UNTERWELT

Einer tot, damit bleiben noch zehn übrig. Ganz fantastische Aussichten. Aber eine Sache hab ich ihnen voraus:
Ihr Plan ist es, lebend hier rauszukommen.
Die Einfachheit dieser Erkenntnis lässt mich weitermachen. CK ist nicht gerade suizidär veranlagt. Ihre Flucht ist in vollem Gange. Es gibt einen Plan und wahrscheinlich auch noch einen Ersatzplan und mit einiger Sicherheit auch noch einen Ausweichplan für den Ersatzplan.
Verwirrung ist alles. Seit den Schüssen am Fenster sind mittlerweile fünf oder sechs Minuten vergangen. Der Sturm auf das Hotel wird erfolgen, aber noch nicht gleich. Der tote Cop war ein Einzelgänger, hatte Pech, vielleicht ein Möchtegern-Held. Egal wie, er war zur falschen Zeit am falschen Ort, ohne Rückendeckung. Leute wie er haben es nicht anders verdient.
Das Problem ist nur, dass ich jetzt auch so einer bin.
Hinter mir höre ich Schritte, aber sie rennen davon. Davon, aber wie? Die Fahrstühle? Auf gar keinen Fall. Die Treppen. Nun, zumindest nicht diese Treppen. Die Feuerleiter? Zu offen, zu offensichtlich, es sei denn, es gibt noch etwas auf der Rückseite. Dort muss es noch Treppen geben.
Jedenfalls werde ich mich hier aber nicht eingraben und auf sie warten. Denn CK's Leute sind auf dem Weg nach draußen, und hereinkommen … na ja, herein kommt der Zorn Gottes.
Verwirrung ist immer noch alles. Zehn Stockwerke tiefer, auf der Straße, muss es zugehen wie in einem Tollhaus. Das letzte bisschen Menschenverstand hat es zusammen mit dem Kopf des Reverends weggeblasen. Eine wilde Meute, eine Welt aus Schreien und Sirenen und nicht genug Sicherheitsleute, um den Verkehr zu regeln. Wer immer da draußen ist – ganz sicher das NYPD, vielleicht noch ein paar Typen vom FBI und sicher auch ein paar schießwütige Mitglieder aus der persönlichen Leibwache des Reverends – kommt jetzt in die Hotellobby gerannt. Sofern man sich einigen kann, dass die Schüsse von hier kamen. Ich kann sie förmlich vor mir sehen, wie sie die gleichen Möglichkeiten durchspielen: Fahrstühle, Treppen oder vielleicht sogar die Feuerleitern. Alles abgeriegelt. Wo also geht CK hin? Und wo gehe ich hin?
Es gibt keine andere Möglichkeit: Ich muss nach oben.
Ich nehme zwei oder drei Treppenstufen auf einmal und bin nach drei Etagen außer Puste, als ich etwas höre und es für das Beste halte, kurz zu verschnaufen und die Ohren zu spitzen.
Jemand anderes ist noch im Treppenhaus. Ich denke an die Cops, aber das Echo hört sich nicht richtig an. Und schließlich komme ich auch darauf, wieso: Das Echo kommt von oben herunter.
Von oben, verdammt noch mal. Aber das ist unmöglich. Auf dem Dach kann noch kein SWAT-Team gelandet sein, noch nicht, also muss es einer von uns sein. Also einer von denen. Und dann fällt mir wieder CK's Briefing ein: Meehan, aufs Dach. Meehan und dieser U-Street-Typ, wie hieß er noch … Lil Ace, sollten aufs Dach.
Die Schritte kommen näher, und es besteht kein Zweifel, dass es nur ein einzelner Mann ist. Was bedeutet, dass Lil Ace auf dem Dach die Grätsche gemacht hat.
Ich gehe die Treppen wieder hinunter, komme an dem Durcheinander im zehnten Stock an und laufe weiter, werfe einen kurzen Blick auf den Cop, den ich umgelegt habe, und der verdammt noch mal kein Cop ist. Ich meine, er sieht natürlich aus wie ein Cop, NYPD Blue, mit roten Rosen aus Blut, die aus seiner Schulter erblühen, aber sein Name ist Ernie Gonsalves, und er ist einer von CK's Fahrern.
