MEIN IST DIE RACHE

Die Nacht bricht an und das ohne Gnade.
Der Himmel hat eine Art, einem zu zeigen, dass er müde ist, dass das natürliche Licht verschwinden und den Heuchlern weichen wird, und während ich durch die Scheiben des Saturns auf die Häuser und die Eigentumswohnungen und die kleinen Supermärkte und Einkaufszentren hinausschaue, stelle ich fest, dass auch ich müde bin. Ich frage mich, wieso mir das mal was bedeutete, weshalb mir was an dem Dunkin' Donuts lag oder der Videothek, diesem chinesischen Restaurant an der Ecke oder der Texaco -Tankstelle, wo Tommy Coogan an meinen Autos rumwerkelte, warum mir das was bedeutete, wieso irgendetwas davon eine Rolle spielte. Wieso ich der Typ gewesen bin, der an jedem anderen Wochenende in den Baumarkt gelatscht ist und ein paar Ziegel gekauft hat, um an der kleinen Veranda weiterzuarbeiten, und sich dabei auch noch gut gefühlt hat.
Ganz besonders, wenn es sich doch so viel besser anfühlte, diesen silbernen CRX in einen Haufen Schrott zu verwandeln.
Nachdem ich die leere Schrotflinte fallen ließ und meinen Nachbarn zum Abschied zuwinkte, folgte ich Jinx zurück zu dem Saturn, und als wir den ersten Block hinter uns gebracht hatten, ohne einem Polizeiwagen zu begegnen, wusste ich, dass alles bestens lief. Und das stimmt, alles lief mehr als bestens. Den ganzen Weg durch das Labyrinth aus Vorstadtstraßen bis zum Abzweig auf die Duke Street. Weshalb ich zu Jinx sage:
Halt an.
Jinx fährt zur nächsten Kreuzung und biegt rechts ab, lenkt den Wagen in einen McDonald's , und da drin herrscht reger Betrieb, klar, das Leben geht weiter, egal ob nun ein Bürgerrechtler gestorben ist oder es Aufstände gibt oder Krieg, die Leute wollen einfach weiter an ihren Big Macs herumkauen, und Jinx findet einen Parkplatz zwischen zwei anderen Autos.
Na los, sage ich.
Ich steige aus dem Saturn.
Na los, sage ich noch einmal.
Er zuckt mit den Achseln und steigt aus.
Wir betreten das goldene M und ich trete an den Tresen und sage zu dem Mann hinter der Kasse, irgendeinem Pakistani oder so, jedenfalls einer mit einem Turban:
Hey, Sabu. Mach mir einen Vanille-Milchshake.
Und Jinx fragt mich: Was zur Hölle soll das werden?
Ich kaufe mir einen Vanille-Milchshake, antworte ich. Willst du auch was? Ein paar Nuggets vielleicht? Als er ablehnt, sage ich:
Tja, also ich will was. Ich will eine Antwort.
Oh, Mann, sagt er, aber ich rede einfach weiter:
Geht das nur mir so, oder war es nicht ein wenig zu einfach, dort rein und wieder raus zu spazieren?
Jinx will genervt tun, aber er weiß es. Er weiß, dass ich recht habe.
Ich meine, zwei Cops aus Alexandria und ein Fed? Reverend Gideon Parks ist tot, 'ne Menge anderer Leute sind tot, und wir sind die Verdächtigen, oder nicht? Die waren für vier Monate in meinem Haus, in meinem verdammten Leben, und alles, was wir kriegen, ist ein Mann mit einem Plan? Keine Luftlandedivision? Noch nicht mal Rundumleuchten und Sirenen, nachdem ich den Wagen zerlegt hatte? Wollen die uns wirklich weismachen, dass es keine Verstärkung gab? Oder dachten die aus irgendeinem Grund, dass es so verdammt einfach sein würde?
Der Turbanträger gibt mir meinen Vanille-Milchshake und ich gebe ihm dafür zwei Dollar.
Schönen Tag noch, sage ich zu ihm. Und dann zu Jinx: Komm schon.
Im Restaurant habe ich nicht gefunden, was ich suche, also nehme ich den Hinterausgang. Jinx bleibt neben mir.
