DIE STADT DER LEBENDEN TOTEN

Sich eine Kugel einzufangen, ist keine große Sache. Besonders nicht bei denen, die man nicht kommen sieht. Die aus größerer Entfernung. Die, die einen im Rücken treffen. An solchen Orten wie Manhattan und Detroit und Dirty City passiert das den Menschen jeden Tag.
Das Schwierige daran ist, wieder aufzustehen.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so mit dem Gesicht am dreckigen Beton der Tiefgarage liege. Ich habe keine Ahnung, wieso niemand kommt, um nach mir zu sehen und mir in die Rippen zu treten. Warum mir niemand in den Hinterkopf schießt. Vielleicht hatten sie es eilig, oder vielleicht sehe ich auch schon tot genug aus.
Ich fühle mich aber nicht tot. Mein Leben zieht nicht an mir vorbei. Ich schwebe nicht hoch an die Decke, blicke hinunter und sehe mich selbst dort liegen. Es gibt kein helles Licht, auf das ich zuwandere, keinen Tunnel, an dessen Ende meine Mutter steht und mich mit den Händen zurückwinkt: Es ist noch nicht soweit, es ist noch nicht soweit. Kein Himmelstor, keine Engel und ganz sicher kein flüchtiger Blick aufs Paradies.
Stattdessen sehe ich etwas wirklich Merkwürdiges:
Da ist dieser Hund, dieser kleine Hund, und der Hund humpelt aus dem Schatten unter dem Buick Regal auf mich zu. Der Hund gehörte mir, als ich noch ein Kind war. Ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich diesen Hund besaß, und er war gerade mal einen Sommer lang bei mir. Er war dieser kleine, und ich meine wirklich kleine Wicht, wog alles in allem sicher nicht mehr als viereinhalb Kilo, halb Pekinese und halb irgendwas, mit einem Fell, das mein Opa immer einen Fleckenteppich nannte. Er hatte nur ein Auge, so war er auf die Welt gekommen. Und nicht viele Zähne. Dann wurde er von einem Auto angefahren, und sein Rücken wurde so schlimm verrenkt, dass er kaum noch laufen konnte, also humpelte er nur noch irgendwie herum. Abgesehen davon aber war er der beste Hund, den man sich als Junge wünschen konnte.
Sein Name war Lucky – klar, was auch sonst. Ich liebte das kleine Hündchen, und als er von uns ging, war das der schlimmste Tag meines Lebens. Was soll ich sagen, da wusste ich ja noch nicht, wie viel schlimmer alles noch werden würde.
Aber jetzt ist Lucky wieder da, seht euch das an, er kommt unter dem Buick hervorgelaufen, und da mein Gesicht immer noch auf dem Boden liegt, sieht er mich direkt an. Mit seinem einen Auge. Zuerst humpelt er zu mir und leckt mir die Nase. Dann setzt er sich irgendwie auf die Hinterbeine, legt seinen Kopf leicht schräg und sagt:
Du hast mich im Stich gelassen.
Es überrascht mich kein Stück, dass mein Hund, der seit vielleicht fünfunddreißig Jahren tot ist, sprechen kann und ich jedes Wort davon verstehe. Das Ganze macht absolut Sinn. Ich erkenne sogar seine Stimme wieder.
Es ist nur so, dass ich Mühe habe, ihm zu antworten.
Du hast mich im Stich gelassen , wiederholt er noch einmal.
Ich gebe mir Mühe, ich gebe mir wirklich Mühe, aber ich finde keine Worte und kann Lucky nicht sagen, dass er da falschliegt. Ich versuche es, aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich an diesem Tag in der Schule war. An dem Tag, an dem er starb. Dass ich beim Baseballtraining der Little League war und erst abends um sechs zu Hause war. Dass ich in die Küche kam und meine Mutter Hühnchen und Klöße kochte und mein Vater irgendwelche Rechnungen bezahlte, und nachdem sie mich lange genug ignoriert hatten, mein Großvater seine Nase aus der Tageszeitung nahm und mir erzählte, dass ein Bussard aus dem Himmel geflogen kam und Lucky mitgenommen hatte. Als ob ich tatsächlich glauben würde, dass das passiert sei.
Lucky leckt wieder über meine Nase. Sein Auge durchbohrt mich regelrecht. Und ich schwöre, es blinzelt nicht.
Ich möchte ihn auf die Stirn küssen. Ihm einen Hundekuchen geben. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht sprechen. Und dann beißt er in mein Gesicht, und ich kann spüren, wie die Haut unter meinem Auge aufplatzt, ich weine Blut, und er zwinkert mir zu und rennt davon, das Humpeln ist verschwunden, sein Rücken ist wieder gerade, und er tänzelt, Lucky tänzelt, und verschwindet wieder unter dem Buick in dem Schatten.
