17
Das ist mein Ende! Madison konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, sie spürte nur noch, wie alles in ihr zusammensackte. Sie hatte keine Kraft mehr und egal, was der Besitzer dieser schwarzen Stiefel mit ihr vorhatte, sie würde es über sich ergehen lassen. Wird er mich töten? Wird er mich zurück in Raum 213 bringen und mich dort bis ans Ende meiner Tage eingesperrt lassen? Sie spürte, dass ihr Körper von einem Zittern erfasst wurde, und wagte kaum, ihren Blick zu heben, um zu sehen, wer da vor ihr stand.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt? Wir haben dich überall gesucht!«
Madison blickte nach oben und sah in das Gesicht eines schlecht rasierten Policeofficers. »Ich … ich … war eingesperrt, mit ein paar anderen Leuten … Sie müssen in den zweiten Stock und ihnen helfen … Es gibt –«
Sie versuchte, sich wieder aufzurappeln, doch sie schaffte es nicht.
»Ich will wissen, wo du so lange gesteckt hast. Die anderen sind schon längst wieder draußen«, entgegnete der Officer barsch.
Nur langsam drangen seine Worte in Madisons Bewusstsein. »Die anderen … sind schon draußen?« Es konnten doch nur Minuten vergangen sein, seit Madison sich aus Raum 213 befreit hatte und verzweifelt durch die Schule gerannt war. »Wie lange? Ich meine, wie lange suchen Sie mich schon?«
»Du bist gut«, sagte der Officer und streckte Madison seine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. »Eine halbe Stunde war es bestimmt. Wo zum Teufel hast du dich versteckt? Und vor allem: Warum?«
Eine halbe Stunde? Eine halbe Stunde, in der sich die anderen befreien konnten, während sie unauffindbar war? War sie nicht den direkten Weg Richtung Ausgang gelaufen?
Die Fragen in ihrem Kopf überschlugen sich, aber sie wollte nur noch eins: nach Hause.
»Ich habe mich nicht versteckt«, sagte sie matt und wusste, dass ihr wahrscheinlich sowieso niemand glauben würde. »Können wir bitte rausgehen? Ich muss aus diesem verdammten Gebäude raus.«
Der Officer schüttelte verständnislos den Kopf und nahm sie am Arm. »Leute, ich habe sie gefunden«, sagte er in sein Funkgerät. »Ihr könnt die Suche abbrechen.«
Madisons Beine waren schwer wie Blei, so als wäre sie wirklich stundenlang irgendwo herumgerannt. Je weiter sie sich der Tür näherten, desto deutlicher sah sie die grell flackernden Lichter der Polizeiwagen, die den Campus erhellten. Sie trat mit dem Officer aus der Tür und hörte sofort die schrille Stimme ihrer Mutter: »Madison!«
Sie kam auf Madison zugerannt und erdrückte sie beinahe in einer Umarmung. Madison konnte gar nicht anders, als in ihre Arme zu sinken und ihren Tränen freien Lauf zu lassen.
»Mum … ich hatte solche Angst«, schluchzte Madison.
»Und ich erst«, sagte ihre Mum und strich ihr übers Haar. »Was machst du denn für Sachen! Dich nachts in der Schule rumzutreiben. Warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?«
Madison konnte ihr keine Antwort geben. Ihr Kopf war vollkommen leer und sie wollte einfach nur nach Hause in ihr Bett.
Über die Schulter ihrer Mutter hinweg sah sie die anderen und sie spürte, wie sie von einer Woge der Erleichterung erfasst wurde, darüber, dass tatsächlich alle dem Raum entkommen waren. Ian wurde gerade von einem Beamten vernommen, Heather saß in eine Decke gehüllt in einem Krankenwagen, während ihre Mutter neben ihr hockte und ihre Hand festhielt. Elijah stand ganz allein da, verloren irgendwie, als warte er auf irgendetwas. Als er Madison entdeckte, machte er einen Schritt in ihre Richtung, schien es sich dann aber anders zu überlegen und senkte den Blick.
»Die Polizei wird dich auch noch vernehmen müssen«, sagte Madisons Mutter und löste sich langsam aus der Umarmung. Sie wischte Madison mit den Daumen die Tränen aus dem Gesicht, eine Geste, die Madison seit 17 Jahren tröstete.
»Können die das nicht morgen machen?«, fragte sie verzweifelt. »Ich meine, wir sind doch alle total fertig und –« Sie beobachtete Jess, die auf einen Mann und eine Frau zulief. Waren das ihre Eltern? Wenn sie sich recht erinnerte, lebte Jess nur mit ihrer Mutter zusammen, weil ihr Vater vor ein paar Jahren mit einer Jüngeren durchgebrannt war.
Sie wischte sich die letzten Tränen aus den Augen. Das waren nicht Jess’ Eltern … das waren Trishas Eltern. Madison hatte sie beim Schulball im letzten Jahr einmal gesehen. Ob sie schon wussten, was mit ihrer Tochter passiert war? Neben einem der Krankenwagen stand ein Leichenwagen, ein Anblick, bei dem sich Madisons Herz zusammenzog.
Jess fiel Trishas Mutter um den Hals, auf die Entfernung konnte Madison allerdings nicht hören, was geredet wurde.
Ein Officer ging auf die drei zu und nahm die Eltern mit.
Madison musste den Blick abwenden, sonst hätte sie gleich wieder angefangen zu weinen. Was musste in den Eltern vorgehen, wenn sie gleich erfuhren, was geschehen war? Dass sie ihre Tochter für immer verloren hatten? Wenn sie sich vorstellte, dass das da ihre Eltern gewesen wären … wenn sie selbst … ja, was eigentlich? Einfach tot umgefallen wäre? Ermordet worden wäre?