Ich lasse den Blick über den Parkplatz auf dieser Seite schweifen, und dann sehe ich unseren Freifahrtschein, diesen Typ, der mit seiner Frau in ihrem mittelgroßen Irgendwas sitzt, mit dieser Metallplakette hinten am Kofferraum, auf der Jesus fährt mit steht. Ich bummele also langsam, ganz langsam auf die Leute zu, setze ein ernstes, aber auch glückliches Gesicht auf, nehme einen Schluck von meinem Milchshake und sage:
Guten Abend, Sir. Ma'am. Tut mir leid, wenn ich Sie belästige, aber Bruder James und ich scheinen ein Problem mit unserem Auto zu haben. Wir wollen zu dem Gottesdienst heute Abend im Good Shepherd. Der an der Quaker Lane? Der nette Herr im Restaurant meinte, das sei gleich die Straße rauf, vielleicht eine Meile? Und nun hatte ich mich gefragt, ob Sie vielleicht so nett wären–
Gott segne Sie, danke ich ihnen, als sie Ja sagen, und dann noch einmal, als sie uns an der Good Shepherd wieder absetzen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass in dem Gebäude gar keine Lichter brennen oder wir sie auch einfach hätten umbringen können. Und ich meine es auch genau so: Gott segne die beiden. Es gibt noch ein paar Menschen auf dieser Welt, die einem vertrauen. Die an das Gute in anderen Menschen glauben, auch wenn das mindestens so verzweifelt und hoffnungslos ist wie ihr Glaube an einen Fisch, in dem Jesus fährt mit steht.
Wir warten, bis sie nicht mehr zu sehen sind, dann überqueren wir die Straße und schlendern zwischen einem von diesen Stadthaus-Projekten entlang, ducken uns unter einer Hecke hindurch und an einer Böschung hinunter, und dann haben wir Container und Laderampen an der Hinterseite dieses Einkaufszentrums namens Hechinger Commons vor uns. Und der Ort und die Zeit stimmen, und da steht ein Aerostar Van, und dieser Aerostar Van ist in einem verblichenen Weiß und mit roten Buchstaben beschriftet, die die Worte Flowers etc. bilden, und der Aerostar Van selbst ist tatsächlich mit Blumen und außerdem noch jeder Menge Et cetera vollgestopft, denn in dem Van sitzen noch zwei von der U-Street-Crew – nein, insgesamt drei, denn da ist noch der Fahrer, und das ist nicht nur irgendein Fahrer, sondern dieser grinsende Hurensohn von QP Green. Neben dem Aerostar Van steht ein Pick-up-Truck mit noch mehr U-Street-Typen an Bord, und neben dem Pick-up-Truck steht etwas, das wie ein ganz gewöhnlicher Virginia Power Truck aussieht, mit dem Baskenmützen-Typen, diesem Kareem oder wie er heißt, am Steuer und dem seltsamen Yoda-Kerl, der seitlich aus der Fahrerkabine schaut. Und neben dem Virginia Power Truck steht eine blank gewienerte weiße Stretch-Limousine, die so lang wie ein halber Häuserblock zu sein scheint, und ich habe so eine Ahnung, wer da hinten drin sitzt.
Ich gehe zu der Limousine hinüber und die Scheiben auf der Fahrerseite gleiten hinab, damit ich die Sonnenbrille auf dem Fahrersitz sehen kann, und es ist nicht irgendeine alte Sonnenbrille, es ist der verdammte Ray-Ban, und ich hole die Hochzeitseinladung aus meiner Tasche und halte das goldgeränderte, rechteckige Stück Pergament vor die Sonnenbrille und sage zu Ray-Ban:
Hier ist dein Ticket. Hast du auch was für mich?
Ray-Ban sagt: Mann, ich hab bereits neun Homies vor Ort. Sind seit sieben schon da. Lieferdienst. Wartungsmannschaft. Sogar ein paar Cocktail-Kellner. Genau wie du sagtest, Mann. Gar kein Problem.
Ich händige ihm die Einladung aus. Das ist eine Privatangelegenheit, diese Hochzeit. Industrie und Politik schmieden wie gewöhnlich im engsten Rahmen von Familie und Freunden ihre Einheit. Aber wenn man mit diesem Stück Papier aus dieser schicken Limo herauswinkt, wird das den Doctor an den Sicherheitskontrollen vorbeibringen.
Fünf nach acht, sage ich zu ihm und dann an die Dunkelheit hinter ihm gewandt: Und denk dran – wir machen das auf meine Art. Wenn ich die Sache bis fünf nach acht regeln kann, dann seid ihr dran. Und was immer auch geschieht, nehmt das UniArms -Lagerhaus hoch. Aber lasst mir genügend Zeit, und überlasst mir den alten Mann. Und CK.
Ray-Ban sagt: Leben oder sterben, Mothafucka.
