6
Madison starrte wie ein geblendetes Reh in den Schein der Taschenlampe und konnte noch immer nichts erkennen. Ihr Herz schlug dreimal schneller als normal und sie tastete nach Elijahs Hand. Er drückte sie einmal kurz und ließ dann wieder los. »Mason?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Du bist doch Mason, der Sohn des Hausmeisters, oder nicht?«, wiederholte Elijah, doch das Gegenüber blieb stumm. In Madisons Kopf ratterte es. Mason war das merkwürdigste Kind, das sie kannte. Er musste ungefähr acht Jahre alt sein, doch das schon so lange, wie Madison diese Highschool besuchte. Es war ein unerklärliches Phänomen, aber dieser Junge wurde offensichtlich nicht älter. Vielleicht war er in Wirklichkeit so alt wie sie und müsste eigentlich mit ihnen im Abschlussjahrgang sein, oder er war schon 30 – das wussten wahrscheinlich nur Mason selbst und seine Eltern.
»Was ist denn jetzt?«, fragte Heather und blickte unbehaglich von Mason zu Elijah. Mason stand nur starr da, ohne ein Wort zu sagen, bis er irgendwann mit seiner Taschenlampe Richtung Campus deutete. Er machte eine schnelle Bewegung, mit der er die anderen aufforderte, sich zu der Stelle zu bewegen, auf die er gerade gezeigt hatte.
»Was soll denn das?«, zischte Heather in Madisons Ohr, doch aus lauter Angst, dass dieser Furcht einflößende Mason gleich ein Messer aus der Tasche zog und auf sie losging, antwortete Madison nicht. Stattdessen tappte sie hinter Mason über den Campus, bis er unter der Laterne vor dem Haupteingang stehen blieb. Die anderen folgten ihnen und Madison sah, wie Elijah leicht mit den Schultern zuckte. Er schien auch nicht zu wissen, was hier los war.
Madison und die fünf anderen standen betreten zusammen, warteten auf irgendein Zeichen, irgendeinen Hinweis darauf, wie es jetzt weiterging. Vielleicht ist Mason ja auch stumm, ging es Madison durch den Kopf. Vielleicht kann er gar nicht sprechen und will uns irgendwie helfen. Oder bringt er uns jetzt in Raum 213? Aber was sollte ein Achtjähriger mit so einer Party zu tun haben? Und wieso sollte er ausgerechnet diese Auswahl von Menschen einladen? Das alles war ein einziges unheimliches Rätsel.
Plötzlich war aus der Ferne ein schrilles Kichern zu hören, das immer näher kam. Logisch: Ian, Trisha und Jess waren ja noch gar nicht von ihrem Rundgang zurückgekehrt. Madison wünschte, sie hätte telepathische Fähigkeiten und könnte den dreien ein Zeichen geben, nicht herzukommen, sondern irgendwie Hilfe zu holen. Denn das hier fühlte sich nicht mehr nach einem Spaß an. Und auch wenn dieser Abend vielleicht die einmalige Chance barg, Elijah so nah wie nie zu kommen, die Lust auf die Party war Madison inzwischen komplett vergangen.
»Ja, das war echt zum Brüllen«, japste Trisha und bekam einen neuen Lachanfall. Sie und die beiden anderen waren jetzt nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Noch schienen sie Mason nicht bemerkt zu haben. »Erzähl noch mal die Geschichte von deiner Grandma und ihrem Lover«, forderte Jess Ian auf und stieß Trisha dabei in die Seite. Madison fragte sich, ob Ian wirklich spannende Geschichten auf Lager hatte oder ob die Mädels ihn nur verarschten. Sie ging von Letzterem aus.
Als Trisha kurz darauf ihren Kopf hob, blieb ihr das Lachen förmlich im Hals stecken. »Was soll das denn hier werden?«, fragte sie. »Ihr seht ja aus, als würdet ihr gleich zu einer Beerdigung gehen. Haben wir was verpasst?«
»Ja, genau«, stimmte Jess mit ein. »Ist das etwa die geheimnisvolle Party? Mit einem Achtjährigen als Stargast?«
»Musst du nicht schon längst im Bett liegen?«, fragte Ian und lachte über seinen eigenen Witz.
Als niemand antwortete und sich auch keiner rührte, sahen sich die drei ratlos an und stellten sich einfach zu den anderen.