Irgendwo unter mir wird eine Tür eingetreten, und eine Menge Füße kommen die Treppenstufen heraufgestürmt. Noch mehr Drama.
Es ist Zeit, sich zu entscheiden. Entweder ich habe Glück oder sehe mir die Radieschen von unten an.
Dieses Mal bewege ich mich langsam und vertraue nur den undeutlichen Geräuschen um mich herum. Ich stecke meine Glocks in ihre Holster und ziehe die Schrotflinte aus meiner Reisetasche, atme einmal tief durch und dann lade ich sie durch. Mossberg Model 500, Kaliber .12 mit Klappschaft. Mit einem fetten Tschack-Tschack wird die erste von sieben Patronen in die Kammer geladen. Schwere Schrotmunition. Jetzt kann ich es krachen lassen.
Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und drehe mich um die Ecke in den Gang hinein, sehe nicht einmal hin, sondern feuere, lade durch und feuere wieder. Die Schüsse legen die Wand auf der anderen Seite in Schutt und Asche, aber das ist auch schon alles. Jemand kauert unter der Wolke aus Mörtelstaub und schießt mit einer Pistole auf mich. Ich ziehe den Kopf ein, benutze den Türrahmen als Deckung, und mir gehen immer noch die Zahlen durch den Kopf, zehn von ihnen – zehn von ihnen, wenigstens zehn – und dann fällt mir wieder der Typ ein, der von oben die Treppe herunterkam, der Typ, den ich jetzt im Rücken habe, und im gleichen Moment glaube ich, weitere Schritte zu hören. Schritte von unten, eine Menge Schritte, die heraufgestürmt kommen.
Ich schiebe die Mündung der Schrotflinte am Türrahmen vorbei und feuere erneut. Eine zwölfkalibrige Frage, und als Antwort folgt eine wütende Salve, die mich zurückweichen und beinahe über Gonsalves Leiche stolpern lässt, während ich zusehen muss, wie der Türrahmen und die Hälfte der ihn umgebenden Wand zersplittern.
Meine verdammten Waffenbrüder.
Nach unten. Es gibt nur den Weg nach unten. Ich tänzele um Gonsalves Leiche herum und laufe die Treppen hinunter, husche durch die Tür und sehe hinauf. Kein Zweifel, dass sie jetzt hinter mir her sind, also leere ich meine Schrotflinte in die Decke. Stromkabel zucken herum, es regnet Funken, und dann gehen im neunten Stock die Lichter aus.
Ich ducke mich in den erstbesten Raum, der genauso verlassen ist wie der ganze Rest, und lade die Mossberg nach. Der Lauf ist noch heiß, kleine Rauchkringel steigen daraus auf.
Nach links oder nach rechts, aber da ein halbes Dutzend Kerle mit Kanonen von links anrücken, bleibt mir eigentlich keine Wahl. Ich hole einmal tief Luft, dann renne ich los.
Nichts passiert.
Aber nur für einen Moment. Dann höre ich, wie ein paar unverständliche Worte geschrien werden, die mit Jetzt enden, und dann höre ich ein paar Pistolenschüsse und denke noch, das ist okay, ich werde es schaffen.
Und dann höre ich die Uzi. Und renne weiter.
Die Kugeln peitschen links und rechts an mir vorbei. Zu nah, viel zu nah.
In dem Moment wird mir klar: Ich habe das Ende des Korridors erreicht. Und hier gibt es keine Türen, keine Treppen.
Keinen Ausweg.
Scheiß drauf. Ich bin keine Ratte, und das hier ist auch kein Labyrinth. Ich ziehe eine meiner Pistolen und feuere wild den Gang hinunter, einfach nur, um Lärm zu machen. Dann trete ich gegen die Wand. Putz, Holz und Sand bröckeln mir entgegen. Wurmstichig, vergammelt, von Termiten zerfressen, uralt und verdammt noch mal meine Rettung.
Ich stecke die Pistole zurück in meinen Gürtel und mache mich an die Arbeit.