Das Fenster gleitet wieder nach oben und die Limousine fährt davon, raus in die Nacht, Leute treffen.
Jetzt zum weiteren Geschäftlichen. Kareem springt aus dem Virginia Power Truck, und ich gebe ihm den Rest von dem, was ich ihm versprochen hatte: Meine Sicherheits-Schlüsselkarte und den vierstelligen Code für den Haupteingang am UniArms -Lagerhaus in Old Town. Genau das, was Kareem braucht, um Yoda hineinzubekommen, damit der dort sein Ding machen kann.
Kareem sieht mich an.
Kareem zwinkert mir zu.
Dann ist er wieder in dem Virginia Power Truck verschwunden und sie fahren los.
Dann schließt sich auch der Pick-up-Truck an.
Nun sind nur noch Jinx und ich und Flowers etc . übrig, und ich schätze, es ist Zeit, sich um unsere Lieferung zu kümmern.
Drinnen im Van, nachdem die Türen geschlossen und verriegelt worden sind, sage ich den Jungs des Doctors Hallo. Da sind Tiny und Hotpoint und jede Menge Blumen, und ich stelle meine Reisetasche hinter den Blumen ab und beginne mit den üblichen Checks. Ich nehme die Magazine aus den Glocks, sehe nach, ob sie geladen sind, und lasse sie wieder einrasten. Eine Glock wandert in das Bianchi-Holster auf meinem Rücken und die zweite in meinen Gürtel, direkt über meiner linken Niere. Ich binde mir ein Holster um meinen rechten Knöchel, und das ist für Nummer drei. Dann stecke ich zwei volle Magazine in die rechte Innentasche meiner Anzugjacke, jeweils zwei weitere in die beiden Außentaschen und auch noch ein paar in meine Hosentaschen. Das zusätzliche Gewicht stört mich zwar etwas, aber andererseits … wer weiß schon, wie viele Kugeln man auf so einer Hochzeit brauchen wird?
Dann sehe ich mir die Truppe an. Tiny und Hotpoint streicheln ihre AK's, als wären es kleine Kätzchen. Das sind nette Teile, aus dem Ausland, die Kampfausführung, Vollautomatik. Wahrscheinlich haben sie die bei UniArms gekauft.
Lass mich mal sehen, sage ich zu Hotpoint. Er reicht mir seine AK herüber, und es ist das nordkoreanische Modell, sauber, geölt und so bereit wie eine Hure von der 9th Street.
Der Boss hat uns ordentlich was beigebracht, sagt Hotpoint. Hat uns verdammt noch mal im Feuer geschmiedet. Mich und Jeff, Tiny und Malik und Lil Ace.
Ich gebe Hotpoint die Waffe zurück und will am liebsten Jinx fragen, was der Boss ihm beigebracht hat und wann. Der Kerl ist zu alt, um im Irak gewesen zu sein, es sei denn, er war ein höherer Unteroffizier, was ich aber nicht glaube. Genauso wenig wie ich glaube, dass ich wirklich die Antwort auf die Frage wissen will.
Es dauert gar nicht lange, bis der Van wegen einer Bodenschwelle langsamer wird. Wir sind spät dran, so wie das eben vorkommt, und in unserem Fall auch so sein muss. Um den schweren Teil leichter zu machen und damit die Sache auch wirklich funktioniert.
Der schwere Teil ist, hineinzukommen, zumindest hoffe ich, dass das der schwere Teil sein wird, und als der Van langsam ausrollt und auf die lange Auffahrt einbiegt, die sich den Hügel zur St. Anne Cathedral hinaufschlängelt, spüre ich die Art von Ruhe, die mir sagt, dass es funktionieren wird. Wir werden das hinkriegen.
Ich richte mich auf, spähe durch die Blumensträuße und über QP Greens Schulter und erkenne die Turmspitzen der Kathedrale und das, was vom Sonnenuntergang noch übrig ist. Es sieht aus wie auf einer Postkarte. Und schöner, als ich es in Erinnerung hatte. Die St. Anne ist ein Stück Geschichte: Damals in den alten Tagen errichtet, im Unabhängigkeitskrieg abgebrannt, wieder aufgebaut und im Bürgerkrieg wieder abgebrannt und auf dem langen, flachen Hügel, von dem aus man über Alexandria sehen kann, erneut aufgebaut, aller guten Dinge sind drei, dort, wo sich Jahre später dann noch das Masonic Memorial dazugesellte. Der Glockenturm zeigt nach Süden, in Richtung Richmond, während sich die Türen der Kathedrale zum heidnischen Norden und in Richtung D.C. öffnen. Die östlichen und westlichen Wände der Kathedrale sind der feuchte Traum eines jeden Reiseleiters mit ihren prächtigen Buntglasfenstern, die – und das kann man nicht anders sagen – über fünfzehn Meter weit in den Himmel hinaufragen. Auf dieser Seite hier, der östlichen Seite, gibt es eine größere Rasenfläche, eine leichte Anhöhe, und auf der Westseite, auf der Schulter des Hügels, befindet sich ein Parkplatz, danach Bäume, Büsche, Zäune und dahinter eines dieser lieblichen Viertel von Virginia.
