RENDEZVOUS
Also arbeiten wir uns wie die Guerilla-Krieger durch die Bäume, halten unsere Köpfe unten, mein neuer Kumpel Jinx huscht hin und her, und wenn ich ihn so beobachte, ist klar, dass er schon beide Arten des Dschungels gesehen hat – den grauen und den grünen. Er bewegt sich wie eine Raubkatze. Und höchstwahrscheinlich kann er auch wie eine zupacken.
Er hält den Ruger-Revolver in der Hand und nach unten gerichtet, der Zeigefinger liegt nicht auf dem Abzug, sondern seitlich an der Waffe, und deutet den Lauf entlang. Definitiv ein Profi.
Ich hab mir die Tasche über die Schultern geworfen und die beiden Glocks in meinen Holstern geparkt. Jinx folgt mir nach, aber er hält ordentlich Abstand, bestimmt zehn Yards hinter mir. Dann folgt er meinem Beispiel und schlittert hinter einen Baumstamm in Deckung, als das Blattwerk um uns herum lichter wird. Er prüft seine Waffe und bringt sie schussbereit auf Schulterhöhe.
Bleib locker, Mann, sage ich zu ihm – und vielleicht auch zu mir selbst. Bleib einfach locker.
Ich deute mit dem Kopf geradeaus, nach vorn, wo wir das Lagerhaus sehen können, das erste in einer Reihe von niedrigen, zweigeschossigen Gebäuden, die der Vanegar Chemical Supply
gehören. Die Firma sagt mir nichts, wohl aber die Reihe von Fahrzeugen, die am anderen Ende des Lagerhauses neben einer steinernen Überführung parken. Ich hab zu meiner Zeit schon einige von den Wagen gefahren.
Ich erkläre Jinx, dass wir die Sache auf zweierlei Art hinter uns bringen können: Entweder wir tun es auf meine Art oder auf die falsche Art. Also bleib dicht bei mir. Und egal, was du tust, fang nicht an zu schießen, bevor ich es dir sage.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, arbeiten wir uns von der Baumgrenze zur nächstgelegenen Deckung vor, einer kleinen Gruppe von Büschen, die ungefähr so hoch wie ein ausgewachsener Mann sind. Ich sehe Jinx an, und er zuckt mit den Schultern, ohne sich zu rühren, also spähe ich aus der Deckung heraus. Ich schätze, dass etwa hundert Yards an Wiese zwischen uns und dem Gebäude liegen. Wir tragen Pistolen bei uns. Vielleicht können die das ja in den Filmen – Scheiße, Mann, in den Filmen können die alles machen – aber es ist ausgeschlossen, dass wir auf diese Distanz irgendwas anderes treffen als leere Luft.
Sieh nach den Fenstern, weise ich ihn an. Die Rückseite des Lagerhauses ist mit billigem Aluminium verkleidet, mit zwei Fenstern und einem Notausgang dazwischen. Wenn sich dort jemand befindet, wird man uns sehen, sobald wir aus unserer Deckung spurten; wenn nicht, dann ist das vielleicht unser Weg hinein. Das Sonnenlicht spiegelt sich in den Fensterscheiben, also bleibt uns nur zu raten, ob jemand zu Hause ist.
Mein Gespür sagt Nein, und Jinx scheint das Gleiche zu denken, denn als ich hinter dem Busch hervortrete, spaziert er aus der Baumgrenze heraus, als würde er sich einem Picknick anschließen wollen. Nichts rührt sich. Über uns ist nur Sonnenschein und ein blauer Himmel, und ich denke, wir sollten uns an der rechten Seite des Lagerhauses vorarbeiten und dabei den Müllcontainer als Deckung benutzen, aber gleichzeitig denke ich bei mir, dass es ruhig ist. Genau wie es in den Filmen immer heißt: zu ruhig.
Gerade als ich Jinx zu mir heranwinken will, höre ich das Geräusch von Autoreifen auf Asphalt, und ich haste auf das Lagerhaus zu, aber ich werde es nicht rechtzeitig schaffen, also lasse ich mich ins Gras fallen. Jinx ist jünger, und er ist schneller, und er legt noch einen Zahn zu und drückt sich genau in dem Moment flach gegen die Aluminiumverkleidung des Lagerhauses, als ein Wagen an dem Müllcontainer vorbeirollt und in Sichtweite kommt, und es ist ein Crown Vic, normale Lackierung, aber trotzdem so offensichtlich wie abgelaufenes Fleisch: Es stinkt zum Himmel. Cops.
