ZUHAUSE
Über den Fluss und durch die Wälder, aber am Ende dieser Straße liegt nicht Großmutters Haus, sondern nur ein zweigeschossiger Bungalow in einer der unbedeutenderen Gegenden von Alexandria. Wir gehen nach Hause.
Jinx gefällt die Idee nicht, aber das ist sein Problem. Ich muss das tun, ich muss zu Fiona, und wenn Doctor D das will, was er will, dann muss Jinx das eben mit mir durchziehen.
Hier geht es um Liebe, erkläre ich Jinx. Unnötig zu erwähnen, dass es auch um Leichen geht, die man in den Kofferraum diverser Autos gestopft hat. Leichen ohne Kopf. Oder um viele andere großartige Dinge, die ich erlebt habe.
Hier geht's nur darum, ins Gras zu beißen, sagt Jinx. Das glaube ich nicht, und selbst wenn, fange ich langsam an, wie Doctor D zu denken: Es ist mir egal.
Wir reiten aus Dirty City in einem weniger verdächtigen Sedan des Doctors hinaus, einem angestaubten Saturn, und dieses Mal sitze ich am Steuer. Ein mordsmäßiger Stau blockiert die I-295, aber wir überqueren die Wilson Bridge und fahren nördlich auf der Telegraph Road, und damit hat es sich auch schon. Der Potomac ist wie eine große Trennlinie zwischen Chaos und Ruhe. Auf dieser Seite ist der Himmel klar und blau, und man kann die Sonne sehen, wie sie langsam über Alexandria verschwindet, dort, wo alles angefangen hat und wo es ganz sicher enden wird.
Ich fahre in mein Viertel und die Querstraßen ab, jeweils einmal in alle Richtungen. Nichts zu sehen, also fahre ich zum örtlichen 7-Eleven
-Supermarkt und rufe Diamond Cab an. Dann fahre ich wieder durch die Nebenstraßen, biege zwei Querstraßen nach meinem Block links ab und fahre gemächlich die Straße entlang. Nichts rührt sich. Also parke ich den Wagen und wir laufen zu Fuß zwischen den Häusern hindurch. Wieder einmal geht die gute alte Sonne an einem vorstädtischen Sonntag wie diesem unter, und eine Menge Leute kleben sicher bereits vor ihren Fernsehgeräten und schauen zu, wie Gideon Parks stirbt, immer und immer wieder.
Wir überqueren die nächste Straße und den nächsten Vorgarten, umrunden einen Maschendrahtzaun, und dann sehe ich die Mülltonnen hinter meinem Haus. Unserem Haus. Unser Zuhause.
Die Rollläden sind unten, die Lichter aus. Fionas CRX parkt in der Auffahrt. Ich kann das silberne Heck sehen. Ein anderer Wagen parkt am Straßenrand, und den kenne ich nicht. Er ist blau und langweilig. Vielleicht gehört er Trey Costa. Aber wenn ich Trey wäre und in diesem Schlamassel säße, würde ich nicht hier parken. Also ist es vielleicht nur ein Freund oder ein Nachbar. Oder vielleicht doch jemand anderes.
Da kommt das Taxi. Gelb und schwarz, mit dem roten Diamanten auf der Tür. Das Taxi wird langsamer, langsamer und hält schließlich vor meinem Haus.
Nichts tut sich.
Wir warten, und das Taxi wartet ebenfalls, für mehrere Minuten. Dann drückt der Taxifahrer auf die Hupe.
Nichts passiert.
Das Taxi fährt davon. Jinx will sich in Bewegung setzen, aber ich sage zu ihm: Warte noch. Also warten wir noch eine Weile, und der Taxifahrer, der einmal ums Haus gefahren ist, rollt wieder vor die Einfahrt. Das Ganze ist wie ein Spiel. Ringelreihen. Jemand hat mir mal erzählt, dass es da ursprünglich um den Tod geht. Von daher passt das ja ganz gut.
Wir warten, und der Taxifahrer wartet ebenfalls.
Nichts rührt sich.
Dann steigt der Typ aus seinem Taxi, halleluja, und läuft zur Vordertür.
Wir können nicht sehen, was passiert, aber wir hören ihn klopfen und dann noch einmal. Dann läuft er zu seinem Taxi zurück. Er schüttelt den Kopf, steigt ein, und nachdem er eine Weile an seinem Funkgerät gekaut hat, fährt er weg.