Am Fuße der Auffahrt steht ein Wagen von einem privaten Sicherheitsdienst, und darin sitzen mit Kaffee und Donuts bewaffnet zwei der allerbesten Nullnummern, die Jules Berenger nur anmieten konnte. Weiter oben auf dem Hügel herrscht Betrieb. Die Viertelmeile der sich den Hang hinaufwindenden Zufahrt ist von Stadtautos und Limousinen gesäumt, jede von ihnen mit getönten Fenstern und einem Typen mit Funkgerät im Ohr, der zur Standardausstattung gehört. Auf dem Parkplatz formen weitere Luxusschlitten, unter denen sich natürlich auch ein weißer Lincoln befindet, das Standbild einer Autokolonne. Davor tummeln sich weitere Typen mit dunklen Sonnenbrillen und Knöpfen im Ohr, in der Nähe eines Teiches mit der Statue irgendeiner gewandeten Dame darin, St. Anne oder die Jungfrau Maria oder Gloria Estefan, was weiß ich. Ein paar andere Typen mit dunklen Sonnenbrillen laufen halbherzig ihre Runden über einen Rasen, der so gut gepflegt ist, dass man Golf darauf spielen könnte. Ich sehe ein paar CAR-15, aber meistens nur die typische Sicherheitsdienst-Ausstattung: Pistolen, vielleicht ein paar Maschinenpistolen, aber nichts, was zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. In den Baumgruppen weiter hinten könnten sich Scharfschützenteams versteckt halten, aber das ist unwahrscheinlich. In der Kirche befindet sich zwar ein U.S.-Senator, aber es ist immerhin eine Hochzeit, verdammt noch mal. Trotzdem, so viele Finger, so viele Abzüge.
Du bist dran, sage ich zu QP Green, kauere mich wieder hinter die Blumen und atme tief ein.
Hotpoint klebt zwei Bananen Clip-Magazine an den flachen Seiten zusammen. Jinx tut gar nichts, sieht mich aber durchdringend an, als wollte er jeden Moment mit etwas losplatzen.
Riechst du das?, frage ich ihn.
Klar, sagt er. Die ganzen schönen Blumen. Riecht wie bei einer Beerdigung.
Vielleicht, sage ich. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird es funktionieren.
Der Van hält an.
Das Fenster auf der Fahrerseite wird heruntergekurbelt.
Hi, sagt QP Green, aber ich erkenne seine Stimme nicht wieder. Da ist plötzlich dieses Nachrichtensprecher-Englisch, Weißbrot-Englisch aus dem mittleren Westen, und ich muss es nicht selbst sehen, um zu wissen, dass er sich mit jemandem unterhält, der groß und gemein aussieht.
Was habt ihr?, fragt der große und gemeine Kerl.
Hi, sagt QP Green noch einmal. Ich komme von Flowers etc.
QP Green macht eine Pause, und ich höre das Rascheln von Papier, das zum Fenster hinausgereicht wird. Dann fragt QP Green:
Die, die … äh … Berenger-Blaine-Hochzeit?
Ich sehe Hotpoint an, und der lacht in seine Faust und schüttelt den Kopf.
Der große und gemeine Kerl meint: Ihr seid spät dran.
Ja, Sir, sagt QP Green. Aber diese Blumen hier sind unten für das Gemeindehaus. Nach der Hochzeit gibt es dort noch eine kleine Party.
Der große und gemeine Kerl sagt: Okay. Aber ich will, dass der Van in zwanzig Minuten verschwunden ist. Kriegt ihr das hin?
Ja, Sir, sagt QP Green. Die Papiere wandern zurück, das Fenster wird wieder hochgelassen, und QP Green fährt uns hinein, und die ganze Zeit über murmelt er gegen die Frontscheibe, in den Rückspiegel, in die Luft um ihn herum:
Ja, Sir … Ja, Sir … Sicher doch, Sir. Lutschen Sie mir doch den verdammten Schwanz, Sir.
