DER WEG INS FREIE
Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, seit ich Ihnen erklärt habe, dass ich keiner von den Guten bin.
Und das bin ich auch nicht. Keine Chance.
Es gibt keine guten Jungs. Nicht wirklich. Nicht mehr. All die guten Jungs, zumindest die, die ich kannte, sind tot. So wie Gideon Parks. Und der Mann hinten in dem Büro des Pfarrers, Jinx. Sie sind tot, von uns gegangen, und vielleicht deshalb, weil wir Menschen wie sie nicht verdient haben.
Also, ich bin keiner von den Guten. Aber ich frage mich jetzt, was das bedeutet. Denn vielleicht, und nur vielleicht, bin ich auch keiner von den bösen Jungs.
Weiß und Schwarz, Licht und Dunkelheit, Gut und Böse: Das sind alles Lügen. Wir sind all diese Dinge zugleich. All das und noch vieles mehr.
Wer bist du?
Das war es, was einer von den Guten, der mit dem Namen Jinx, mich fragte: Wer zum Teufel bist du?
Und ich sagte ihm die Wahrheit: Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Aber das ist schon in Ordnung. Denn wenn ich nicht die Antwort darauf weiß, wenn ich nicht weiß, wer ich bin, dann weiß es auch sonst niemand.
Nicht die Typen in den Anzügen; jene, die hinter diesen großen Eichenholztischen sitzen und die Strippen ziehen. Und auch nicht die Cops.
Ganz besonders nicht die Cops. Jetzt, wo ich wie einer von ihnen aussehe.
Jetzt, wo ich einer von ihnen bin
.
Ich ziehe den Riemen fester, den unter dem Helm. Die Maske sitzt wie angegossen auf meinem Gesicht, und für einen kurzen Moment, als ich durch das Nachtsichtgerät blicke und die Welt auf einmal in Grün getaucht wird, kann ich sie riechen, ich rieche Fiona, süß und durchdringend zugleich, und dann rieche ich nur noch Gummi und meinen eigenen Schweiß.
Ich kann meinen Atem hören, spüre seine feuchte Hitze, und die Worte, die ich ihr zu sagen versuche, hören sich dumpf und weit entfernt an. Verschwinden in der Dunkelheit. Wie ich. Genau wie ich.
Fiona–
Sie presst die Augen zusammen, aber nur für einen Augenblick. Dann sehen sie mich an, blicken hinter die Maske, sehen mich, und dann sehen sie nicht mich, sondern stattdessen einen Cop, ganz in Schwarz, der sich von dem Altar erhebt, dieser arme alte Lazarus, und Fiona sagt die Worte, die sie mir scheinbar schon die ganze Zeit über sagen wollte:
Burdon, sagt sie. Du musst gehen.
Also sage ich ihr, was ich
ihr schon immer sagen wollte:
Ja, sage ich. Ich muss gehen.
Aber ich werde nicht weglaufen. Ich werde nie wieder weglaufen.
Ich werde gehen.
Ich werde einen Fuß vor den anderen setzen und diesen langen Mittelgang zu der großen Doppeltür dieser Kathedrale entlanggehen. Der offenen Tür.
Ich werde gehen, einfach nur gehen, so ruhig und gleichmäßig, wie ich nur kann, zu dieser Tür hinaus und die Steintreppen hinab, durch den Rauch und das Durcheinander und in die Nacht hinein. Vorbei an den Hundertschaften aus Cops und Bundesagenten, vorbei an den Polizeiwagen und den Krankenwagen und den Feuerwehrautos und den Funkwagen der Nachrichtensender. Bis zu dem Van, der irgendwo da draußen parkt, der mit der Aufschrift FLOWERS ETC, wo ich auf den geeigneten Moment warten werde, wenn es die Umstände zulassen, und ich so tun kann, als würde ich den Wagen untersuchen. Ich werde hineingreifen und meine Ledertasche herausholen, meine fertig gepackte Reisetasche, und dann werde ich einfach weitergehen und mich mit meiner Tasche auf den Weg machen.
Niemand wird davon Notiz nehmen, niemanden wird es kümmern. Denn ich bin niemand Besonderes. Überhaupt nicht. Nur ein weiterer Cop, nur ein weiterer Teil des Hintergrundrauschens, ein Teil der Szenerie. Ein Statist. Sie wissen schon, der Kerl dahinten … genau, der.
Und dieser Kerl wird der kurvigen asphaltierten Auffahrt folgen, den kleinen Hügel hinab, und er wird die King Street überqueren, aber er wird nicht weit laufen müssen. Denn dort, hinter der Eisenbahnbrücke, ist eine U-Bahn-Station, und vor der U-Bahn-Station ist ein Taxistand.