Ich ziele nicht einmal, schwinge einfach das vordere Ende der Schrotflinte in Richtung der Wand und drücke ab. Der erste Schuss bläst ein Dreieck aus tennisballgroßen Löchern in den Putz, der zweite verbreitert die Löcher auf die Größe von Basketbällen, und nach dem fünften oder sechsten Schuss sehe ich einen Lichtschein, sehe etwas auf der anderen Seite, und in dem Moment drehe ich mich um. Ich sehe Schatten, Schatten die aus der Tür kommen, aus dem Treppenhaus, deshalb heißt es jetzt oder nie, also drehe ich mich zurück zur Wand und schieße und schieße und schieße noch einmal, und als ich es nur noch klicken höre, stürme ich los, ziehe den Kopf ein, schiebe die rechte Schulter nach vorn und renne schnurstracks in die Wand hinein. Ich spüre den Putz, die Trockenwand, die Ziegel, spüre, wie das ganze demolierte und verrottete Konstrukt nachgibt, habe das Gefühl, als würde ich gegen acht Leute prallen, und dann ist da plötzlich nichts mehr. Ich knalle auf den Fußboden, den Boden auf der anderen Seite, dem Nachbarhaus, und meine Schrotflinte schlittert davon.
Vor mir liegt ein weiterer Korridor, dieses Mal hell erleuchtet, mit weißen und gelben Tapeten, und während ich mich aufrichte, öffnet sich rechts von mir eine Tür, und dieser alte schwarze Mann schaut mich an, als wäre ich der Zimmerservice, und fragt:
Haben Sie den Krach eben gehört?
Ja, sage ich und rappele mich wieder auf die Füße. Ja, hab ich. Ich hab den Krach gehört. Hören Sie, wir haben ein Problem.
Grundgütiger, sagt er kopfschüttelnd. Lieber Gott.
Ich lasse ihn stehen, und als ich mich zu der Schrotflinte hinunterbücke, kann ich den Schmerz spüren – immerhin bin ich gerade durch eine verdammte Wand gebrochen – aber ich hieve mich wieder hoch und stakse unsicher zur nächsten Tür und donnere zweimal mit dem hinteren Ende der Schrotflinte dagegen. Ein Typ macht auf, ein verwirrt aussehender, grauhaariger Opa. Er starrt einzig und allein die Mossberg an. Ich erzähle ihm die erstbeste Lüge, die mir einfällt.
Polizei. Sie müssen das Gebäude verlassen.
Was?, fragt er.
Ich werfe einen Blick zu dem Loch in der Wand zurück und kann die Flammen sehen, die sich dahinter ausbreiten. Feuer. Niemand sagt ein Wort, aber ich kann es hören. Feuer. Irgendwo aus einem kleinen Punkt in meinem Hinterkopf, der extra für Albträume wie diesen reserviert ist, kann ich die Stimme hören:
Feuer frei!
Ich sagte, Sie müssen hier raus.
Jetzt steht diese gebrechliche, kleine Frau neben ihm, seine Ehefrau wahrscheinlich, blinzelt mich durch Augen voller Tränen hindurch an und sagt: John Henry Mason, wer ist dieser Mann? Was geht hier vor?
Feuer, sage ich zu ihr. Das Gebäude brennt.
Sie sieht ihn an. Er sieht mich an. Steht auf dem Schlauch. Dann sagt sie: Die haben Reverend Parks umgebracht. Die haben Reverend Parks umgebracht. Die haben–
Haben Sie mich nicht verstanden?, frage ich. Es brennt . Ich brülle mittlerweile, und etwas weiter den Korridor entlang öffnet sich eine andere Tür. Zwei weitere schwarze Gesichter schauen heraus. Sie sind verängstigt. Absolut verängstigt.
Es brennt, rufe ich ihnen zu. Feuer. Das Haus brennt, Sie müssen hier raus. Sie müssen sofort hier raus.
Und die kleine Dame nimmt ein undefinierbar graues Fellknäuel auf den Arm, so was wie ein Pudel oder so, und sagt: John Henry? Tu doch was, John Henry. Das Haus brennt.
In dem Moment fällt mein Blick auf den roten Kasten, den Feueralarm, gleich neben den Fahrstühlen. Ich eile den Gang hinunter, schlage das Sicherheitsglas ein, ziehe den Hebel nach unten und … nichts passiert.