Dann wird der Van wieder langsamer. Hält an. Aus dem hinteren Fenster sehe ich die Kathedrale, deren Kirchtürme sich in den Himmel bohren. Dann sagt QP Green:
'kay. Showtime.
Tja, sage ich zu Jinx, weißt du, was Gary Gilmore damals sagte, als sie ihn vor das Erschießungskommando stellten?
Keine Ahnung, antwortet Jinx. Aber ich habe so das Gefühl, dass es was wirklich Bescheuertes war, so was wie: Bringen wir's hinter uns.
Genau, sage ich. Genau das. Also, was sagst du?
Er sieht mich an.
Ich sehe ihn an.
Ja, sagt er. Bringen wir's hinter uns.
QP Green steigt aus und lässt sich Zeit, um den Van herum und nach hinten zu laufen. Er öffnet die Hecktüren und beugt sich hinein, um einen großen Strauß Blumen zu umfassen. Hotpoint verstaut seine AK und ein Dutzend Magazine in einer langen weißen, dekorativen Vase, in der ein weiteres Blumenarrangement steckt, und dann ist er aus dem Wagen, um die Vase und mich in der Lobby abzuliefern.
Leben oder sterben, sagt er.
Also heißt es: Jetzt oder nie. Ich springe aus dem Wagen, mogele mich zwischen die beiden und hoffe, dass die Blumen mir genug Deckung geben, um ungesehen den kurvigen Weg bis hinauf zu den hölzernen Doppeltüren der Kathedrale gelangen zu können. Irgendwo hinter mir sollte Jinx mit einem anderen Arrangement sein, also laufe ich weiter, weiter und weiter, und dann sind wir auf den Stufen, dann die Stufen hinauf, und ich entferne mich von den Blumen, schlendere auf die Tür zu, ganz normal und natürlich, und bevor ich die Tür erreiche, macht sie jemand anderes für mich auf, und dieser Jemand ist Tully Malone, und Tully Malone sieht mich an, sieht durch mich hindurch, sieht erst irgendjemand anderes, irgendeinen Gast, und als er mich erkennt, bin ich schon an ihm vorbei, und das Beste, was er noch tun kann, ist zu sagen:
Hey, Burdon. Hatte mich schon gefragt, was dir passiert ist.
Vor mir befindet sich noch eine kleinere Doppeltür mit Glaseinsätzen. Ich kann eine Orgel spielen hören und sehe eine Menge gut angezogener Leute herumstehen, und der Moment ist so gut wie jeder andere, also gehe ich durch die Doppeltür hindurch in die Kathedrale, während Tully Malone in der Lobby immer noch tut, was er da so zu tun hat, und die Blumen werden angeliefert, und Jinx und der Rest der Crew machen sich bereit.
Drinnen starrt mich irgendein Kid in einem Anzug und mit zu vielen Pickeln an, weil ihm niemand gesagt hat, was er mit zu spät eintreffenden Gästen anstellen soll, und ich nicke ihm nur zu und flüstere, dass ich zur Familie der Braut gehöre, und er blinzelt ein paarmal, und dann deutet er fuchtelnd zur linken Seite der Kathedrale hinüber, und ich gehe die wenigen Treppenstufen in den Gang hinunter, wo bestimmt hundert Reihen schwerer Holzbänke stehen, und nach zehn oder zwölf Bänken finde ich eine leere auf der linken Seite und rutsche hinein.
Die Kirche ist mit einem feierlichen Geruch erfüllt, Blumen und Kerzen und Holz und Alter, und da ist eine ganz ansehnliche Menge an Besuchern auf den Bänken verteilt, und alle von ihnen verfolgen aufmerksam, was vorn an diesem großen marmornen Altar, diesem – wie heißt das noch? Diesem Podium, diesem Dingsda – vor sich geht, denn dort haben wir das glückliche Paar mit den Brautjungfern und den Trauzeugen und dem Pfarrer, und sie hören zu, was der Pfarrer in das Mikrofon sagt, und egal, was er sagt, es endet mit dem Wort Amen, und daraufhin sagen alle im Saal ebenfalls Amen.
Also bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Der Pfarrer spricht langatmig auf Lateinisch weiter, und dann wird aus der Heiligen Schrift gelesen und dieser nette Song gesungen, aber darauf achte ich nicht besonders, denn ich schaue mich nach den großen und bösen Buben um, die hinten in der Kirche stehen und nach den wenigen weiter vorn, und ja, nach der Frau da drüben in dem Hosenanzug, sehr schick, aber nicht gerade die Garderobe für eine Hochzeit wie diese, und den ganzen anderen auffälligen Tupfern unter den Anwesenden, der Typ in dem übergroßen Regenmantel, der mit der Aktentasche, all die eindeutigen Signale und Hinweise, dass sie Waffen bei sich tragen.