Demnach sieht es also entweder sehr gut oder ziemlich schlecht für uns aus, und wie gewöhnlich rechne ich eher mit dem Schlimmsten. Wahrscheinlich lauern da draußen auf den Dächern schon ein paar Typen auf uns, mit langen Gewehren und Nachtsichtgeräten, und warten nur darauf, uns die Rübe wie Luftballons wegzuknallen, sobald wir ins Freie treten.
Aber es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, also–
Ich gehe, flüstert mir Jinx ins Ohr.
Ich komme nicht dazu, es ihm auszureden.
Mit mir rechnet keiner, sagt er. Ich seh mich mal um. Er deutet zur anderen Seite, dorthin, wo sich das Haus von diesem Thomas-O'Toole-Typen anschließt, das Haus daneben. Dann, sagt er, machen wir unseren Zug.
Okay, antworte ich. Aber–
Ich weiß schon, sagt er. Locker bleiben.
Dann ist er verschwunden, wird eins mit den Schatten der hohen Büsche. Kurz erhasche ich noch einen Blick auf ihn, eine vage Ahnung in dem schwindenden Sonnenlicht, als er aus seiner Deckung bricht und um die Ecke des Hauses huscht. Und dann ist er wieder verschwunden. Und bleibt es auch.
Ich sehe auf meine Uhr, sehe wieder auf meine Uhr, und nachdem ich lange genug zugesehen habe, wie die Minuten verstreichen, halte ich die Warterei nicht mehr aus. Also ziehe ich mich zu dem Maschendrahtzaun zurück und denke mir: Was soll's, warum mache ich nicht einfach einen kleinen Spaziergang auf dem Gehweg, einen Spaziergang die Straße hinunter, meine Straße hinunter? Also laufe ich zwei Vorgärten zurück und dann bin ich auf der Straße und laufe die Straße hinunter, laufe meine Straße hinunter, und alles ist, wie es sein sollte, bis auf den Wagen am Bordstein eben, und ich laufe weiter, bis ich an dem Haus von Thomas O'Toole ankomme, aber Jinx ist nicht zu sehen, also gehe ich hinters Haus und von da in unseren Garten und hoffe, dass O'Tooles Hund nicht gerade draußen herumrennt. Ich ziehe eine von meinen Glocks hervor, presse sie gegen meinen Oberschenkel und bewege mich hübsch langsam, trete durch die Büsche und in das Blumenbeet, vorsichtig, oh, tut mir leid wegen den Narzissen, Fiona, und wenig später werfe ich einen Blick durchs Küchenfenster.
Nichts zu sehen.
Also weiter am Haus entlang, zum nächsten Fenster, das zum Esszimmer, und es ist schon ein seltsames Gefühl, so im Dunkeln um das eigene Haus herumzuschleichen, nach Ärger Ausschau zu halten und Angst vor dem zu haben, was man vielleicht vorfinden wird, und die ganze Zeit über höre ich Jinx' Stimme, höre, wie dieser eiskalte Killer ruft: Wo ist ihr Kopf, Mann? Wo ist ihr Kopf?
Nichts zu sehen. Aber dann ist da doch etwas. Ein Schatten ragt aus dem Wohnzimmer ins Esszimmer. Jemand ist im Haus, jemand bewegt sich. Wenn auch nur ganz leicht. Ich mustere den Schatten genau, versuche, die Kontur auszumachen, und es ist der Schatten von jemandem, der sitzt. Jinx. Jinx sitzt da.
Ich ducke mich unter dem Wohnzimmerfenster vorbei und bewege mich weiter zum nächsten Fenster, das Wohnzimmer, und werfe einen schnellen Blick hinein, und mehr braucht es nicht. Ich trete aus dem Blumenbeet und auf die Wiese, gehe zurück zur Hintertür, ziehe die Schuhe aus, stecke den Schlüssel langsam ins Schloss und schiebe ganz vorsichtig die Tür auf, und dann bin ich in der Küche und durch den Flur und hinter ihnen.
Cops.
Keine Bewegung, sage ich. Keinen Mucks. Es wäre auch keine schlechte Idee, für ein paar Minuten mit dem Atmen aufzuhören.
