11

Blitzartig schoss Madison herum. »Was soll der Scheiß? Musst du mich so erschrecken?«, fuhr sie Elijah an, der sofort mit erhobenen Händen zurückwich.

»Entschuldige, war keine Absicht. Ich dachte nur, dass du bestimmt fertig bist wegen … na wegen dieser Sache hier.«

»Nicht nur Madison ist fertig«, mischte sich Heather ein. »Wir drehen hier alle am Rad. Kann nicht mal einer diese beschissene Musik ausmachen?«, rief sie in die Runde. Prompt schwoll die Musik an, als wolle sie Heather und die anderen verhöhnen. »Ahhhhhhh«, brüllte Heather und stampfte mit dem Fuß auf. »Bitte!«, rief sie. »Wer hat uns eingeladen und in diesen Raum gelotst? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, diese Party zu beenden.«

»Vielleicht steckt ja dieser gruselige Hausmeisterjunge dahinter«, gab Katy zu bedenken. »Ganz normal ist der ja wohl nicht. Wer weiß, was in seinem kranken Kopf vorgeht. Schließlich war er derjenige, der uns hier reingeführt hat.«

»Der ist acht«, antwortete Heather schnippisch. »Glaube kaum, dass man in dem Alter schon so übles Zeug im Kopf hat.«

»Er sieht aus wie acht«, entgegnete Katy. »Ob er’s wirklich ist, weiß niemand. Hat dein Bruder nicht erwähnt, dass dieser Kerl schon seit Jahren acht zu sein scheint, Madison?«

»Äh, weiß nicht, keine Ahnung«, murmelte Madison und machte einen Schritt auf Elijah zu. Es tat ihr leid, dass sie ihn so angefahren hatte. »Sorry«, sagte sie. »Das war nicht so gemeint. Ich bin einfach total fertig und das alles hier – diese Musik und dieses Licht machen mich wahnsinnig und da liegt ein totes Mädchen, ich weiß einfach nicht …«

»Komm her«, sagte Elijah und zog Madison an seine Brust. Sie schmiegte ihren Kopf an seinen Oberkörper und versuchte, sich zu beruhigen, indem sie gleichmäßig ein- und ausatmete und dabei Elijahs Geruch einsog. Doch wirklich entspannen konnte sie sich nicht, denn ihre Gedanken kreisten nur um die eine Frage: Wann kommen wir hier wieder raus?

Elijah strich ihr über den Rücken und wiegte sie sanft hin und her, als ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte.

Sie drehte sich um und starrte in das wütende Gesicht von Jess. »Na, das hast du ja ganz fein eingefädelt. Endlich freie Bahn und keine Konkurrentin mehr, die dir die Tour vermasselt.«

Madison sah Jess fassungslos an und überlegte, was sie ihr da gerade unterstellt hatte. »Hast du sie noch alle?«, fragte sie. »Glaubst du, ich bin schuld, dass Trisha da tot auf dem Boden liegt?«

»Wer sollte denn sonst schuld daran sein? Sie wird ja wohl nicht einfach so tot umgefallen sein.« Jess verzog ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze. »Und du hast als Einzige ein Motiv.«

»Motiv? Du meinst, ich hätte sie … Sag mal, spinnst du?«

Elijah stand immer noch dicht hinter Madison und mischte sich jetzt ein. »Also Jess, wirklich. Ich kann verstehen, dass du total aufgewühlt bist, aber wir müssen jetzt ruhig bleiben, bis Hilfe kommt. Die Situation ist für uns alle schrecklich und …«

»Klar, dass du auf ihrer Seite stehst. Sie ist natürlich ein Unschuldslamm, das keiner Fliege was zuleide tut. Dabei ist sie ein ganz hinterhältiges Miststück. Ich habe doch gesehen, wie sie Trish und dich beäugt hat und beinahe geplatzt ist vor Eifersucht!«

»Hör auf, so zu reden!«, presste Madison hervor. Diese Vorwürfe waren das Allerletzte. Ganz abgesehen davon, dass das alles absurd war, was Jess da von sich gab – wie hätte sie denn Trish vor den Augen aller umbringen können?

»Wirklich, Jess, es reicht«, sagte Elijah.

»Du brauchst deinen Mund gar nicht so weit aufzureißen«, fuhr Jess mit ihrer Tirade fort. »Du bist doch genauso schuld! Hättest du Trish nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, dann …«

»Ich kann nichts dafür, dass sie sich eingebildet hat, ich wäre in sie verliebt. Von meiner Seite aus kam da nichts. Wenn sie meint, dass …«

Madison konnte Elijahs Worten kaum mehr folgen, sie schienen sich plötzlich mit der psychedelischen Musik zu vermischen, in ihrem Kopf waberte ein einziger Nebel aus Musik, die anschwoll und wieder leiser wurde, und einzelnen Wortfetzen. Tot … gestorben … niemand … Madison schloss die Augen, hinter ihren Lidern flackerten die Worte in großen Leuchtbuchstaben auf, immer wieder … tot … gestorben … niemand … tot … gestorben, in Gelb, Grün und flammendem Rot. Madison versuchte, die Augen wieder zu öffnen, doch es war, als zwang sie eine Macht, sie geschlossen zu halten. Die Musik schien bunte Muster zu formen, umhüllte ihren Körper, plötzlich war es schwarz vor ihren Augen, die Leuchtbuchstaben verschwunden, dafür hörte sie Trishas Lachen, dreckig und gemein, ganz dicht an ihrem Ohr. »Du hast mich umgebracht, hahaha«, zischte sie böse. »Das war dumm von dir, denn dafür musst du büßen.« Madison versuchte, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, damit diese Stimme wieder verschwand, doch das höhnische Lachen zerrte an ihren Nerven, schlängelte sich durch jede Gehirnwindung, und immer wieder zischte die Stimme dieselben Worte: »Dafür musst du büßen!«