Und ich schaue mir den U.S.-Senator an, ganz der stolze Vater des Bräutigams, und es ist der gleiche Senator Anthony Blaine, der vor ein paar Stunden noch mit Tränen in den Augen in einem Einspieler auf CNN zu sehen war. Nun, wegen eines toten Bürgerrechtlers lässt sich dieser Mann doch nicht den Tag ruinieren, schätze ich.
Dann halte ich nach Jules Ausschau – für Sie immer noch Mr. Berenger – und er ist mit seiner aktuellen blonden Trophäe da, und da ist seine Ex, das ist die Mutter, und dann sind da die Politiker, die er in der Tasche hat, und dann sehe ich ein paar gut aussehende Anzüge an meinen alten Kumpels Quillen und Dawkins und Rudy Martinez, und dann ist da noch ein anderer Crew-Chef, McCarty, und dann noch eine Menge Leute, die ich nicht kenne und die mir auch egal sind. Es haben sich bestimmt um die dreihundert Menschen in der St. Anne Cathedral für diesen, wie der Pfarrer es nannte, freudigen Anlass zusammengefunden.
Und dann ist da schließlich diese Stimme an meinem Ohr, und sie flüstert:
Jetzt bist du geliefert.
Hat ja lange genug gedauert, sage ich zu CK, denn natürlich ist es CK, kann nur CK sein, denn er würde so sicher hier sein, wie ich hier sein würde. Das hätte er für nichts auf der Welt verpasst. Denn das ist ja nicht nur eine Hochzeit, sondern auch eine Jubelfeier, nicht wahr?
Eine faltige alte Dame ein paar Reihen vor uns dreht sich zu mir um, um mir zu erklären, dass ich doch gefälligst still zu sein habe, aber nachdem sie mich angesehen hat und danach noch einen Blick hinter mich wirft, lässt sie es lieber bleiben und wendet sich wieder dem freudigen Anlass zu, und dann spüre ich den Lauf von CK's Magnum im Genick. Aber, hey, der Kerl wird ja wohl nicht schießen und allen hier den tollen Tag verderben, oder? Also sehe ich auf die Uhr, lehne meinen Kopf leicht nach hinten zu ihm zurück und sage:
Dir bleiben noch zehn Minuten.
Es folgt eine sehr befriedigende Pause, und dann beißt er an.
Zehn Minuten wofür?
Zehn Minuten, bevor es losgeht.
Der Lauf seiner Pistole bohrt sich in meinen Hals. Halt deine verdammte Fresse, Lane.
Die faltige alte Dame dreht sich wieder nach uns um, und es gibt eigentlich keine Möglichkeit, dass sie die riesige Kanone nicht sehen kann, aber sie legt sich trotzdem einen faltigen, kleinen Finger auf ihre faltigen, kleinen Lippen.
Vorn am Altar erzählt der Pfarrer etwas über Liebe, aber hier hinten auf den billigen Plätzen komme ich auf etwas Praktischeres zu sprechen.
Spielt keine Rolle, was du tust, CK. Selbst wenn du mein Hirn über die Gästeliste verteilst, wird es trotzdem passieren. Nur, dass es jetzt lediglich noch neun Minuten sind.
Halt die Klappe, Lane.
Der Bräutigam nimmt die Hand der Braut in seine eigene, und zusammen treten sie einen Schritt nach vorn, näher an den Pfarrer heran, näher an das Mikrofon heran, und die beiden sehen aus wie die Deko auf der Hochzeitstorte – er ist dieser bärenstarke, gut aussehende College Boy, und Meredith Berenger ist all das, was man immer über eine Braut sagt, nur, dass es in diesem Fall auch zutrifft, sie ist strahlend, hinreißend schön, wundervoll anzusehen, wirklich schön, und ich denke mir, dass ich vielleicht tun sollte, was der Mann sagt und für eine Weile meine Klappe halte, und das tue ich dann auch, ich höre zu, wie sie sich gegenseitig die Treue schwören, und es dauert eine Weile, aber es nagt an ihm, natürlich nagt es an ihm, er will es wissen, muss es wissen, und so dauert es nicht lange, bis er seinen Zug macht.