Alexandria Police Department. Zwei von ihnen. Sie tragen Straßenuniformen, diese stahlgrauen Hemden, und sind ein Musterbeispiel für berufliche Chancengleichheit. Zuerst hätten wir da einen asiatischen Cop – Chinese, Japaner, Koreaner, was auch immer, und dann eine Kampflesbe, komplett mit Jungenhaarschnitt und allem Drum und Dran.
Ich hab hier 'ne Glock Neunmillimeter, sage ich, mit panzerbrechender Munition geladen. Auf euren Rücken gerichtet. Die geht durch eure Körperpanzerung wie durch Butter, Freunde. Also bleibt, wo ihr seid, und macht keine Mätzchen, dann verspreche ich euch, dass alles gut werden wird.
Die Bullen haben noch nicht mal ihre Dienstwaffen auf Jinx gerichtet, und wie zum Teufel sie ihn dann geschnappt haben, ist mir schleierhaft. Er sitzt in der für ihn typischen stoischen Gelassenheit auf der Couch und sieht zu den Cops, als wären es langweilige Verwandte von ihm, die nach dem Thanksgiving-Essen einfach nicht nach Hause gehen wollten.
Jetzt bleiben wir ganz locker, sage ich. Einfach ganz locker bleiben. Ich verspreche euch jetzt etwas. Niemand wird verletzt werden. Alles wird gut. Das ist ein Versprechen, okay? Aber zuerst müsst ihr meinem Freund da auf der Couch eure Waffen geben. Mit der linken Hand. Mit dem Kolben nach vorn. Und das Ganze schön langsam.
Du zuerst, Kumpel.
Die Cops sind clever. Sie geben ihre Waffen ab.
Okay. Und jetzt gebt ihm eure Funkgeräte.
Sie überreichen Jinx auch ihre Walkie-Talkies. Ich nicke ihm zu, und er lässt sie auf den Boden fallen und zertritt beide unter seinen schweren Stiefeln.
Ich gehe näher an die beiden heran, angele die Handschellen aus dem Gürtel des männlichen Cops, gehe in die Hocke und taste kurz seine Knöchel ab. Keine Reserve-Waffen. Dann stehe ich wieder aufrecht und das Atmen fällt mir schon wesentlich leichter.
Ich halte die Glock weiter auf die beiden gerichtet und laufe in einem großen Bogen um sie herum und zu Jinx hinüber.
Okay. Jetzt werden wir Folgendes tun: Mein Freund hier wird jetzt diese Handschellen nehmen–
Ich werfe sie zu Jinx.
Und er wird–
In dem Moment schleicht sich diese Stimme aus der Dunkelheit und tippt mir auf die Schulter:
Sehr gut, Mr. Lane. Wirklich sehr gut.
Ich reiße die Stehlampe herum. Licht flackert auf, der Schatten hastet davon, und dann sitzt da dieser Typ im Lehnsessel.
Mein Haus. Meine gemütliche Ecke. Mein Lehnsessel.
Der Mann sieht aus, als wäre er direkt vom Mount Rushmore heruntergestiegen. Graues Haar, graues Gesicht, grauer Anzug. Ein Monument. Genauso gut hätte er sich auch gleich das Wort Bundesagent
in die Stirn meißeln lassen können.
Jinx hat die beiden Cops im Visier. Ich schalte die Deckenlampe ein, und es wird heller, und ich sehe mehr von dem gleichen Bild. Dieser Typ könnte nicht deutlicher für die Regierung arbeiten, wenn er auf einem Dollarschein abgebildet wäre.
Hey, frage ich den Mount-Rushmore-Typen. Wo ist meine–
Und beinahe hätte ich meine Frau
gesagt, wirklich. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Also sage ich: Mein Mädchen? Wo ist Fiona?
Sie ist hier, sagt der Mount-Rushmore-Typ.
Geht es ihr gut?, frage ich.
Ihr geht's gut, antwortet der Mount-Rushmore-Typ.
Also, wo ist sie? Ich will sie sehen. Ich muss sie sehen.
Ganz in der Nähe, sagt der Mount-Rushmore-Typ.
Ich bin aus dem Zimmer und sehe im Schlafzimmer nach, und dann bin ich aus dem Schlafzimmer und sehe ins andere Schlafzimmer, und da ist sie auch nicht, viele Möglichkeiten gibt es nicht mehr, ich checke noch das Badezimmer, und dann wäre nur noch der Keller übrig, also gehe ich zurück zu dem Mount-Rushmore-Typen, und er hat dieses Grinsen im Gesicht, das ich ihm am liebsten aus der Visage geprügelt hätte, und ich drehe mich zu Jinx und den Cops und sehe Jinx an und sehe den Schlitzaugen-Cop an und sehe den Lesben-Cop an, und dann sage ich zu Jinx:
Oh, Scheiße.
