12
»Madison, hey, ist alles klar?«, fragte Elijah und reichte ihr einen Becher mit Wasser. »Hier, trink erst mal was.«
Dankbar nahm Madison den Becher an und führte ihn mit zitternden Händen an ihre Lippen.
Die anderen hatten sich abgewandt, was Madison ihnen nicht verübeln konnte. Sie griff Elijah am Ärmel und zog ihn ebenfalls ein Stückchen zur Seite.
»Danke, geht schon wieder. Das war irgendwie gerade voll der Flash. Keine Ahnung, woher das kam.«
Elijah zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Hier wundert mich ehrlich gesagt gar nichts mehr.«
Madison sah, dass irgendjemand Trishas leblosen Körper mit Jacken bedeckt hatte, was die ganze Sache nicht gerade angenehmer machte.
»Elijah, mal im Ernst. Was machen wir jetzt? Und wie kommen wir hier wieder raus? Niemand kann uns hören und niemand wird hier nach uns suchen.«
Er strich Madison über das Haar. »Ich weiß es nicht. Wir müssen einfach abwarten und weiter versuchen, nach draußen zu telefonieren.«
Die Basketballer sowie Katy und Heather schienen genau das zu machen. Verzweifelt tippten sie auf ihren Handys herum, hielten sie ans Ohr, schüttelten dann aber den Kopf.
Ian saß immer noch neben Jess, die wie ein Zombie ausdruckslos vor sich hin starrte.
Die Musik waberte weiterhin in Form psychedelischer Klänge durch den Raum und wurde mal lauter, mal leiser – ein Umstand, der Madison schier wahnsinnig werden ließ. Das Licht flackerte mal schneller und mal langsamer, immer entgegen dem Rhythmus der Musik, was alles noch schlimmer machte.
Plötzlich kreischte Heather auf, lachte hysterisch und rief: »Ich glaub’s nicht! Leute, ich habe ein Freizeichen!« Nervös drückte sie das Handy an ihr Ohr und riss vor Aufregung die Augen auf.
Sofort scharten sich alle um sie, um zu hören, was sie sagte und wann endlich Hilfe kommen würde. »Ich habe meine Mum angerufen«, flüsterte sie, während sie darauf zu warten schien, dass am anderen Ende jemand abhob. Kurz darauf nickte sie freudig. »Mum? Mum, hörst du mich?« Sie starrte gebannt zu den anderen, bis ihr plötzlich die Gesichtszüge entglitten. Sie drückte den Hörer noch fester an ihr Ohr und warf das Telefon dann mit einem entsetzten Laut von sich. »Meine … Mum«, stammelte sie. »Das war nicht … meine Mum …« Sie warf die Hände vors Gesicht und schüttelte nur den Kopf.
»Was ist denn?«, fragte Ian. »Heather?«
Er sprang auf und hob das Handy vom Boden auf. »Hallo?«, rief er hinein, »Hallo, ist da jemand? Wir brauchen Hilfe! Bitte, hören Sie uns?« Auch Ian riss vor Schreck die Augen auf.
»Meine … Mum …«, wiederholte Heather immer wieder. »Das war nicht meine Mum.«
Ian schüttelte den Kopf und legte wieder auf. »Scheiße«, zischte er. Er stampfte mit dem Fuß auf. »Scheiße!«, schrie er beinahe und knallte das Handy auf einen der Stehtische. »Was ist hier verdammt noch mal los?«
»Was war denn?«, fragte Elijah mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ian schüttelte sich. »Es war …«
»Meine Mum …«, stammelte Heather, »… das war nicht meine Mum.« Sie schien vollkommen durcheinander zu sein. Ihr Gesicht war totenbleich und sie flüsterte immer wieder: »Meine Mum … das war nicht meine Mum«. Madison überlegte, zu ihr hinüberzugehen, aber sie hatte Angst, dass ihr erneut schlecht wurde oder sie gleich in Ohnmacht fallen könnte.
»Los, Ian, sag, wer da am Telefon war!«, forderte Elijah.
»Es klang irgendwie … das war nur so ein … Röcheln … oder Keuchen, als würde jemandem die Luft abgedrückt.«
»Das war nicht meine …«
Jetzt ging Madison doch rüber zu Heather und legte den Arm um sie. »Vielleicht hast du dich verwählt«, versuchte sie ihre Freundin zu trösten. »Vorhin war doch die ganze Zeit kein Empfang, vielleicht wurde der Anruf auch irgendwohin umgeleitet oder …« In ihrem Kopf dröhnte es. Wenn sie ehrlich war, konnte sie keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen oder Heather irgendwie Mut machen. Sie wusste selbst nicht, wie lange sie das alles noch aushalten konnte.