»Gut«, sagte Trisha. »Ist mir auch recht. Stehen wir hier halt noch ein bisschen in der Kälte rum und warten, bis wir auf magische Weise in Raum 213 gebeamt werden. Aber länger als fünf Minuten mache ich das nicht mit, dann bin ich weg. Da geh ich lieber schön feiern im Pino-Club.«
Jess zupfte am Ärmel ihrer Jacke und schüttelte den Kopf. Madison hatte die Unterhaltung gebannt verfolgt, deshalb hatte sie nicht bemerkt, was sich schräg hinter ihr abspielte. Als sie sich umdrehte, kam es ihr vor, als hätte Elijah auf Mason eingeredet. Sie warf den beiden einen skeptischen Blick zu, aber Elijah bemerkte davon nichts. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, überlegte Madison. Doch dann ging Mason entschlossen auf die großen verglasten Eingangstüren des Hauptgebäudes zu und Elijah bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Dabei legte er den Finger auf seine Lippen, was selbst Trisha und Jess dazu brachte, ihre Klappe zu halten.
Madison kam das alles vor wie in einem schlechten Gruselstreifen – das passierte hier doch nicht gerade wirklich?! Mason holte beinahe lautlos einen schweren Schlüsselbund hervor und schloss die Eingangstür zur Schule auf. Wieso hat dieser Kerl einen Schlüssel? Hat er den seinem Vater geklaut? Aber warum? Hat er irgendwie mitbekommen, dass wir uns auf dem Campus rumtreiben? Madisons Gedanken fuhren Achterbahn.
Als sie das Schulgebäude betraten, schaltete Mason seine Taschenlampe aus. Nacheinander wagten sich Madison und die anderen in den dunklen Schlund, den sie sonst nur bei Tageslicht kannten. Das Licht, das vom Campus her durch die Fenster schien, beleuchtete die Eingangshalle nur schwach.
Madison tastete vorsichtig nach allen Seiten. Als sie glaubte, Heather neben sich zu haben, nahm sie ihre Hand. Den anderen Arm hielt sie ausgestreckt vor sich, um nirgendwo gegenzulaufen. Als sie plötzlich etwas Weiches spürte, entfuhr ihr ein kleiner Aufschrei. »Pssst!«, zischte es vor ihr und ihr wurde klar, dass es Elijahs Jacke gewesen sein musste, die sie berührt hatte. Schritt für Schritt tasteten sie sich vorwärts; eigentlich hätte Madison den Weg, den sie jeden Morgen ging, blind finden müssen, doch in der Dunkelheit wirkte alles ganz anders. Waren sie schon an der Cafeteria vorbeigekommen? Waren da vorne die Schemen der Spindreihen zu erkennen? Sie hatte das Gefühl, komplett die Orientierung verloren zu haben. »Bist du noch da?«, flüsterte Heather beinahe lautlos und zur Antwort drückte Madison ihre Hand fester. Die Strecke bis zur Treppe schien sich unendlich in die Länge zu ziehen. Hinter sich hörte Madison Trisha und Jess wie zwei gehässige Hexen miteinander wispern.
Als ihr Fuß gegen etwas Hartes stieß, wusste sie, dass sie vor der Treppe stand. Mit der einen Hand umklammerte Madison das Geländer, mit der anderen hielt sie weiter Heather fest. Stufe für Stufe tastete sie sich vorwärts, wie ein kleines Kind, das gerade erst laufen gelernt hatte.
Madison nahm die letzte Stufe und wollte gerade die Treppe zum zweiten Stock hinaufsteigen, als sich Elijahs Hand auf ihre legte und sie in eine andere Richtung zog. Was sollte das jetzt? Raum 213 lag doch im zweiten Stock und normalerweise gelangte man über die Treppe dorthin. Madison wusste nicht, dass es einen anderen Zugang in die obere Etage gab. Aber was blieb ihr anderes übrig, als Elijah zu folgen? Hinter sich vernahm sie leises Gemurmel, die anderen schienen sich also ebenfalls zu wundern, was los war. »Seid ihr sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Trisha laut. Madison durchfuhr ein kurzer Schreck beim Klang ihrer Stimme, die sich plötzlich ganz anders anhörte. Unfassbar, wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn eines der Sinnesorgane ausgeknockt wird, dachte Madison.