Dann sehe ich noch mal zu der Bullenlesbe. Gehe noch mal zu ihr herüber.
Ich schlage ihr den Hut vom Kopf, schaue mir das kurz geschnittene Haar an, die kühlen Augen, die schmalen Lippen, den Körper, der durch die Uniform und die Weste vierschrötiger wirkt, schaue auf die Marke, die verdammte Marke, und natürlich ist die Bullenlesbe Fiona.
Was soll ich sagen?
Schöner Haarschnitt, Schatz, sage ich. Irgendwie keck. Nennen das die Mädels so, drüben in dem Salon, in dem du arbeitest, aber eigentlich nicht arbeitest? Professionell, ja, aber … keck. Obwohl ich gestehen muss, Fiona … mit langen Haaren hast du mir besser gefallen.
Ich beuge mich näher an die Dienstmarke heran, um den Namen oben auf der Plakette zu lesen, aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht.
Verdammt, Fiona. Heilige verdammte Mutter Gottes.
Und bevor ich noch weitere brillante Entdeckungen machen kann, bricht der Mount-Rushmore-Typ sein dramatisches Schweigen und sagt:
Sie haben uns eine ganz ansehnliche Vita zusammenkommen lassen, Mr. Lane. Wir haben ja schon ein paar nette Anekdoten über Sie gehört, aber … das ist in der Tat beeindruckend. Zusätzlich zu dem Umstand, dass Sie gegen beinahe jedes Bundesgesetz zum Thema Waffen, Munition und Ausfuhrkontrolle verstoßen haben, ganz zu schweigen von diversen Gesetzen in verschiedenen Bundesstaaten, die Sie in den letzten Jahren beehrt haben, haben wir jetzt noch organisierte Kriminalität, konspiratives Verhalten und Mord. Und dann, sagt der Mount-Rushmore-Typ und deutet mit einem Kopfnicken auf Jinx, ist da natürlich noch Ihre … Nähe … zu Attentätern.
Er kräuselt ganz leicht die Lippen, faltet die Hände zeltförmig unter seinem Kinn, die Pose eines nachdenklichen Mannes, und ich habe wirklich keine Zeit für diese Scheiße.
Was geht Sie das an, Kumpel?
Nein, Mr. Lane. Sie stellen hier die falsche Frage. Die Frage lautet: Was bedeutet das alles für Sie
? Und die Antwort, Mr. Lane, liegt so ziemlich auf der Hand, wie ich finde. Wenn wir
Sie schnappen, lautet die Antwort lebenslänglich. Aber wenn die
Sie schnappen?
Er breitet die Arme aus und stellt eine Geste zur Schau, die wohl überaus großherzig wirken soll.
Ich denke, wir beide verstehen die Situation hier, Mr. Lane. Und unter diesen Umständen – tja, ich denke, dieser eine Game-Show-Moderator hat es am treffendsten formuliert, als er sagte: Let's make a deal.
Vor der Pointe breitet sich auf seinem grauen Gesicht noch ein graues Lächeln aus.
Also, was sagen Sie?
Was ich darauf zu sagen habe? Ich sage zu ihm:
Ich habe zwei Worte für Sie: Fick
und dich
.
Das lässt seine Hände in seinen Schoß und ihn selbst in den Sessel zurücksinken.
Burdon.
Das ist Fiona. Der Cop mit dem Lesbenhaarschnitt, meine ich. Wie immer sie heißen mag. Ich werde sie weiterhin Fiona nennen müssen, sonst verliere ich ganz sicher den Verstand.
Burdon, sagt sie. Wieso ist das schwer? Trey Costa ist in Sicherheit. Wir haben ihn mit einer lächerlichen Anklage wegen Waffenbesitzes hochgenommen und nach Richmond geschickt. Damit ist er aus der Schusslinie. Sicher. Das Gleiche können wir auch für dich tun.
Ich kann sie nicht einmal ansehen. Der Mount-Rushmore-Typ und ich haben so eine Art Böser-Blick-Duell. Vielleicht denkt er, dass ich einknicke, die Augen aufreiße, anfange zu schwitzen oder so. Aber das kann er vergessen, denn er wird das Spiel verlieren.