»Das war ganz sicher nicht deine Mum. Außerdem ist dein Dad bestimmt auch zu Hause. Sollte irgendwas nicht in Ordnung sein, wird er ihr helfen.«
Inzwischen zitterte Heather am ganzen Körper. »Ich will hier raus!«, flüsterte sie. Madison streichelte ihr beruhigend über den Kopf.
»Ich will hier raus!«, murmelte Heather etwas lauter. Sie starrte in den Raum, als wäre außer ihr niemand hier.
»Ich – will – hier – raus!«, schrie sie und begann mit den Fäusten auf Madisons Arm einzutrommeln. »Ich will zu meiner Mum, bitte!«, heulte sie. »Mum! Ich will hier raus!«
Elijah zog Heather behutsam von Madison weg und setzte sie auf einen Stuhl. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und versuchte, ihr in die Augen zu blicken, irgendwie zu ihr durchzudringen. »Heather, bitte. Es wird Hilfe kommen, da bin ich mir ganz sicher. Wir müssen einfach ein bisschen Geduld haben.«
Doch sie sah ihn nur mit leerem Blick an und schien ganz woanders zu sein. »Meine Mum …« Sie wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, immer wieder, vor und zurück.
Madison musste sich abwenden. Sie musste es schaffen, selbst ruhiger zu werden. Heathers Hin- und Hergewippe machte sie wahnsinnig – aber so etwas durfte man wahrscheinlich noch nicht einmal denken.
Madison war so auf Heather konzentriert gewesen, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass Jess und Ian heftig diskutierten.
»Jetzt komm mal runter, Jess«, sagte Ian. »Ich verstehe ja, dass du total fertig bist, weil deine beste Freundin gestorben ist, aber du musst aufhören mit deinen irrsinnigen Anschuldigungen!«
»Aber einer von euch muss es doch gewesen sein! Und wenn es die liebestolle Madison nicht war, dann bist du mit Sicherheit der Nächste, der ein Motiv hat.«
»Spinnst du? Darf ich dich daran erinnern, dass ich in Trisha verliebt war?«
Madison überlegte, ob Ian das gerade wirklich gesagt oder ob sie das nur geträumt hatte. Ian verliebt? In Trisha? Das konnte doch nur ein Witz sein, oder? Ian machte nicht den Eindruck, als wäre er ernsthaft an einem Mädchen interessiert. Er baggerte alles an, was ihm zwischen die Finger kam, da konnten wohl kaum echte Gefühle im Spiel sein. Wie zur Strafe für ihren gemeinen Gedanken durchfuhr sie ein heftiger Kopfschmerz, der von innen gegen ihre Stirn hämmerte und ihr sofort wieder in Erinnerung rief, wo sie sich befand und was eigentlich passiert war.
»Verliebt, verliebt! Besessen warst du! Und weil du sie nicht bekommen hast, musste sie sterben.«
»Also jetzt gehst du wirklich zu weit, Jess«, sagte Ian aufgebracht. »Sehe ich so aus, als würde ich jemanden töten?«
»Was weiß denn ich? Du siehst auf den ersten Blick auch nicht aus, als würdest du jemanden stalken oder angrapschen. Und was machst du die ganze Zeit?«
Ian schüttelte den Kopf und winkte ab. »Du bist echt krank. Guck dir Trish doch mal an. Siehst du irgendwelche Verletzungen? Wie soll ich sie denn deiner Meinung nach umgebracht haben?«
Jess verengte die Augen zu Schlitzen. »Wahrscheinlich hast du ihr K.-o.-Tropfen eingeflößt, weil du sie flachlegen wolltest, und jetzt ist sie gestorben.«
»Genau, so sieht es aus. Ich wollte sie hier, vor den Augen aller anderen, flachlegen.«
Aufhören, dachte Madison. Bitte hört auf zu reden. Sie wusste selbst nicht, was sie glauben sollte und was nicht, das war doch alles ein einziger Irrsinn. Natürlich hatte sie auch schon überlegt, ob irgendjemand hier etwas mit Trishas Tod zu tun haben könnte, aber wer? Wer von diesen Leuten hier wäre in der Lage, jemanden umzubringen? Noch dazu so, dass es niemand mitbekam? Sie alle waren 17 oder 18 Jahre alt, da kam man normalerweise nicht mit dem Tod in Berührung. Und hatte sicher auch nicht ernsthaft vor, jemanden umzubringen.