»Komm«, sagte Madisons Mutter in ihre Gedanken hinein und zog sie behutsam in Richtung des Polizeiwagens, vor dem Ian gerade vernommen wurde.
Sie wäre vorher gerne noch zu Elijah gegangen, doch es war, als wäre das magische Band, das sie in Raum 213 verbunden hatte, durch irgendetwas getrennt worden. Der Blick, den er ihr gerade zugeworfen hatte, war ohne jedes Funkeln, fast leer gewesen, und sie fragte sich, was geschehen war. Dämliche Frage, dachte sie gleich darauf. Denn was ihnen die letzten Stunden passiert war, erlebten andere Menschen in ihrem ganzen Leben nicht. Wahrscheinlich mussten sie alle erst wieder zur Normalität zurückfinden und irgendwie die Ereignisse verarbeiten. Bei einigen würde es sicher schneller gehen und bei anderen weniger schnell.
»Kann ich vorher noch kurz zu Heather?«, fragte Madison ihre Mum.
»Ja, natürlich. Wie es scheint, ist der Officer ja sowieso noch nicht mit Ian fertig. Und die anderen Polizisten laufen immer noch durchs Schulgebäude, um Spuren zu sichern.« Sie griff nach Madisons Hand. »Mad?«
»Ja?«
»Versprich mir, dass du so etwas nie, nie wieder tust. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«
»Ich verspreche es, Mum.« Freiwillig würde sie nie wieder einen Fuß in die Nähe von Raum 213 setzen und sie würde jeden, der sie danach fragte, davor warnen, es zu tun.
Auch wenn sie lieber auf diese Lektion verzichtet hätte, wusste sie jetzt auch, warum ihr Bruder Pete seit seinem Versuch, diesen Raum zu betreten, leicht paranoid war. Wenn sie vorhin auf ihn gehört und sich einfach einen schönen Abend zu Hause gemacht hätte, wäre ihr sicher einiges erspart geblieben.
»Wie spät ist es überhaupt, Mum?«
»Kurz nach Mitternacht.«
Dann waren es vier Stunden, die Madison eingesperrt gewesen war. War ihr die Zeit länger vorgekommen? Oder kürzer? Sie konnte es nicht mehr sagen – ihr Gefühl für Stunden, Minuten, Sekunden hatte sie total verlassen.
»Hey, Mad, da bist du ja endlich!«, kam eine Stimme aus dem Krankenwagen, vor dem Madison nun stand.
»Heather!«, rief Madison und stieg zu ihr ein.
»Hallo, Mrs Adams«, sagte sie zu Heathers Mutter und beugte sich dann, so gut es ging, zu ihrer Freundin hinunter. Sie umarmten sich fest, als hätten sie sich ein ganzes Jahr nicht gesehen. »Ich bin so froh, dass du da bist«, flüsterte Madison in Heathers Haare.
»Und ich erst«, antwortete Heather. »Wo hast du denn gesteckt? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, du warst plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.«
»Ich weiß es nicht. Es war plötzlich totenstill in Raum 213 und ich habe keinen von euch gehört.« Beim erneuten Gedanken an diese Szenerie musste sie sich schütteln. »Dann habe ich irgendwann einen Tunnel gesehen, an dessen Ende Licht war. Ich bin darauf zugekrabbelt und war in irgendeinem Raum, der dann auf den Schulflur führte. Ich bin losgerannt und habe euch gesucht, aber ihr … wart schon weg.«
»Hu, das klingt echt gruselig … Ein Tunnel mit einem Licht am anderen Ende – da wäre ich wahrscheinlich durchgedreht.«
»Ich hätte mir für meinen Freitagabend auch etwas Schöneres vorstellen können«, erwiderte Madison. »Diese ganze Party war einfach … ach, egal. Ich bin froh, dass wir alle wieder draußen sind. Wie habt ihr es denn geschafft?«
Heather lächelte. »Das war unglaublich … Jess hat plötzlich geschrien, dass die Tür auf sei, da sind wir alle wie die Bekloppten losgerannt. Ich habe sogar mein Handy liegen lassen, aber das war mir so was von egal.«
Heathers Mutter war inzwischen aus dem Krankenwagen gestiegen und unterhielt sich mit Madisons Mum.
»Und Mad?«, sagte Heather und zögerte einen Moment. Sie nahm Madisons Hand, ehe sie fortfuhr. »Es tut mir wirklich unglaublich leid … Du weißt schon. Das war echt ziemlich daneben. Zu glauben, dass du Trisha …«
»Pssst«, machte Madison und drückte Heathers Hand. »Lass uns nicht mehr darüber sprechen, einverstanden? Lass uns nie, nie wieder über diese verteufelte Nacht sprechen. Vielleicht verblassen die Erinnerungen daran dann irgendwann.«
»Aber …«
»Kein Aber, Heather. Das, was es zu klären gibt, wird die Polizei klären.«
Die beiden umarmten sich noch einmal, bevor Madison zur Vernehmung wieder auf den Rasen trat. Als sie sich umsah, entdeckte sie Elijah und Jess, die zusammenstanden. Jess schien wie eine Wilde auf Elijah einzureden, während der immer wieder den Kopf schüttelte. Was hatten die beiden zu besprechen? Madison überlegte, ob sie ein paar Schritte in ihre Richtung machen sollte, um sie besser zu verstehen, doch dann winkte sie ein Officer zu sich.
Aus dem Augenwinkel sah Madison noch, wie Jess Elijah stehen ließ und selbstzufrieden grinsend wegging. Wie kann sie grinsen, wenn ihre beste Freundin gerade gestorben ist?, schoss es Madison durch den Kopf.