Wir werden jetzt Folgendes tun, sagt CK zu mir. Dauert nicht mehr lange, dann werden hier alle ihre Ärsche erheben, um irgendwelchen Käse von sich zu geben oder ein bescheuertes Lied zu singen, okay? Und sobald alle aufstehen, tust du so, als müsstest du pissen gehen. Du wirst aufstehen, den Gang zurücklaufen, und ich werde direkt hinter dir sein, genau wie Elvis.
Wie aufs Stichwort stößt er noch einmal den Lauf in mein Genick. Dann sagt er:
Und dann wirst du raus in den Alkoven laufen, und wenn du da angekommen bist, siehst du diesen kleinen Flur auf der Leeseite, und diesen Flur wirst du hinunterlaufen, und dann kommt da ein kleiner Raum am Ende des Gangs, und in den wirst du reingehen, und da sind dann ein paar Stühle in dem Zimmer, und du wirst dich auf einen dieser Stühle setzen. Und dann werde ich entscheiden, ob ich dich am Leben lasse oder nicht. Was meinst du?
Ich antworte ihm nicht. Stattdessen sehe ich mir lieber noch einmal die berühmten bunten Kirchenfenster an. Von denen gibt es fünf auf jeder Seite, und auf den Fenstern sind diese hübschen Bilder zu sehen, die Geschichten erzählen, über die Gebote oder die Heiligsprechungen oder irgendetwas anderes von dem, was dieser Jesus-Typ erzählt oder getan hat, und nachdem ich mir die Fenster eine Weile angesehen habe, hebt der Pfarrer die Hände, als würde er die Braut, den Bräutigam, die Trauzeugen, die restliche Gemeinde, einfach jeden umarmen wollen, und dann sagt der Pfarrer:
Wollen wir nun gemeinsam beten, wie der Herr es uns gelehrt hat.
Also stehen wir alle auf, und der Pfarrer spricht sein Gebet, und ich kenne das Gebet, und alle Anwesenden beten mit ihm:
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …
Und ich manövriere mich vorsichtig auf den Gang hinaus.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden …
Und ich laufe den Gang entlang.
Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld …
Und ich habe Schuld auf mich geladen und suche Vergebung.
Wie wir vergeben unseren Schuldigern …
Denn ich selbst kann nicht vergeben.
Und führe uns nicht in Versuchung …
Also werde ich nicht davonlaufen.
Sondern erlöse uns von dem Bösen …
Ich nehme den anderen Weg, den einzigen, der mir noch bleibt. Ich gehe den Gang entlang, auf den Pfarrer zu, ich laufe auf den Altar zu, und um mich herum scheint es still zu werden. Nur die Stimme in meinem Kopf, diese Stimme will nicht verstummen, und ich denke wirklich, dass es die Stimme meiner Mutter ist. Und dann bin ich beinahe an dem Altar angekommen, stehe zwischen den Trauzeugen und den Brautjungfern, und dann ziehe ich die Glock aus meinem Gürtel, ziehe die Glock, drehe mich zu CK um, richte die Glock auf ihn, und er ist vielleicht noch sechs Meter hinter mir und hebt die Magnum, die er umklammert hält, und richtet die Magnum auf mich, und dann ist da diese eigenartige Stille, der Pfarrer hat aufgehört zu reden, und es herrscht Stille, nur Stille, bis ich zusammen mit meiner Mutter sage:
Amen .
Etwas regt sich. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich etwas bewegt, ich höre Schritte auf dem schweren Teppich, einen unterdrückten Schrei oder ein Schluchzen oder so etwas aus der Schar der Gäste und das traurige Geräusch von Menschen, die nicht wissen, was sie tun sollen, aber ich weiß ziemlich genau, was ich tun muss, und lasse mich nicht ablenken. Ich starre an der Glock entlang auf ein Zielbild, das ich nie wieder vergessen will, und CK ist sich genau wie ich darüber im Klaren, dass wir, wenn wir jetzt schießen, wahrscheinlich beide tot sein werden, aber er, wenn er danebenschießt, womöglich eine frischvermählte Braut oder einen Bräutigam auf dem Gewissen hat.
Ich denke, es ist Zeit, das loszuwerden, weshalb ich hierhergekommen bin.
Also sage ich:
Mr. Berenger.
Der erste Schock verfliegt und die Stille weicht dem weißen Rauschen aus Überraschung und Verärgerung und Angst, und dann bewegt sich wieder etwas, in meine Richtung, und ich sage:
Vielleicht bleiben wir besser alle ruhig und genau da, wo wir gerade sind.
Bitte.