Sie ging langsam auf die Fensterfront zu und legte ihre Stirn gegen das kühle Glas. »Bitte, das soll endlich alles aufhören«, flüsterte sie mit geschlossenen Augen. Bitte. Sie verharrte einen Moment so, dann öffnete sie die Augen wieder und richtete sich auf. Wenn sie sich ganz stark konzentrierte, schaffte sie es, die Gespräche der anderen und die abartige Musik für einen Moment auszublenden. Draußen schien es inzwischen tiefste Nacht zu sein, unschuldig lag sie über der Stadt, als könne sie niemandem etwas anhaben. Madison dachte an die Leute, die jetzt in ihren Häusern gemütlich vor dem Fernseher saßen oder im Bett lagen und keinen Schimmer davon hatten, was ein paar Meilen von ihnen entfernt passierte. Sie sah die Lichter der Stadt, die so unendlich weit entfernt und so unerreichbar erschienen.
Madison ließ den Blick über den Campus gleiten, auf den sich um diese Uhrzeit natürlich keine Menschenseele verirrte. Oder bewegte sich dort hinten ein Schatten zwischen den Laternen? Sie rieb sich über die Augen, sicher, dass ihr wahrscheinlich ihre Sinne einen Streich spielten. Doch als sie wieder aus dem Fenster sah, nahm sie erneut eine Bewegung wahr. Sie fixierte den dunklen Fleck mit ihrem Blick und verfolgte ihn. Er schien immer näher zu kommen. Konnte das sein? War das die lang ersehnte Rettung? Als könne sie den Schatten mit einem intensiven Blick in ihre Richtung locken, starrte sie darauf, ohne zu blinzeln. Je näher er kam, desto mehr erkannte sie, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelte. Wer konnte das sein? Der Hausmeister? Mason? Sie kniff die Augen zusammen, doch es war einfach ein Schatten, der sich bewegte und keine deutlicheren Konturen anzunehmen schien. Langsam bewegte sich der dunkle Fleck auf das Schulgebäude zu.
Das war kein Erwachsener. Von der Größe und vom Gang her musste es sein Kind sein. Aber welches Kind irrte um diese Zeit in der Dunkelheit umher?
Es konnte tatsächlich nur Mason sein, der sich da zwischen den Laternen entlangschlängelte. Mason, der sie vorhin in diesen Raum geführt hatte. Warum hatte er das getan? Wusste er überhaupt, was hier drinnen los war, oder war er einfach von jemandem beauftragt worden? Aus einem Reflex heraus hob Madison ihren Blick an die Decke von Raum 213; vielleicht war irgendwo eine Kamera angebracht, die alles filmte. Eine ähnliche Geschichte hatte sie schon mal gehört, irgendein Junge soll angeblich hier eingesperrt gewesen und permanent gefilmt worden sein. Doch sie konnte im dunklen Geflacker der Discolichter nichts erkennen.
Sie sah wieder aus dem Fenster vor sich und nun war klar, dass es sich bei der Person, die sich näherte, tatsächlich um den Hausmeisterjungen handelte. Würde er kommen, um sie endlich zu befreien?
Nur er war dazu in der Lage, da war sich Madison sicher. Er konnte diesem Spuk hier ein Ende setzen, schließlich hatte er ihnen das alles eingebrockt.
Dich schickt der Himmel, dachte sie. Sie beobachte, wie Mason immer weiter auf das Gebäude zukam, den Blick stur geradeaus gerichtet. Wieso sah er nicht nach oben? Er wusste doch, dass sie hier drinnen waren. Außerdem war das Flackern des nervtötenden Discolichts sicher meilenweit zu sehen.
Mason stand jetzt genau unter dem Fenster. Sieh hoch zu mir, dachte sie. Sieh hoch! Der Junge rührte sich nicht, sein Blick schien auf irgendeinen Punkt vor ihm gerichtet zu sein. Madison fing an, wie eine Wilde gegen die Scheibe zu klopfen, erst mit den flachen Händen, dann mit den Fäusten. »Mason! Hier oben!« Sie klopfte und klopfte, doch er schien sie nicht zu hören. »Mason! Verdammt noch mal! Jetzt sieh nach oben! Wir sind hier!«
Sie wandte sich um, damit die anderen ihr halfen. Je mehr Hände klopften, desto deutlicher musste es doch draußen zu hören sein.
»Schnell, kommt her! Da unten steht Mason, der holt uns hier raus!«
»Was?«, rief Jess und kam sofort angerannt. »Endlich, der muss uns hier rausholen!«
Auch Elijah und Ian traten ans Fenster, und selbst Heather schien Madisons Ausruf aus der Schockstarre gerissen zu haben. Madison drehte sich wieder um, wollte weiterklopfen und um Hilfe rufen. Doch das Wort blieb ihr im Hals stecken, als sie sah, was da unten auf dem Campus war. Dort standen weder Mason noch irgendein anderer Mensch. Auf dem Boden war aus brennenden Kerzen ein Totenkreuz ausgelegt.