Das treibt mich an. Ich berühre die Wunde an meiner Wange und spüre etwas Warmes und Feuchtes. Dann stelle ich fest, dass ich nichts anderes mehr spüre, und bevor ich noch darüber nachgrübeln kann, ob ich vielleicht gelähmt bin, drücken mich meine Hände vom Boden ab.
Ich schaffe es, mich auf einen Ellenbogen zu stützen, als ich eine andere Stimme höre:
Das sieht gut aus, Burdon Lane. Sieht wirklich gut aus.
Zumindest glaube ich, dass die Stimme das gesagt hat. Auf meinem linken Ohr höre ich immer noch nur ein Freizeichen dank CK's Magnum.
Zuerst spucke ich den Kies von meiner Zunge, und dann spucke ich hinterher:
Fick dich.
Wer immer auf mich geschossen hat, hat drei Fehler begangen:
Er hat eine Spielzeugknarre benutzt, wahrscheinlich eine .22er.
Er hat mir in den Rücken geschossen.
Und er hat nur einmal auf mich geschossen.
Anstatt also eine Anzahlung auf ein sechs Fuß tiefes Schlafsofa zu leisten, habe ich einen guten Eindruck vom Geschmack des Straßenbelags bekommen, mein linker Arm ist so sehr eingeschlafen, dass er sich wie ein Nadelkissen anfühlt, ich hab eine Fleischwunde unter meinem Auge, und etwas unterhalb meines linken Schulterblatts fühlt es sich an, als hätte ich einen satten Schwung mit einem Vorschlaghammer abbekommen. Was immer mich getroffen hat, wird einen mordsmäßigen blauen Fleck verursachen, aber es wird mich nicht umbringen. Es sei denn, es gibt innere Blutungen. Ich sollte mich weiter auf solche fröhlichen Gedanken konzentrieren.
Ich trage eine kugelsichere Type IIA-Weste aus Kevlar. Deren Markenname lautet Second Chance – Zweite Chance. So wie es dieser Typ mit der großen Nase im Fernsehen immer sagt: Gehen Sie nicht ohne aus dem Haus.
Nun gibt es sowas wie eine kugelsichere Weste eigentlich nicht. Die Jungs von DuPont haben dieses Kevlar-Zeug ursprünglich für Reifen entwickelt und wussten lange Zeit nicht, wozu das noch gut sein könnte. Sie nennen das kugelabweisend, was bedeutet, dass es sich mit dem Kevlar-Zeug wie mit diesen Teppichfasern verhält, die sie herstellen; Sie wissen schon, es ist schmutzabweisend, und dann ein Zwinkern, ein wissendes Nicken, ein Wink mit dem Zaunpfahl, denn: Wenn sie Kinder haben oder einen Hund oder einen Besoffenen, dann wissen Sie, dass Ihr Teppich trotzdem dreckig werden wird.
Nun, wenn man eine Weste trägt, kann man trotzdem nass werden. Ist der Schuss oder die Munition nur gut genug, dann gehen Sie auf die Bretter, egal ob mit Weste oder ohne. Dabei bringen einen auch noch nicht einmal immer die Wunden um. Es ist der Schock, der zählt.
So eine Art von Schock wie der, den ich gerade habe, als ich sehe, wer da mit mir gesprochen hat, wer über mir steht, mit einer Glock, die wie meine aussieht, und damit auf meinen Kopf zielt, nämlich niemand anderes als der gelbe Nigger, mein neuer bester Kumpel Jinx.
Also sage ich das Erste, was mir in den Sinn kommt:
Wo warst du?
Er lächelt sein Wolfslächeln, zeigt nur wenig Zähne, und dann sagt er:
Du bist der, der am Boden liegt. Ich stelle hier die Fragen.
Ja, schon klar, antworte ich. Wenn dieser Typ mich tot sehen wollte – nun, dann wäre ich bereits tot. Also sage ich:
Okay. Frag.
Er beschließt, meine Vermutung zu bestätigen und nimmt die Waffe herunter. Seine Augen wandern nach oben.
Die sind tot, oder?
Alle von deinen Jungs, antworte ich. Ich versuche herauszufinden, wo das alles hinführen soll. Im Moment gibt es nur eine sichere Antwort, und die gebe ich ihm:
Vielleicht auch alle von meinen.
Vielleicht?, fragt er.
Ziemlich sicher.
Und du?
Ich hatte Glück.
Da sehe ich den kleinen Hund wieder. Glück. Lucky. Du hast mich im Stich gelassen , sagt Lucky. Im Stich gelassen .
So was Ähnliches wie Glück, sagt Jinx. Bist dem Tod von der Schippe gesprungen, du Held, und mir mitten ins Schussfeld.