Verdammt noch mal, Burdon, sagt sie. Wir denken, wir wissen, was da oben passiert ist. Du warst dabei. Du musst es uns verraten. Wir wollen diese Leute drankriegen.
Nein, das wollt ihr nicht, sage ich. Ihr wollt diese Leute nicht erwischen. Was ihr wollt, ist ein bisschen Recht und ein bisschen Gesetz. Ihr wollt steife Kragen. Ihr wollt Anklagepunkte. Ihr wollt Prozessabsprachen. Ihr wollt ein Geschworenengericht. Ihr wollt Verurteilungen. Ihr wollt Haftstrafen. Ihr wollt jede Menge Pressekonferenzen. Und dann wollt ihr ein größeres Budget. Das ist es, was ihr wollt.
Mr. Lane. Es ist wieder der Mount-Rushmore-Typ. Auch auf die Gefahr hin, mich etwas melodramatisch anzuhören, sagt er, sollte ich Ihnen verraten, dass diese Angelegenheit nicht unter den Teppich gekehrt wird. Wir hatten einen Informanten eingeschleust. Leider Gottes hat er uns nicht viel genützt, aber–
Genau das ist das Problem mit euch Anzugträgern, brüllt Jinx quer durch den Raum. Aber was wusste er? Was haben Sie ihm verraten? Was wussten Sie
denn? Verdammt, sagt er. Und dann zu mir.
Sag es ihnen, fordert mich Jinx auf. Komm schon, sag es ihnen, Mann.
Aber ich sage kein Sterbenswort.
Der Mount-Rushmore-Typ tut so, als wäre Jinx gar nicht anwesend. Tut so, als wäre das hier ein Treffen zwischen lauter Anzugträgern, die an einem Konferenztisch aus poliertem Eichenholz sitzen, in einem Hochhaus, mit einem Bild des Präsidenten an der Wand und der Flagge, die draußen im Wind weht.
Er räuspert sich und bildet mit seinen Händen wieder dieses Zelt.
Mr. Lane. Wir sind autorisiert, Ihnen Immunität zu verleihen. Volle Immunität. Absolute Immunität. Landesweit.
Und Schutz, ergänzt Fiona.
Der Mount-Rushmore-Typ schließt die Augen, als müsse er seine Gedanken genau abwägen, bevor er sagt:
Und Schutz. WITSEC. Zeugenschutzprogramm. Wohnortverlagerung, neue Identität, das ganze Programm.
Ich sehe meinen Kumpel Jinx an. Ich sehe Mount Rushmore an. Und schließlich sehe ich Fiona an.
Fick dich, sage ich zu ihr, aber ich schätze, das habe ich ja bereits. Also sage ich noch: Ich werd nicht reden. Vielleicht bin ich derjenige. Vielleicht bin ich der Letzte. Aber ich werde nicht reden.
Scheiße, Mann. Jinx ist kurz davor, einen Anfall zu kriegen. Das ist unser Weg raus aus der Sache. Nicht nur für dich und mich, sondern auch für meine Crew.
Würdest du einfach die Schnauze halten? Weißt du, wer das ist?
Ich deute mit der Pistole auf Fiona.
Hast du eine Ahnung, wer das ist? Ich werd's dir verraten, Mann. Das ist die Frau, die seit den letzten vier Monaten mit mir zusammenlebt. Das ist die Frau, die seit den letzten vier Monaten mit mir schläft. Verstehst du, was ich sage?
Ein kleines boshaftes Lächeln versucht sich in mein Gesicht zu schleichen.
Ich soll einen Handel abschließen … mit denen?
Meine Brust schmerzt. Am liebsten würde ich den Abzug drücken. Ich will es, ich muss es.
Schließlich sage ich zu ihm: Ich habe bereits einen Deal gemacht.
Ich will ihm meinen Deal zeigen. Ich will ihm mein Zuhause zeigen, nicht einfach nur mein Haus, mein Zuhause, von vor drei Tagen. Ich will ihm Fiona und mich zeigen, mich und Fiona, ich will ihm zeigen, was einmal war und was nie wieder sein wird, und mir fällt nichts anderes ein als:
Ich habe meinen Deal gemacht. Und das habe ich dafür bekommen. Cops in meinem Haus.