Ich drehe mich zu den alten Leuten um, mittlerweile sind es sechs oder sieben von ihnen, und sage:
Machen Sie, dass Sie hier raus–
Da ist dieses schrille Wuup-wuup-wuup, als der Alarm schließlich losheult, und dann kommt endlich Leben in die Sache, Wuup-wuup-wuup, und die Leute strömen aus ihren Appartements in den Korridor, die Leute schreien, und jetzt dringt auch Rauch aus dem anderen Gebäude durch das schwarze Loch, und die Leute schnappen sich ihre Habseligkeiten, schlüpfen in Jacken und Mäntel und Umhänge, begeben sich ins Treppenhaus, und ich stopfe die Mossberg zurück in meine Reisetasche und laufe voraus. Und plötzlich ist da dieses stechende Druckgefühl, als hätte mir jemand eine Ohrfeige verpasst, und ich stolpere, falle, versuche wieder aufzustehen, und dann dröhnt das Geräusch der Explosion durch mich hindurch, und ich falle wieder hin, und als ich erneut auf die Beine komme, rauscht die Hitzewelle über mich hinweg. Und dann höre ich die Schreie, diese schrecklichen Schreie um mich herum, aber unterdessen bin ich am Ende des Korridors angekommen, trete die Tür unter dem Notausgangsschild ein und renne. Ich renne die Treppenstufen hinunter, höre, wie meine Füße über die Steintreppen poltern, ein entferntes Geräusch, hohl und dumpf, und als ich eine kurze Pause einlege, lese ich die Zahl Drei über der Tür, und ich höre gar nichts und bin nicht einmal sicher, ob das Klingeln nicht auch nur in meinen Ohren ist, und da ist nur noch dieses Wuup-wuup-wuup, aber das spielt im Moment keine Rolle, nichts spielt in diesem Moment eine Rolle, außer dass ich hier raus muss, raus, raus, raus. Die nächsten Treppenabsätze nehme ich langsamer. Leute mit fragendem Blick eilen die Treppen hinunter, wundern sich lautstark über das Wuup-wuup-wuup, und dann erschüttert die zweite Explosion unsere kleine Welt, und auf dem nächsten Absatz warte ich wieder einen Moment, alle laufen nur hinunter, niemand kommt herauf, und dann renne ich die Stufen auf dieser Etage hinab, vorbei an der Tür mit der Aufschrift LOBBY und weiter, den nächsten Absatz hinab, und weiter und immer so weiter, und dann bin ich an der Tür, die zur Tiefgarage hinausführt, und ich fange an, mir meine Krawatte zurechtzuziehen, und als ich an mir heruntersehe, wird mir klar, warum mich der Mann weiter oben so ungläubig angesehen hat, denn ich sehe diese grausige Version von einem Penner in Herrenklamotten voller Putzstaub und Blut und denke so bei mir:
Scheiß drauf.
Ich ziehe meine Pistole und betrete wieder die Garage, bin zurück im Untergrund. Ich laufe hinaus in diese fluoreszierende Schäbigkeit, als würde sie mir gehören, und suche nach meinem Nissan Sentra oder was immer ich hier unten geparkt haben könnte, nachdem ich meine Enkel zur Schule gebracht habe. Das Licht ist dürftig und ich halte nach einem Wärter Ausschau, finde aber keinen, und genau so mag ich es.
Das hier ist kein Parkplatz wie in der Vorstadt, sondern ein innerstädtischer Friedhof. Überall, links und rechts, stehen Autos, und die meisten davon sind reisemüde und verschlissen. Die Hälfte von ihnen sieht aus, als würden sie hier schon seit Jahren rumstehen. Keine große Auswahl. Ich stehe so da, klopfe mir den Staub aus meinem Mantel und von meiner Hose, versuche mich wieder auf die Reihe zu kriegen und überlege, ob ich den runtergewirtschafteten Vanagon nehmen sollte. Aber falls ich in die Verlegenheit kommen sollte, mir ein Stockcar-Rennen liefern zu müssen, würde mir der nichts nützen, also entschließe ich mich stattdessen für einen alten Buick Regal. Ich tausche die Nummernschilder mit einem Caddy, sieht gut aus, sieht richtig gut aus, und dann muss ich das Baby nur noch auf Touren bringen und nach Hause kommen.
Ich beuge mich hinunter und mache mich an dem Türschloss zu schaffen. Ramme die Klinge meines Taschenmessers in das Schloss und drehe es so lange hin und her, bis ich die Metallplatte im Inneren klicken höre. Dann sind da Schritte.
Und dann schießt mir irgend so ein Wichser in den Rücken.