Ich lege mir die Finger an die Lippen, und Jinx nickt und bleibt, wo er ist. Und als ich wieder hinsehe, ist der Crown Vic an dem Müllcontainer vorbeigefahren und verschwunden.
Ich laufe zu dem Container, lehne mich gegen das warme Metall und sage zu Jinx: Da bin ich. Sieh mal nach den Reifen.
Er lehnt sich ans hintere Ende des Lagerhauses, späht hinaus und sagt: Gürtelreifen.
Sind es Weißwandreifen?
So weiß wie Schnee, sagt er.
Dann sind es keine von hier. State Troopers, erkläre ich ihm. Oder Feds. Konntest du Frisuren erkennen?
Nicht zu kurz, aber auch nicht zu lang, sagt er.
Jede Wette, dass das Feds waren, sage ich zu ihm. Und dann zu mir selbst: Was bedeutet, dass hier etwas ganz gewaltig stinkt.
Verdammt, sagt er.
Verdammt richtig. Dafür braucht man keine Hellseher-Hotline. Die suchen nach uns. Oder vielleicht sollte ich sagen nach mir. Oder–
Ich will gar nicht weiter darüber nachdenken. Ich weiß nur allzu gut, wie das ausgeht.
Wir sollten sehen, dass wir unsere Ärsche hier wegbewegen, sagt Jinx.
Stimmt.
Und zwar jetzt.
Nein, sage ich. Nicht jetzt. Noch nicht. Im Moment warten wir einfach nur. Irgendwas ist hier faul.
Er will etwas sagen, behält es aber für sich, und ich schaue hinter dem Müllcontainer hervor, und wir beide sehen dem Bullenauto hinterher, das nördlich die Zubringerstraße entlangfährt und beschleunigt, und wir warten und warten, und dann ist nur noch der Staub übrig und der Wagen verschwunden.
Ich laufe hinaus zu der Zubringerstraße, sehe mir die Reifenspuren an, die rechts an dem Parkplatz vorbeiführen, und versuche, die Sache zu durchdenken. Wir haben Cops an unserem Treffpunkt. Vielleicht haben es CK und seine Jungs also nicht aus dem Gebäude geschafft. Vielleicht wurde jemand erwischt. Oder umgebracht. Oder … vielleicht war CK weder dumm noch arrogant, als er mir diesen Ort nannte, vielleicht erwähnte er ihn, weil es eine Falle war.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Aber das erklärt nicht einen Wagen mit zwei Cops oder was passieren wird, wenn ich der Zubringerstraße zu dem Parkplatz folgen werde. Wenn ich mich umsehe und nichts sehe, die Art von Nichts, die einem alles sagt.
Sie sind nicht hier, Burdon Lane.
Nein, antworte ich ihm.
Was ich aber sehe, ist etwas, das ich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen habe. Seit vielen, vielen Jahren schon nicht mehr, aber es sind nie genug Jahre, um so etwas zu vergessen. Das ist nichts, was man so schnell vergisst, es sei denn, man hat Glück und fängt sich eine Kopfverletzung ein.
Ich stehe inmitten eines außerirdischen Fußabdruckes, eines Stückes Erde, das aus umgeknicktem und platt gedrücktem Gras und verstreuten Kieselsteinen besteht, einem seltsamen Kreis, der von oben vom Himmel heruntergedrückt wurde, und bei dem Anblick dreht es mir den Magen um.
Sie waren hier, sage ich zu ihm, und vor meinem geistigen Auge sehe ich Renny, ja, ich sehe Renny Two Hand, und er parkt das Oldsmobile auf dem Parkplatz am Rand des Lagerhauses, wo eine Flotte bunt durcheinandergewürfelter Autos auf ihre Fahrt wartet oder darauf, auseinandergenommen zu werden. Er fuhr das Oldsmobile vom Warwick Hotel hier runter, denn er ist ein guter Soldat, und deshalb hat er genau das getan, was man von ihm verlangte, er parkt das Oldsmobile in der Reihe der vergessenen Fahrzeuge, und dort laufe ich gerade hin. Und da steht er, Herr im Himmel, da steht der Wagen.
