13
Madison spürte, wie ihr die Beine wegzusacken drohten, und stützte sich auf der Fensterbank ab.
Was soll das? Ihr Körper wurde von einer Panik ergriffen, die schlimmer war als alles, was sie in den Stunden vorher erlebt hatte. Dieses Kreuz war nicht nur unheimlich, es symbolisierte den Tod. Die Flammen der Kerzen, es mussten Hunderte sein, flackerten unruhig hin und her, als warteten sie nur auf ihr nächstes Opfer. Madison konnte trotz des bedrohlichen Anblicks ihre Augen nicht abwenden, sie war im Bann des hellen Scheins inmitten der Dunkelheit. Wer hatte dieses Kreuz dort aufgebaut? Sie hatte doch nicht mal eine Minute weggesehen, wie konnte es also dorthin gelangt sein? Und wo war Mason? Hatte er diese Kerzen dort aufgestellt? Aber er war nur ein Kind, und als Madison beobachtet hatte, wie er sich dem Gebäude näherte, war er allein und schien nichts in den Händen zu haben. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe, wollte die grausigen Bilder verbannen, doch der Schein der Kerzen bohrte sich auch durch ihre geschlossenen Augenlider. Sie fühlte sich so einsam und hilflos wie noch nie in ihrem ganzen Leben.
»Eben gerade stand er da noch«, wisperte sie. »Ich bin doch nicht bescheuert. Da stand Mason, der Sohn des Hausmeisters. Und jetzt ist da dieses Kreuz. Was soll das?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Jess neben ihr. »Irgendwer will uns fertigmachen. Das ist wirklich der Horror.«
Madison öffnete die Augen und sah zu Jess, wollte ihren Blick einfangen, doch der war nur aus dem Fenster gerichtet. Irgendwie fand Madison es beruhigend, dass Jess das Kreuz auch sah, außerdem tat es gut, dass die Feindseligkeit aus ihrer Stimme verschwunden zu sein schien.
»Und neben diesem Kreuz … da flackert doch noch etwas«, raunte Jess unheilvoll.
Madison konnte nichts weiter erkennen, nur den hungrigen Schlund aus Flammen unter ihr.
Jetzt wandte Jess ihren Kopf zu Madison um. »Ich glaube, daneben befindet sich das Tor zur Hölle! Und da wirst du hindurchgehen!«
Was redete sie denn da? Bevor Madison etwas erwidern konnte, giftete Jess weiter: »Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich? Da ist weit und breit kein brennendes Kreuz zu sehen und dein toller Hausmeisterjunge war offenbar auch nur eine Erscheinung.«
»Aber du hast doch gerade gesagt …«
»Hör auf, uns zu verarschen. Hier ist nichts. Keine Ahnung, warum du es immer nötig hast, alle Aufmerksamkeit auf dich zu lenken.«
Madisons Blick sank nach unten und das Kreuz war immer noch da. Hilfe suchend wandte sie sich an die anderen. »Sieht das keiner von euch? Die Kerzen, die ein Kreuz bilden? Heather, bitte! Da unten! Sag mir, dass da unten ein Kreuz ist!«
Heather warf ihr nur einen Blick zu, als wäre sie nicht von dieser Welt. Warum zum Teufel werde nur ich von diesen Visionen heimgesucht, fragte sich Madison und war den Tränen nahe. Was ist denn mit den anderen? Wie können die einfach cool bleiben in dieser Situation?
Sie blinzelte mehrmals, doch das Bild des Kreuzes verschwand nicht. Plötzlich schoss ihr ein beängstigender Gedanke durch den Kopf: Wenn nur sie das da unten sah – war das vielleicht eine Drohung, die nur ihr galt! Würde sie als Nächste sterben?
Elijah legte seinen Arm um ihre Schultern. »Da ist kein Kreuz, Madison. Da unten ist auch nichts anderes. Weder Mason noch der Hausmeister selbst noch sonst irgendwas.«
Madison legte den Kopf auf Elijahs Arm. »Diese Party ist einfach das Allerletzte. Wer spielt uns einen so miesen Streich? Ach was, Streich, das ist der totale Psychoterror!«
Elijah fuhr ihr mit der Hand über die Haare, versuchte, sie zu beruhigen. Doch es war, als würden all ihre Sinne eine andere Funktion ausüben, als sie eigentlich sollten. In ihren Ohren war ein Rauschen, in ihren Augen ein nervöses Zucken, ihre Zunge war belegt, ihre Hände waren gleichzeitig eiskalt und schweißnass.