»Aufhören! Weg!«, wimmerte Madison wie ein hilfloses Baby. Als die Stimme endlich verschwand, erschien Trishas Gesicht, seltsam verzerrt, löste sich wieder im Strudel der Musik und der Worte auf, die wie durch einen Schleier zu Madison durchdrangen … büßen … draußen …

Mit einem Schlag war sie plötzlich wieder bei sich. Was war das da gerade gewesen? Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich im Raum um und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was tat dieser verdammte Raum mit ihr? War er das personifizierte Böse? Konnte dieser Raum … töten? Beruhig dich, Madison, sagte sie sich wieder und wieder. Das ist ein ganz stinknormales Klassenzimmer, um das sich irgendwelche Gerüchte ranken, na und? Neben dir steht Elijah und beschützt dich, hinter Jess stehen Katy und Heather, die die Köpfe schütteln, und die Jungs reden und gestikulieren wild. Und Trisha … liegt immer noch am Boden. Ihr Gesicht wirkt so … friedlich irgendwie.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Jess starrte Madison hasserfüllt an. »Du freust dich doch, dass Trisha tot ist, oder? Das kommt ja wie gerufen für dich. Sag schon, wie hast du es angestellt?«

»Jess, jetzt hör aber mal auf!«, fuhr Elijah sie an. »Niemand hat Trisha umgebracht! Das hätte ja wohl irgendwer von uns hier mitbekommen.«

Madison konnte gar nichts sagen, sie war immer noch wie benommen von ihrer Vision, die nur langsam verblasste. Jetzt kam auch Heather näher. »Was ist hier los?«

»Deine tolle Freundin hier«, Jess spuckte Madison die Worte förmlich ins Gesicht, »will nicht zugeben, dass sie Trisha auf dem Gewissen hat. Guck sie dir doch an, wie sie ach so verliebt hier rumsteht und auch noch einen auf Mitleid macht.«

Heather taxierte Madison mit einem langen Blick, so als müsse sie überlegen, ob etwas an Jess’ Behauptungen dran sein könnte.

»Heather«, begann Madison und spürte, dass ihre Stimme zu versagen drohte. »Du glaubst doch nicht etwa, dass …«

»Ich weiß ehrlich gesagt überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Hätte ich vorher gewusst, dass das hier der schlimmste Abend meines Lebens wird, hätte ich mich bestimmt nicht auf diese Party eingelassen.«

»Aber glaubst du auch, dass ich …«

»Lasst mich einfach in Ruhe, okay? Was weiß ich denn, ob Trisha einfach so tot umgefallen ist oder ob du sie umgebracht hast oder Jess oder …«

»Was?«, kreischte Jess. »Du glaubst, dass ich …? Was sollte ich bitte schön für einen Grund haben, meine beste Freundin umzubringen?« Sie starrte wutentbrannt von Heather zu Madison und fuchtelte wie wild mit ihren Armen herum. »Ihr zwei steckt doch unter einer Decke! Habt einen schönen Plan ausgeheckt, wie ihr Trisha aus dem Weg räumen könnt. Und? Wie fühlt sich das an, jemanden verrecken zu sehen? Ging es schnell oder hat es lange gedauert?«

»Jess, jetzt beruhig dich doch mal«, versuchte es Elijah erneut. »Niemand hat Trisha umgebracht.«

»Ich sagte es bereits: Du hältst besser schön den Mund, mein Lieber. Deinetwegen ist doch die ganze Scheiße überhaupt nur passiert. Hättest du ihr nicht die kalte Schulter gezeigt, dann würde sie da nicht liegen!«

Jetzt schaltete sich Katy ins Gespräch ein. »Du solltest dich mal reden hören, Jess. Erst hat Madison Trisha umgebracht, dann steckt sie mit Heather unter einer Decke und jetzt ist auch noch Elijah mit schuld?«

Jess entfuhr ein hysterisches Kreischen, gefolgt von einem lauten Aufschluchzen. »Ihr seid so was von armselig, echt.« Sie drehte sich um und stapfte davon.

Madison starrte ihr hinterher und hatte das Gefühl, dass in ihrem Gehirn noch gar nicht angekommen war, was da gerade passiert war. Sie beobachtete, wie Jess sich wieder an ihren Platz an der Tür fallen ließ und den Kopf zwischen den Händen vergrub. Sofort eilte Ian zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern.

Dann richtete Madison ihren Blick auf Heather, von der sie bis vor ein paar Minuten noch gedacht hatte, sie sei ihre beste Freundin. Traute sie ihr wirklich zu, einen Menschen ermordet zu haben? »Heather, ich …«, begann sie, doch es war, als würde irgendetwas sie am Weitersprechen hindern. Zwischen ihren Lippen quollen nur noch undefinierbare Laute hervor; sosehr sie sich bemühte, sie konnte keinen einzigen Satz mehr bilden. Plötzlich spürte sie einen heftigen Brechreiz. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und nicht mehr schlucken zu können. Ruckartig drehte sie sich von den anderen weg und übergab sich auf den Boden.