Mr. Lane–
Wieder der Mount-Rushmore-Typ. Ich richte die Pistole auf ihn. Aber ich sehe ihn nicht an. Ich will den Typen nie wiedersehen.
Ich sehe nur Fiona an und sage zu ihr:
Ich will deine Immunität nicht. Ich brauche deine Immunität nicht. Ich will nichts von dem, was du mir geben könntest. Und ganz besonders keinen Schutz.
Und dann sage ich zu dem Mount-Rushmore-Typen: Sie hatten mehr als einen Mann eingeschleust. Sie haben die Lieferung angeleiert, nicht wahr? Sie haben dafür gesorgt, dass es passiert. War es nicht so? War es nicht so?
Denn jetzt verstehe ich es, nicht alles, aber genug, um zu wissen, dass die Jungs, die die Lieferungen entgegennahmen, die weißen Jungs, Mr. Filialleiter und seine Kumpane, Feds gewesen sind. Und dass die Feds diejenigen waren, die den Deal möglich machten. Irgendwie haben sie den Deal mit den 9 Bravos ausgehandelt. Um uns dazu zu bringen, mit der U Street zusammenzuarbeiten, um uns nach New York zu kriegen, um uns dazu zu bringen, ihnen Waffen zu verkaufen und um UniArms
und die U Street für immer hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Schuldverschreibungen in meiner Tasche gehören ihnen.
Heilige Mutter Gottes. Jinx hat recht: Was wussten sie? Was verdammt noch mal wussten sie?
An Mount Rushmore gewandt sage ich:
Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie bekommen, was Sie wollen. Und das ist, indem ich hier rausspaziere. Und genau das werde ich jetzt tun. Und wissen Sie was? Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Sie werden einfach nur dasitzen und dabei zusehen müssen.
Dann sage ich zu Jinx:
Kümmere dich um die Leute hier. Ich muss etwas holen.
Ich gehe in die Küche. Zum letzten Mal sehe ich das Foto meiner Mutter an. Gute Nacht, Mom, sage ich zu ihr.
Was?, ruft Jinx aus dem Wohnzimmer.
Nichts. Alles in Ordnung. Ich rede nur mit einem Foto. Kümmere du dich um unseren Besuch, okay? Verbinde dem alten Kerl die Hände und sperr ihn in den Schrank dort. Ist ein Waffenschrank, lässt sich von außen verschließen. Dann binde die beiden Cops aneinander.
Ich nehme das Foto meiner Mutter und falte es einmal und dann noch einmal zusammen. Lege es in den Aschenbecher. Zünde ein Streichholz an und setze es in Brand. Es fängt ziemlich schnell an zu brennen, und das gefällt mir. Es scheint an der Zeit zu sein, ein paar Dinge in Brand zu setzen.
Ich gehe den Flur hinunter und trete die billige Trockenbauwand unterhalb der Uhr ein, uuuups, so viel zur hübschen Laura-Ashley-Tapete, und ziehe meine Ledertasche, meine Ausgehtasche, aus dem Hohlraum. In der Tasche befinden sich saubere Ausweise und Kreditkarten, ein gefälschter Pass, geschmeidige Zwanzigtausend in bar, eine weitere Glock 19 mit zehn Magazinen Munition, eine Tweedjacke und die Schlüssel zu einem Lagerraum von dem niemand – und damit meine ich niemand – auch nur die leiseste Ahnung hat. Der Lagerraum befindet sich in einem Ort namens High Point in North Carolina. Ich gehe ins Schlafzimmer, öffne die obere Schublade der Kommode und nehme die Hochzeitseinladung heraus. Dann zum Schrank. Ich brauche neue Schuhe. Ich greife nach hinten in die Ecke und hole die Remington Home Security Schrotflinte heraus, die ich Fiona gegeben habe und die sie aus Angst nicht benutzen wollte, haha. Die für den Notfall immer geladen ist. Nur für den verdammten Fall der Fälle.
Dann bin ich zurück in der Diele. Der Mount-Rushmore-Typ ist im Schrank verstaut. So wie es aussieht, hat Jinx ihnen ordentlich die Handschellen angelegt.
Und da es sonst nichts weiter zu sagen gibt, sage ich es. Natürlich sage ich es:
Hey, Fiona, sage ich.
Sie sieht mich an, und ich möchte glauben, dass ich da eine Träne in ihrem Auge sehe, aber es ist nur das Licht. Muss das Licht sein. Aber ich sage es trotzdem:
Ich liebe dich, sage ich. Wusstest du das?