Ian und Jess hatten sich in der Zwischenzeit kopfschüttelnd wieder entfernt und sich an die Bar gestellt. Sie alle mussten sich eingestehen, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten. Es brachte nichts, gegen Türen zu treten oder gegen Fenster zu schlagen, es brachte nichts, um Hilfe zu rufen, und es brachte nichts, mit dem Handy wieder und wieder dieselben Nummern zu wählen. Dann konnte man auch an die Bar gehen und was trinken. Madison schauderte. Aber wie soll das funktionieren, wenn neben der Bar ein totes, mit Jacken bedecktes Mädchen liegt?, fragte sie sich. Ein Mädchen, das entweder unter mysteriösen Umständen einfach tot umgefallen ist oder das ermordet wurde! So unglaublich Jess’ Anschuldigungen wirkten, ganz aus der Luft gegriffen war das vielleicht nicht. Wieder kreisten Madisons Gedanken um dieselben Fragen: War Trisha wirklich umgebracht worden? Aber wie? Und vor allem: Wer steckte dahinter? Wer um alles in der Welt hätte ein Motiv für einen Mord an Trisha?
Madison wand sich vorsichtig unter Elijahs Arm hervor. »Kannst du mir vielleicht noch etwas zu trinken holen?«, fragte sie mit Blick auf Heather, die noch immer wie hypnotisiert vor dem Fenster stand. »Meine Kehle ist ganz trocken.«
»Ja, klar, mach ich«, sagte er und entfernte sich.
Wortlos stellte Madison sich neben ihre Freundin und starrte mit ihr aus dem Fenster. Jetzt lag der nächtliche Campus wieder ganz friedlich vor ihr, kein Kreuz war zu sehen und auch sonst nichts. Sie drehte ihren Kopf zu Heather und fragte sich, was in ihr vorging. Seit dem Anruf bei ihrer Mutter hatte sie nichts mehr gesagt, sie wirkte abwesend und so, als wäre sie gar nicht mehr in diesem Raum, sondern irgendwo anders. Ob das wirklich ihre Mum am Telefon gewesen war? Vielleicht war es auch nur eine Vision gewesen wie Madisons gerade eben. Andererseits hatte Ian die Geräusche am anderen Ende der Leitung ja auch gehört.
Madison fuhr Heather mit der Hand vorsichtig über den Arm, doch die zuckte nur zusammen und machte einen Schritt zur Seite. »Alles okay?«, fragte Madison beunruhigt. »Ich hoffe so sehr, dass wir hier bald rauskommen und der Spuk endlich ein Ende hat.« Wie zur Antwort flackerte das Discolicht einmal kurz in einem kreischenden Orange auf und wechselte dann wieder in die dunklen Blau- und Grüntöne. Heather blieb stumm und hielt den Blick weiter stur geradeaus gerichtet.
Madison versuchte es erneut. »Ich kann verstehen, wenn du …«
»Du warst es, oder?«, fragte Heather in einem derart scharfen Ton, dass Madison überlegte, ob das wirklich ihre Freundin da neben ihr war. »Du hast Trisha irgendwas gegeben, damit sie tot umfällt, oder?« Sie sah Madison nicht an, sondern starrte weiterhin auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.
Madison wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Klar war Heather ziemlich durcheinander wegen des Anrufs bei ihrer Mutter, aber war das eine Entschuldigung für einen derart heftigen Vorwurf? Doch Heather schien ihre Antwort gar nicht abzuwarten, sondern redete einfach weiter, fast mechanisch, wie von einer fremden Macht gesteuert. »Du bist die Einzige hier, die einen echten Grund hat, so etwas zu tun. Du warst krankhaft eifersüchtig! Dabei war das gar nicht nötig, denn es hat doch ein Blinder gesehen, dass Elijah nicht auf Trisha steht, sondern auf dich.«
»Heather, ich …«
»Und muss man deshalb gleich jemanden ermorden? Ist das nicht ein bisschen over? Ich muss sagen, dass ich so etwas von meiner sogenannten besten Freundin nicht gedacht hätte.« Jetzt wandte sie ihren Kopf um und sah Madison mit hasserfülltem Blick an.