Da ist niemand, ruft mir Jinx hinterher, aber da liegt er falsch. Hier ist jemand, oh ja, und ob hier jemand ist. Denn da steht das Oldsmobile, der dritte Wagen in einer Reihe von Autos, die man sieht und zugleich nicht sieht, die neben dir auf dem Parkplatz vor einem Einkaufszentrum stehen, unsichtbare Autos für unsichtbare Menschen, und Renny parkt den Wagen dort ein, und er wartet, wartet auf mich, und er sieht auf die Uhr, als es langsam gegen eins zugeht, und er wartet dort. Auf mich. Und dann passiert es, kurz vor eins, denn er ist ein guter Soldat, er hätte nicht bis weit nach eins gewartet, und das ist der Moment, wo der Helikopter aus dem Himmel herunterschwebt, das ist der Moment, wo sich Renny Two Hand hinter dem Lenkrad aufrichtet und die Umrisse beobachtet, die aus der Sonne treten, und dieses Lächeln tritt in sein Gesicht, dieses eine Lächeln, genau dieses. Renny, will ich am liebsten laut ausrufen, als Jinx auch sieht, was ich sehe, und das ist, als kleine Kieselsteine und Staub auf die Motorhaube und gegen die Windschutzscheibe des Oldsmobile prasseln. Und über das wilde Dröhnen der Rotorblätter hinweg hört man ein trockenes Husten, und dann zuckt Renny Two Hand in seinem Sitz zurück, und ich sehe dabei zu, sehe es verdammt noch mal vor mir, die Fahrertür ist offen, und ich kann den Fahrersitz sehen und sehe es vor mir, durch die durchlöcherte Windschutzscheibe, das Graffiti aus Blut, das wie mit Sprühfarbe verteilte Alphabet des Todes, und Renny versucht aus dem Wagen zu rutschen, aber er fällt auf die Knie; seine rechte Hand hinterlässt rote Abdrücke, genau da, auf dem Asphalt. Er nimmt den Blick von den Männern, die mit Kanonen auf ihn zukommen. Nein, sagt er. Die Farbe weicht aus seinem Gesicht und läuft auf den Asphalt und in den Dreck. Nein. Er verzieht den Mund, und er ruft meinen Namen, und dann steht er auf und dann–
Ich knalle die Fahrertür zu, und was von der Scheibe noch übrig ist, splittert heraus. Das Oldsmobile hat so viele Löcher wie ein Schweizer Käse, und der Asphalt daneben ist noch feucht, und die feuchte Spur führt zu einem Maschendrahtzaun und durch ein Loch in dem Zaun und dann den Abhang der Überführung hinunter und in eine flache Rinne. Ich folge dem Blut, bis hin zu dem Ort, an dem er sich hingelegt hat und gestorben ist.
Für eine Weile stehe ich da und schaue auf ihn hinunter. Renny Two Hand. Reynold James. Dann sagt Jinx hinter mir:
Vielleicht glaube ich dir jetzt. Vielleicht hast du niemanden umgebracht.
Ich habe Gideon Parks nicht umgebracht, erkläre ich ihm. Aber ich habe zwei Typen umgelegt. Von meinen Leuten. Zumindest waren das mal meine Leute.
Er wirkt nicht sonderlich überrascht. Nur traurig. Auf seltsame Art traurig.
Ich sehe mir über die Schulter, nach Osten, zum Ozean. Da draußen ist noch etwas, nicht wahr? Irgendetwas jenseits der Wahrnehmung. Etwas, das mir erklären könnte, was das alles bedeutet.
Jinx sagt, was ich denke:
Wir müssen die Biege machen. Wir müssen von hier verschwinden.
Ja, sage ich. Aber ich kann ihn nicht so zurücklassen.
Du kannst nichts mehr für ihn tun, Mann. Er ist tot.
Ich weiß, dass er tot ist. Aber ich kann ihn nicht einfach so da liegen lassen. Sie dürfen ihn nicht … so finden.
