbeln. Und dann ist da noch Mackie, der rechts von mir am Fenster steht und abwechselnd auf seine Uhr und zum Fenster hinaussieht, hinunter auf die Straße. Ein paarmal zu oft hinaussieht.
Bis er sich dann CK zuwendet und sagt: Hey, wir müssen los.
Woraufhin sich CK seinem kleinen Publikum zuwendet:
Gentlemen, das wäre dann für heute wohl alles. Es fehlt nur noch eine kleine Dreingabe. Eine Kleinigkeit. Eine kleine Sonderzulage.
CK nickt Mackie zu, und Mackie hebt zwei lange Kisten vom Boden auf und stellt sie vorsichtig nebeneinander auf den Tisch.
Aufgemerkt, sagt CK zu Juan E und dem Bravo-Warlord. Was immer das bedeuten soll. Er benimmt sich wie einer dieser überkorrekten französischen Kellner in den Sketchen im Fernsehen.
CK zieht ein Paar weiße Latexhandschuhe, wie sie auch Ärzte benutzen, aus seinem Mantel, und während er sie sich überstreift, erklärt er den beiden: Neuwertig. Absolute Schmuckstücke. Das Beste vom Besten. Eine für jeden der anwesenden Gentlemen.
Er lässt die Verschlüsse aufschnappen, und dann klappt er den Deckel nach hinten, als würde er die Kronjuwelen offenbaren. Und jetzt, wo ich hineinsehen kann, weiß ich, dass es auf gewisse Art tatsächlich Juwelen sind.
Mit den besten Empfehlungen von Mr. Berenger.