»Psssst«, zischte Jess. »Willst du ihn verärgern? Nicht, dass dieses irre Kind uns hier mitten in der Schule stehen lässt wie die Idioten!«
»Was soll der Scheiß überhaupt?«, flüsterte Trisha zurück. »Wollen wir feiern oder uns zum Narren halten lassen? Und wieso machen wir nicht einfach das Licht an?«
»Wart’s ab und halt die Klappe«, entgegnete Jess und Madison war überrascht von dem scharfen Tonfall, der überhaupt nicht zu Jess passte.
Inzwischen waren sie schon wieder ein paar Meter weiter gekommen, und obwohl sie ja nur den Flur im ersten Stock geradeaus entlanggehen konnten, schien es Madison, als hätte sie komplett die Orientierung verloren. Sie gingen durch eine Tür, dann war es, als wechselten sie die Richtung, gingen ein paar Stufen abwärts und unzählige weitere wieder hoch. Normalerweise hatte Madison keine Angst im Dunkeln, doch in diesem nicht enden wollenden Labyrinth musste sie bewusst ruhig atmen, um nicht in Panik zu geraten. Sie hielt immer noch Elijah an der einen und Heather an der anderen Hand, aber das vermittelte ihr kein Gefühl von Sicherheit. Im Gegenteil, es war, als wären die drei verschmolzen; Madison konnte nicht sagen, wo ihr Arm aufhörte und Elijahs begann, ob das da gerade Heathers Finger waren oder ihre eigenen. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen, schloss die Augen, obwohl sie sowieso nichts sah als Dunkelheit. Ganz ruhig, versuchte sie sich selbst immer wieder zu sagen, ganz ruhig, gleich ist es vorbei. Sie wollte schlucken, doch es war, als wäre ihre Kehle mit Watte verstopft, immer wieder versuchte sie das, was da in ihrem Hals war, runterzuschlucken. Ruhig, ganz ruhig. Madison konnte nicht mehr dagegen ankämpfen: Panik machte sich in ihr breit. Sie riss die Augen wieder auf, in der Hoffnung, irgendwas zu erkennen, irgendeinen Lichtschimmer. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, mit ihren Augen hektisch alles absuchte – es war, als wäre die Helligkeit verbannt worden, als befände sie sich in einem niemals enden wollenden schwarzen Tunnel. Ihr Atem ging stoßweise und mit dem Licht schienen auch alle Geräusche verschwunden zu sein. Als würden sie von den Wänden verschluckt. Madison lauschte auf die Schritte hinter sich, auf ein Räuspern, ein Tuscheln, ein Atmen – nichts. Wo war sie hier? Was war mit ihr los? Der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken und Madison wusste, dass sie jeden Moment ihr Gleichgewicht verlieren würde. Waren die anderen noch hinter ihr oder vor ihr? Oder war sie allein, gefangen in der Finsternis, aus der es vielleicht keinen Weg zurück gab? War sie überhaupt hier oder war das alles nur ein Traum, aus dem sie gleich schweißgebadet erwachen würde? Das Letzte, was sie sah, bevor ein gellender Schrei ihrer Kehle entfuhr, war ein rot zuckendes Licht. Willkommen in der Hölle, schoss es ihr durch den Kopf und dann verlor sie das Bewusstsein.
So, meine Lieben, jetzt seid ihr also hier. Schön, dass ihr alle meiner Einladung gefolgt seid und niemand die Hosen voll hatte und abgehauen ist. Dann wäre das Ganze nur halb so lustig gewesen. Aber jetzt kann ich endlich loslegen. Denn eines ist sicher: Eure Schreie wird hier niemand hören. Und sollte sie doch jemand hören, wird es ihm nicht gelingen, euch zu helfen. Wie hat euch die erste Lektion gefallen? Es war mir eine Freude zu sehen, wie schreckhaft ihr seid. Normalerweise seid ihr so cool, so unwiderstehlich, nehmt auf niemanden Rücksicht … Aber jetzt würdet ihr euch am liebsten an den Rockzipfel eurer Mutter hängen und winseln wie kleine Babys. Und ich verspreche euch: Grund zum Winseln werdet ihr noch genug haben.
Lasst uns feiern!