Wie denn? Die Uhr tickt, Burdon Lane!
Die Uhr tickt. Aber Zeit ist nicht alles auf der Welt. Ich stehe in der Abflussrinne, und der Staub oder meine Allergien machen sich bemerkbar, jedenfalls brennt es mir in den Augen, und dann fällt mir etwas Seltsames ein. Ich erinnere mich, wie Renny heute Morgen mit mir sprach, irgendwas davon erzählte, Pizza zu bestellen. Und ich erinnere mich, wie er noch etwas anderes sagte, etwas über–
Wie ist er so weit gekommen?, fragt Jinx.
Sie haben ihn gelassen. Hier. Und dann zeige ich es ihm.
Die ersten Schüsse trafen ihn in der Schulter und an den Armen, nahmen ihn aus dem Rennen, aber brachten ihn nicht sofort um. Doch er konnte nicht mehr schießen. Das Einzige, was er noch tun konnte, war kriechen.
Wahrscheinlich wollten sie noch mit ihm reden, erkläre ich, während ich mich frage, was er ihnen denn bestenfalls hätte erzählen können.
Ich deute auf seine Brust. Als sie fertig waren, sich mit ihm zu unterhalten, hat ihm jemand zwei Kugeln verpasst, genau ins Herz. Sieht so aus, als wäre es jemand mit einer großen Kanone gewesen, wie einer .44er Magnum.
Renny sieht friedlich aus. Seine Augen sind geschlossen, aber sanft, nicht zusammengepresst. So als würde er schlafen. Aber nichts wird Renny jemals wieder aufwecken. Ich versuche, die Wunden und das Blut auszublenden. Starre nur auf das Gesicht und tue, was getan werden muss.
Ich ziehe das Handy aus seinem Gürtel und hake es an meinem fest. Rennys Jackett ist unter ihm zusammengeschoben. Ich ziehe es gerade und greife dabei in das Loch in seinem Rücken. Eine einzige feuchte Schweinerei. Er trägt keine Weste, aber das hätte auch keinen Unterschied gemacht. Ich finde das Holster und darin die verfluchte Colt Python. Sie ist kalt. Er hatte gar nicht erst die Chance, sie abzufeuern. Überhaupt hat er in seinem Leben nie auf jemand anderen geschossen, soweit ich weiß.
Aber jemand hat ganz sicher auf ihn gefeuert. Zwei Jemande, so wie es aussieht. Renny musste acht Treffer einstecken. Und das noch vor der .44er Magnum.
Ich nehme seine rechte Hand, biege seine Finger zurück, um ihm den Pistolengriff hineinlegen zu können, und dabei fällt ihm etwas aus seiner Handfläche. Eine Patrone. Eine glänzende Neunmillimeter. Ich frage mich, was Renny in dem Moment, als er starb, mit einer Neunmillimeter-Patrone in seiner Hand wollte. Seine Python ist eine .357er. Ich meine, der Kerl hat immer alles Mögliche angefangen, ohne es zu Ende zu bringen. Aber noch mehr beschäftigt mich die Frage, was passieren wird, wenn ich nicht in die Gänge komme und mich hier vom Acker mache. Also stecke ich mir die Patrone in die Tasche meines Anzugs und mache mich wieder an die Arbeit.
Ich drücke ihm die Python in seine rechte Hand und lege seine Finger um den Griff. Stecke seinen Zeigefinger durch den Abzugsbügel. Wenigstens hat er es auf die Art noch zum Killer gebracht.
Ich wische mir meine Hände an seinem Anzug ab und versuche, ihn so zurückzulassen, als ich über mir Jinx' Stimme höre:
Soll ich noch ein paar Worte für ihn sagen?
Nein, sage ich. Das geht dich nichts an.
Bullshit, sagt er. Das hier geht jeden was an.
Ich sehe hinunter auf Renny Two Hand, der in dieser Abflussrinne liegt. Ich sehe zum letzten Mal zu ihm hinab, senke den Kopf wie ein Priester und sage die einzigen Worte, die nötig sind:
Sie sind tot, Renny.
Jeder Einzelne von ihnen ist schon so gut wie tot.