Ich höre das Geräusch von Händen, die nach Waffen greifen, ein paar Pistolen machen Klickerdi-Klack, und ich habe so das Gefühl, dass jetzt noch ein paar mehr Leute als nur CK mich über einen Lauf hinweg ansehen.
Ich räuspere mich, die Luft hier drin wird langsam etwas trocken, und dann wiederhole ich, dieses Mal ein wenig lauter:
Mr. Berenger.
Woraufhin und zu guter Letzt ich Mr. Berenger, meinen Chef, meinen Mentor, meinen Freund, den lieben Jules sagen höre:
Kennen wir uns?
Und gerade, als ich darauf mit Ja antworten will, fällt mir CK ins Wort:
Halt deine verdammte Fresse.
Er lädt die Kanone in Kleinformat in seiner Hand durch, und dann ruft er laut und deutlich:
Dawkins.
Dann: Quillen.
Und dann: Legt ihn um.
Aber Jules sagt:
Das reicht.
Worauf CK wiederholt:
Legt ihn um.
Und Jules ruft:
Clarence!
Es gibt einen Riesentumult, und ich kann nicht anders, als meine Augen für einen Moment nach rechts huschen zu lassen, wo ich mit Mühe die ausladende Statur des in einem Anzug steckenden Jules Berenger ausmachen kann, ein zorniger Pinguin mit wutverzerrtem Gesicht, der sich an seiner Frau und seiner Ex-Frau und einer Brautjungfer vorbeidrängt und in den Gang neben mich tritt, und dann starre ich wieder über den Lauf meiner Pistole hinweg auf CK. Auf … Clarence?
Der Kerl heißt Clarence?
Muss er wohl, sonst würde Jules das Wort nicht noch einmal bellen:
Clarence! So langsam gewinnt er wieder die Kontrolle über seine Stimme. Es reicht, sagt Jules. Das hört jetzt auf, Clarence. Sofort!
Für mich klingt das nach einer klaren Ansage, aber CK scheint ihn nicht zu hören. In seinem Gesicht pulsiert dieses perverse Etwas. Vielleicht sein Stolz. Vielleicht Arroganz. Oder vielleicht auch einfach nur Wahnsinn.
CK fängt an zu grinsen.
Ich weiß, wohin ich bei ihm zielen werde: K-5. Körpermitte. Es spielt keine Rolle, ob sie Schutzwesten tragen oder nicht, man zielt immer auf die Körpermitte.
Dawkins, sagt er.
Auf die Art bringt man sie entweder gleich um oder legt sie zumindest auf die Bretter. Ist ein und dasselbe. Wenn man mit der richtigen Waffe und der richtigen Munition die richtige Stelle trifft, ist es der Schock, auf den man baut, und den bekommt man auch. Also in die Körpermitte: K-5. Solange es mein Abzugsfinger hergibt.
Quillen, sagt CK.
Ich werde locker.
Leg ihn um, sagt CK.
Ganz locker.
CK atmet einmal geräuschvoll ein und geht einen Schritt auf mich zu, und ich mache mich schon bereit, ihn aus seinen Latschen zu schießen, als der Spaß erst richtig anfängt. Das Ganze lief jetzt nicht wirklich nach Plan, aber nun sind die zehn Minuten um, zumindest der Uhr von dem Typen rechts von mir nach zu urteilen, die fünf Minuten nach acht anzeigt, und dann hört man das Pfeifen einer Rückkopplung in den Lautsprechern und das dumpfe Wummern von jemandem, der mit dem Finger auf ein Mikrofon klopft, und dann hallt eine Stimme von dem Altar herunter, aber es ist nicht die Stimme des Pfarrers, nein, das ist sie nicht, und es ist auch nicht die Braut oder der Bräutigam, nein, nein, ganz und gar nicht.
Es ist die Stimme eines sehr bösen Mannes. Und sie sagt:
Liebe beschissene Gemeinde.
Ich sehe, wie die Augen der Anwesenden nach oben wandern, zu dem Mann, der dort steht, wo eigentlich der Platz des Pfarrers ist, und zu den Männern, die sich mit Sturmgewehren im Anschlag neben ihm postiert haben. Ich höre das Geräusch von einem Handy, das er in der Hand hält, ein Wählzeichen, und dann die schnelle Melodie einer Nummer, die per Kurzwahl aufgerufen wird.
Es ist Doctor D. Er spricht nicht in das Handy, sondern in das Mikrofon. Er spricht zu uns allen.
Heute ist Nigga-Tag, verkündet er.
Und dann fliegt alles in die Luft.