Und während ich diese Worte ausspreche, frage ich mich: Was wusste sie?
Wusste sie, dass sie vorhatten, Gideon Parks umzubringen?
Es gibt nur einen Weg das herauszufinden, und deshalb sage ich:
Und ich wünschte wirklich, ich hätte dich in diesem Kleid sehen können.
Ich zeige ihr die Einladung zur Hochzeit und den Rest mit meinen Augen.
Du hast dieses neue Kleid gekauft, oder? Für heute Abend? Für die Hochzeit?
Und dann sind wir verschwunden. Beinahe.
Oh, und eines noch. Ich denke, du wirst für eine Weile dein Auto nicht benutzen können.
Dann gehe ich hinaus, direkt zur Vordertür raus. Werfe zum wahrscheinlich letzten Mal einen Blick auf meinen Rasen. Der müsste mal wieder gemäht werden. Ich schaue zu dem Baum, an dem ich hochgeklettert bin, um die Katze vom Nachbarn zu retten. Ich sehe zum Briefkasten, zum Blumenbeet, in das der Geary-Junge jeden Morgen die Zeitung wirft. Schaue über den Gehweg die Straße entlang. Meine Straße. Da, wo ich wohne.
Nein, streichen wir das.
Da, wo ich wohnte
.
Weißt du was?, frage ich Jinx.
Mein Blick fällt auf das Auto in der Auffahrt, den silbernen CRX mit dem Jazzercise-Stoßstangenaufkleber, das Auto, dem ich einmal hinterhergefahren bin, bis ich es sein ließ und mir schäbig vorkam. Mich schuldig fühlte.
Ich bin ziemlich angepisst, sage ich zu Jinx.
Sag bloß, antwortet er.
Nein, sage ich, du verstehst nicht.
Ich nehme die Remington hoch.
Geh mal kurz für einen Moment zur Seite, okay? Was ich dir zu erklären versuche, ist: Ich bin … ziemlich … angepisst
.
Ruckartig lade ich die Remington durch und fange an, in Fünf-Sekunden-Intervallen dicke, fette Hammerschläge von Schrotflintenmunition in den CRX zu pumpen. Einen nach dem anderen, für immer und ewig. Peng. Glas und Metall singen, fliegen und regnen in kleinen Scherben auf den Asphalt, das Gras und in die Büsche, die ich an jedem Sonntag im Sommer immer gestutzt hatte. Peng und Peng. Die Vorderreifen explodieren und das Chassis setzt in einem Funkenregen auf der Straße auf. Peng und Peng und Peng.
Während ich weiter meine Schüsse in den Wagen jage, kommt dieser Thomas-O'Toole-Typ, der Kerl von nebenan, aus seinem Haus, und hinter ihm seine kleine, blonde Frau. Sie sehen mir mit diesem Ahm-Moment-mal
-Blick dabei zu, wie ich den Wagen auseinandernehme: Hey, warten Sie mal, könnten Sie damit bitte für einen Moment kurz aufhören? Ist das tatsächlich Teil der Hauseigentümerverordnung?
Jinx sagt, dass wir verschwinden sollen. Aber da bin ich anderer Meinung. Ich drehe mich um und feuere eine Ladung in den Wagen am Straßenrand, schieße die Vorderreifen kaputt, und die O'Tooles, dieses glückliche Pärchen mit ihrem glücklichen Kind, tänzeln mit großen Augen zurück, hinter ihre Fliegengittertür, als ob diese irgendeinen Schutz bieten würde, und dann gehen gegenüber die Lichter an und drüben bei den Turners, und das ist der Moment, wo ich ihnen zurufen muss, den O'Tooles und den Turners und den Johnsons und allen anderen, die es hören wollen:
Ja, stimmt, ihr seht richtig.
Mittlerweile schreie ich, damit mich auch jeder verstehen kann. Ich schreie:
Ich bin's. Der Kerl mit der Kanone. Euer Nachbar.
Jinx bleibt hartnäckig. Wir müssen los. Aber wir haben noch Zeit für eine letzte Patrone, und ich drehe mich um und hole damit die Hausnummer von der Fassade herunter.
Kapiert ihr es nicht?, rufe ich ihnen zu. Ich bin euer Nachbar.
Euer gottverdammter Nachbar.