Er richtet die Pistole wieder auf mein Gesicht. Herrgott, ich bin diesen Scheiß langsam leid.
Hoch mit dir. Und ins Auto.
Leichter gesagt als getan. Mein linker Arm hält immer noch ein Nickerchen, aber das Vorschlaghammer-Gefühl hat nachgelassen. Jetzt sind es eher scharfe Messer, die sich mir in den Rücken bohren und mir weiter oben ein zweites Arschloch aufreißen. Ich atme tief ein, und das tut weh. Kralle mich am Türgriff fest und das tut weh. Versuche mich hochzuziehen und das tut weh. Auf die Knie, okay. Auf die Knie–
Wow. Jemand spielt seine Spielchen mit dem Boden. Er kippt nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Wie auf einer verdammten Kreuzfahrt. Ich hebe die Hände, aber nur ein wenig, wegen dem Brummen in meinem Arm und den Schmerzen im Rücken. Taumle auf Jinx zu. Der packt meinen linken Arm, und dann lehne ich mich gegen ihn, schiebe seine Pistolenhand mit meinem ganzen Körpergewicht beiseite und verpasse ihm einen Schlag in die Magengrube. Ich trete nach oben aus, schramme aber an seinen Eiern vorbei, und mein Knie bohrt sich stattdessen in seine Hüfte, und er presst mir seinen Unterarm unter mein Kinn und stößt mich gegen den Wagen zurück, und das tut nicht mehr weh, denn über so einfache Dinge wie Schmerz bin ich mittlerweile hinaus, und ich kann nichts weiter tun als langsam an dem Auto auf meinen Hintern hinunterzurutschen.
Die Uhr tickt, mein Freund, sagt Jinx. Steh verdammt noch mal auf. Steh auf und klettere in den Kofferraum.
Also noch mal von vorn. Ich finde den Türgriff, benutze ihn als Hebel und brauche etwas Zeit, aber schließlich schaffe ich es auf die Füße und versuche mich zurechtzufinden.
Das Meer hat sich beruhigt. Meine Beine stehen etwas sicherer. Aber:
Ich werde nicht in den Kofferraum steigen, sage ich.
Wieder die Pistole.
Ich schüttele den Kopf. Damit er weiß, dass ich weiß, dass er sie nicht benutzen wird. Zumindest jetzt nicht und nicht hier.
Du willst hier raus?, fragt er.
Klar, sage ich.
Und dann sage ich: Okay, verstehe. Also steige ich in den Kofferraum.
Das mag nicht der klügste Schachzug sein, aber ich denke nicht, dass mir eine andere Wahl bleibt. Ich schaffe es, das erste Bein anzuheben und in den Kofferraum zu bugsieren, als er mir einen Stoß verpasst.
Hey–
Ich setze noch an, um ihm zu sagen, dass er ein Loch in die Haube des Kofferraums machen soll, oder in den Kotflügel oder irgendwo anders, damit ich etwas frische Luft bekomme, aber es geht nur Zack-Bumm-Danke-Nein, und dann bin ich im Kofferraum eines alten Buick Regal gefangen, der im Keller eines brennenden Gebäudes parkt, und ich habe plötzlich das Gefühl, dass das alles ist, was ich noch sehen werde, und ich denke bei mir: Tja, das Leben ist eben, was du draus machst.
Dann höre ich, wie der Motor mit einem Husten direkt aus dem Hals eines Kehlkopfkrebs-Patienten zum Leben erwacht. Alles klappert. Der Motor dreht und dreht, und irgendwann läuft er dann.
Als Nächstes atme ich Abgase, und meine Nebenhöhlen brennen. Der Buick fährt los, zuerst langsam, dann immer schneller, und ich bemerke eine Steigung und eine Kurve und dann noch eine Steigung, und dann wird die Luft besser, aber ich habe keine Ahnung für wie lange.
Dann halten wir an.
Ich höre Sirenen und Stimmen und noch mehr Sirenen, lausche und lausche, und für einen Moment höre ich überhaupt gar nichts, und dann höre ich Jinx' Stimme und noch jemand anderes. Dann wieder Jinx, dann wieder jemand anderes, und dann rollt der Wagen wieder an. Hält. Fährt an. Hält wieder. Fährt an. Und dann werden wir schneller und schneller, und dann weiß ich, dass Jinx es irgendwie fertiggebracht hat, den alten Buick Regal aus dem Hurrikane zu bugsieren. Wir haben es geschafft, wir sind raus, denn da sind Schlaglöcher und die kaputte Straße, Autohupen, der Gestank der Kanalisation und die Leute mit den traurigen Gesichtern.
Hey, New York. So wie Old Blue Eyes damals sang: My kind of town.
Obwohl, wenn ich genauer darüber nachdenke, sang er das eigentlich über Chicago.