Er wird den Helm loswerden und weitergehen. Er wird die Gasmaske und das Nachtsichtgerät und die Kapuze in ein Gebüsch werfen und weitergehen. Er wird den schwarzen SWAT-Parka in eine Mülltonne stopfen und weitergehen. Er wird den Waschlappen aus seiner Ledertasche holen und sich das Blut von seiner Wunde tupfen, die schlimm ist, aber nicht so schlimm, er wird es überleben, lange genug, um dahin zu kommen, wo er hin muss. Er wird den Waschlappen in seine Achselhöhle stopfen. Er wird die Tweedjacke aus seiner Ledertasche kramen und die Jacke anziehen und sich die Brille aus der Jackentasche aufsetzen, zusammen mit einem eingefrorenen Grinsen, und er wird weitergehen.
Und während er auf die U-Bahn-Station zuläuft, wird er mit dem Arm winken, er wird sich das erste Taxi heranwinken, das vor der Station steht, und der Taxifahrer wird ihn ansehen und einen Niemand sehen, diesen Typen mit Brille und Tweedjacke und einer Reisetasche, ein ungeduldiger Geschäftsmann oder ein Lehrer vielleicht, diese harmlose Seele, die dem Taxifahrer sagen wird, dass sie zum National Airport will, eine halbwegs anständige Fahrt für Sonntagnacht, und die Fahrt wird nicht länger als zehn Minuten dauern, und der Taxifahrer wird den ungeduldigen Geschäftsmann, diesen Lehrer oder wen auch immer am National Airport absetzen, wo der Typ die Flüge studiert, und er wird sich irgendwo anstellen und mit seinem Ausweis und einer Kreditkarte Tickets kaufen und nicht lange warten müssen, bis sie seinen Flug nach Chicago oder Memphis oder meinetwegen Kansas City aufrufen, denn er wird nicht direkt fliegen, er wird mindestens einen Zwischenstopp einlegen, denn man kann nie vorsichtig genug sein. Er wird also einen Zwischenstopp machen, einen kleinen Tanz aufführen, sich ein anderes Ticket bei einer anderen Airline kaufen, mit einem anderen Pass und einer anderen Kreditkarte, und dann wird er an Bord eines anderen Flugzeuges steigen, und dann wird er weg sein, auf und davon, auf Nimmerwiedersehen und vielleicht sogar noch länger als das.
Das alles weiß ich in jenem Moment, den es braucht, um Fiona zu sagen:
Ich muss gehen.
Ich weiß das alles, denn ich weiß, dass es nur einen Ort gibt, nur einen einzigen Ort, an dem ich sicher sein werde. Wo niemand auch nur auf die Idee kommen wird, nach mir zu suchen. Und falls sie es doch tun, nun, dann werden sie Burdon Lane nicht zu Gesicht bekommen.
Das ist kein sonniger Ort irgendwo weit weg an einem weit entfernten Strand in einem fremden Land und auch kein großer oder betriebsamer Ort. Es ist der einzige Ort, an dem ich gewesen bin, wo mich niemand kennt und wo sich niemand an mich erinnern wird. Wo es niemanden kümmert.
Ich gehe nach Hause.
Aber bevor ich gehe, gibt es noch eine Sache zu tun.
Ich presse meine Hand gegen die vordere Hosentasche, und zuerst spüre ich nichts, aber dann finde ich das Buch. Es steckt hinten in meiner Gesäßtasche.
Mein Buch.
Das Buch meiner Mutter.
Ich nehme das Buch aus der Tasche. Sehe auf die Seiten hinab, zerknittert und zerrissen, mit Blut und Asche verschmiert. Die Worte sind verschwunden. Es ist zu Ende. Ich brauche es nicht mehr.
Ich brauche das Buch nicht mehr und auch nicht den Stapel Papiere, diese Schuldverschreibungen, die als Lesezeichen drinstecken. An einer Stelle, die ich oft gelesen und an der ich oft gewesen bin, viel zu oft.
Ich halte das Buch für einen Moment in den Händen, erinnere mich, um es nie wieder zu vergessen, und drücke es Fiona in die Hände.
Du hast mich gerettet, sage ich zu ihr.
Nein, sagt Fiona. Das hast du selbst, Burdon. Du hast das wahrscheinlich Einzige getan, was ein Mensch in dieser Welt tun kann. Du hast dich selbst gerettet.
Ich lasse das Buch los.
Und gehe.
– E N D E –
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