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Zwei Wochen zuvor

Wenn man mit acht Vierzehnjährigen durch London fährt, fühlt man sich etwa so wie ein Zirkusdompteur. Gray musste davon ausgehen, dass diese Kinder auch außerhalb der Schule mal mit dem Zug fuhren, dass sie auf Bürgersteigen gingen und an Mitbürgern vorbei, dass sie spärlich bekleidete Menschen auf Plakatwänden gesehen hatten, aber während eines Schulausflugs war es so, als kämen sie von einem anderen Planeten. Sie fassten alles an, drehten sich um die Haltestangen und schrien laut herum. Und dies waren seine intelligentesten Schüler, die Spitze der Klasse, einige galten geradezu als Genies. Sie waren auf dem Weg zu einem interschulischen Mathematikwettbewerb, der in einer Universität stattfand.

Es war ein windiger, stark bewölkter Tag kurz vor einem Regenguss. Gray hatte noch mit einem Kater zu kämpfen und sehnte sich nach Kaffee aus einem der vielen Coffeeshops, an denen sie vorbeigekommen waren, seit sie Victoria Station verlassen hatten. Aber er war an diese Kinder gekettet. Er durfte sie nicht einen Augenblick aus den Augen lassen. Endlich erreichten sie das Gebäude, wo der Wettbewerb ausgetragen werden sollte. Als sie eintraten, verstummten die Kinder angesichts des herrschaftlichen Raums – ein hoch aufragendes Gewölbe mit farbig verglasten Fenstern, schweren Kronleuchtern, Marmorstatuen und polierter Mahagonitäfelung. Während Gray die Schüler anmeldete, standen sie ruhig und ehrfürchtig da. Dann führte er sie in den ihnen zugeteilten Bereich eines Raums, der vom Reviergerangel und nervösen Gedrängel von zusammengepferchten Kindern verschiedener Schulen brodelte. Gray versorgte seine Schüler mit Wassergläsern und Arbeitsbögen und eilte zurück zum Anmeldeschalter. »Ist es okay, wenn ich für ein, zwei Minuten rauslaufe, um mir einen Kaffee zu holen?«

»Sind alle aus Ihrer Gruppe registriert?«

»Ja, sie sind im Vorbereitungsraum.«

Der Beamte nickte, und Gray ging los.

Draußen stürmte es inzwischen so heftig, dass Zeitungsseiten und Straßenstaub emporgewirbelt wurden. Gray zog seinen Mantel fester um sich und lief in Richtung eines Coffeeshops, den er auf dem Hinweg gesehen hatte. Er bestellte einen extra starken Americano und einen Schokoladenmuffin und gerade als er den Laden verließ und sich wieder dem Universitätsgebäude zuwandte, sah er ihn.

Sein Gesichtsfeld trübte sich bis zur Sehstörung, und sein Herz pumpte viel zu viel Blut. Der Restalkohol, den er den ganzen Morgen über versucht hatte bei sich zu behalten, stieg ihm die Speiseröhre hoch, und einen Moment lang dachte er, er müsse sich übergeben. Er blieb auf der Stelle stehen, den Kaffee in der einen Hand, den Muffin in der anderen, und beobachtete den Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangging. Er war immer noch sehr schlank, trug ein rosa Oberhemd mit einer gestreiften Krawatte und eine eng sitzende Anzughose. Er wirkte verfroren und zerzaust, so ohne Jackett oder Mantel. Sein Haar war länger – damals hatte er es sehr kurz getragen –, und es war jetzt vom Wind zerzaust. Das schien ihn sehr zu stören, denn er versuchte immer wieder, die Haare mit den Fingern zurückzustreichen – vergeblich. Gray erkannte ihn an der markanten Kinnlinie, an seiner scharf geschnittenen Nase. Er war ein gut aussehender Junge gewesen, jetzt war er ein gut aussehender Mann. Im Vorbeilaufen auf der Straße würde man ihn für jünger halten, als er war. Aber Gray kannte sein Alter sehr genau. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein großspuriger, schmalhüftiger Neunzehnjähriger. Nun musste er um die einundvierzig sein.

Grays Finger konnten den Kaffeebecher nicht mehr halten, er fiel zu Boden. Dampfender Kaffee rann um seine Füße und sickerte in den nächsten Gully.

Rasch blickte er in Richtung Universität und dann zurück zu dem Mann auf der anderen Straßenseite. Der bog gerade um die Ecke. Gray beschleunigte seine Schritte und folgte ihm. Als er ihn durch eine Drehtür in ein Bürogebäude verschwinden sah, blieb er stehen.

Er schwankte einen Augenblick in dem böigen Wind, merkte sich den Schriftzug über der Tür und eilte dann zurück zu seinen Schülern. Sein Kater war jetzt vergessen, er hatte nur noch den einen Gedanken:

Mark Tate war am Leben.

Und wenn Mark Tate lebte, hieß das, dass auch Kirsty am Leben war?