Madison war sprachlos und geschockt. Wo kam dieser Hass plötzlich her? Sie spürte, dass ihr gerade der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ihre beste Freundin hielt nicht mehr zu ihr, sondern unterstellte ihr, einen Mord begangen zu haben.
»Siehst du, jetzt sagst du gar nichts mehr. Weil ich nämlich recht habe, stimmt’s? Du bist echt armselig, Madison!«
Madison starrte Heather minutenlang an, hoffte irgendwie, dass da noch etwas kam, eine Entschuldigung oder ein Zurechtrücken, dass sie es nicht so gemeint habe. Doch Heather starrte nur zurück – die Augen zu Schlitzen verengt, sodass Madison fast schon Angst bekam. Angst vor ihrer besten Freundin.
Sie überlegte, ob sie sich einfach umdrehen und Heather wortlos stehen lassen sollte, doch tief in ihrem Innern spürte sie etwas. Sie spürte, dass es in ihr zu brodeln begann. So etwas kannte sie gar nicht von sich selbst, schon gar nicht Heather gegenüber. Doch es bahnte sich etwas seinen Weg, das gleich herausplatzen würde. Natürlich war das hier eine Ausnahmesituation und natürlich lagen die Nerven bei allen Beteiligten blank. Aber dass sie sich so etwas von ihrer besten Freundin anhören musste, war einfach zu viel.
»Bist du total übergeschnappt?«, giftete Madison Heather an. »Hör dich mal reden. Glaubst du allen Ernstes, dass ich jemanden umbringen könnte? Traust du mir das wirklich zu? Da kennst du mich aber schlecht. Und als meine sogenannte beste Freundin hätte ich wirklich etwas mehr Verstand von dir erwartet.« Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Gespräche der anderen verstummt waren und nun alle Blicke auf sie gerichtet waren.
»Ui, jetzt hast du es mir aber gegeben!«, sagte Heather, vollkommen unbeeindruckt von Madisons Worten. »Dir traue ich inzwischen alles zu. Ich war doch dabei, als Trisha von dieser Spinne attackiert wurde und du dir ins Fäustchen gelacht hast. Am liebsten wäre es dir doch gewesen, wenn sie schon daran gestorben wäre.«
»Bist du jetzt vollkommen durchgedreht? Du bist doch total krank! Wahrscheinlich hast du sie umgebracht und versuchst es jetzt mir in die Schuhe zu schieben!«
»Im Gegensatz zu dir habe ich überhaupt kein Motiv, wenn ich dich daran erinnern darf.« Heather lachte ein schrilles Lachen, das Madison das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es gab keinen Zweifel daran: Heather war total durchgeknallt.
»Oh, da würde mir aber auch so einiges einfallen. Was ist zum Beispiel mit dem Abschlussball letztes Jahr, als Trisha sich Jake gekrallt hat, mit dem eigentlich du den Abend verbringen wolltest? Oder als Trisha dich verarscht hat und meinte, dass es bei Charlie’s den ganzen Abend Cocktails umsonst gibt, und du sofort hingefahren bist? War das nicht demütigend? Ist das nicht auch ein Grund, es jemandem heimzuzahlen? Und die Schuld dann einfach einem der Anwesenden in die Schuhe zu schieben?«
»Ha! Wegen ein paar Cocktails bringe ich sicher keine anderen Leute um.«
»Weißt du was?«, sagte Madison. »Glaub, was du willst, aber lass mich damit in Ruhe! Setz dich in eine Ecke und halt deinen Mund, bis wir hier rauskommen.« Damit drehte Madison sich um und entfernte sich.
»Weißt du was?«, äffte Heather Madison nach. »Du kannst mich mal! Ich wünschte, du würdest da liegen und für immer schweigen.«