1993
Gegen elf kamen noch mehr angetrunkene Leute ins Haus, direkt aus dem Hope and Anchor. Mark riss die Haustür auf, und die Gruppe stapfte herein. Gray beobachtete das Geschehen durch die Tür des Barzimmers. Er wusste nicht, was er von den neuen Gästen halten sollte. Sie waren älter, ihre Gesichter waren wettergegerbt, ihre Körper stämmig, und sie wirkten rau und grob. Die meisten von ihnen waren betrunken. Mark schien von ihrem Kommen unbeeindruckt.
»Kommt rein, kommt rein!«, rief er laut, klatschte sich mit jedem Einzelnen ab und hielt Faust an Faust. Dann nahm er ihnen die Tragetaschen voller Bier ab. »Zur Party geht’s da entlang.« Er deutete auf die Tür, wo Gray stand. Die neu angekommenen Gäste schauten sich im Haus um, schätzten die Deckenhöhe und bestaunten den Kristallleuchter. Ein kleiner Typ mit Pferdeschwanz schien all die Leute mit hierhergebracht zu haben. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen«, rief er Mark über die Schulter des Mannes vor ihm zu. »Wir haben noch ein paar Jungs auf dem Weg aufgegabelt.«
»Nein, nein, gar nicht.« Mark umklammerte fest die Hand des Mannes und vollzog dann einen komplizierten Handschlag mit Drehung. »Je mehr, desto besser. Dann wird es lustiger. Kommt nur rein.« Er winkte den Rest der Gruppe herein. Insgesamt waren sie etwa zwanzig, fast nur Männer, aber auch einige jüngere Mädchen und eine etwa fünfzigjährige Frau mit kahl rasiertem Kopf und gepiercten Augenbrauen.
Die drei Mädchen schauten neugierig, als die neuen Gäste hereinkamen. Alex stand rasch auf. »Guten Abend, Ladies und Gentlemen! Herzlich willkommen!«
Die Gäste stellten sich an die Bar, und Mark reichte ihnen Drinks. Gray stand an der Seite und starrte die Neuankömmlinge an. Der Typ mit dem Pferdeschwanz rollte einen Joint auf der Theke. Die kahl rasierte Frau rauchte bereits einen. Zwei jüngere Männer versuchten Izzy und Harrie anzubaggern, die darüber nicht wirklich unglücklich zu sein schienen. Gray wandte sich nach Kirsty um. Sie saß auf dem Kamingitter und starrte in die erloschene Glut.
»Komm«, sagte er und ging zu ihr. »Lass uns nach Hause gehen.«
Sie wandte sich zu ihm, und er erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie lächelte ihn liebevoll an, ihre Augen sprühten förmlich Funken. »Mein schöner Bruder«, sagte sie und zog ihn zu sich, um sein Gesicht in ihren Händen zu halten. »Sieh dich nur an. Sieh dir dein wunderschönes Gesicht an. Du bist so ein guter Mensch. So ein schöner Mensch.« Dann drückte sie ihn fest an sich.
Gray wich zurück und sah ihr in die Augen. »Mensch, Kirsty. Hast du noch mehr Ecstasy genommen?«, fragte er.
»Habe ich«, sagte sie und legte ihren Kopf in seine Halsbeuge. »Das habe ich wirklich.«
»Ach, Scheiße, Kirsty! Wie zum Teufel soll ich dich in diesem Zustand nach Hause bringen? Oh, verdammt noch mal! Wie viel von dem Zeug hast du genommen?«
»Nur eine.«
»Eine was? Ein Viertel? Eine halbe?«
»Eine ganze«, sagte sie.
»Du hast eine ganze E genommen! Zusätzlich zu dem Viertel!«
»Meine Güte, ich weiß es nicht. Wen kümmert es? Es ist einfach alles so schön. Dieses Haus, die Menschen. Und du, Gray. Mein schöner Bruder. Komm, wir gehen zu dem Pfau! Nun komm schon!«
Sie stand auf, und er musterte sie, bis sie den Blick abwandte. »In Ordnung«, sagte er und dachte bei sich, dass etwas frische Luft Kirsty guttun würde. »Lass uns zu dem Pfau gehen. Dann besorge ich dir einen Kaffee und ein großes Glas Wasser und bringe dich nach Hause. Aber, scheiße noch mal, Kirsty, du musst mir versprechen, dass du nichts mehr von dem Zeug nimmst. Ganz im Ernst. Das ist gefährlich.«
»Es ist nicht gefährlich, mein schöner Bruder. Wie könnte es gefährlich sein? Sieh doch mal, was dir passiert ist: Du hast dieses Mädchen geküsst! Im Ernst, Gray! E ist die Antwort auf alles!«
Gray drehte sich um und sah zu Izzy, die ihre Beine über den Schoß von einem der Männer aus dem Pub gelegt hatte und mit Harries Haaren spielte; Harrie hatte ihren Kopf in Izzys Schoß gebettet. Der Mann aus dem Pub sah aus, als wagte er vor Ehrfurcht nicht, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen. Unterdessen schob Mark Bierflaschen und Cocktails über die Theke, verteilte noch mehr von seinen weißen Pillen, die Musik wurde immer härter und das Geplapper immer lauter. Die Luft war voller Rauch und tanzender Schatten, und Gray war inzwischen ziemlich überzeugt, dass Marks Tante nicht zu Hause war.
»Dann komm mal«, sagte er. »Wir suchen den Pfau.«
Die Luft draußen war kühl und erinnerte mehr an Oktober als an den 1. August. Ein leichter Nebelschleier schwebte zwischen Himmel und Erde, und der Garten schimmerte silbern im Mondlicht. Die Bässe dröhnten auch hier noch laut, ein penetranter und primitiver Beat, und Kirsty ging tanzend und sich wiegend vorweg. Gray atmete tief ein und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Wirkung des Ecstasy hatte nicht lange angehalten, und abgesehen von dem manischen Glücksgefühl, als er vor einer halben Stunde Izzy geküsst hatte, konnte er keinerlei Veränderung feststellen.
Er suchte den Garten mit den Augen nach dem Pfau ab, dann erkannte er in einiger Entfernung ein unruhiges Schimmern, eine plötzliche Bewegung, schließlich ertönte ein gellender Schrei. »Da«, sagte er zu Kirsty. »Da ist er.«
Kirsty legte sich die Hand vor den Mund und flüsterte: »Oh, sieh nur, Gray. Sieh ihn dir an!«
Auf Zehenspitzen schlichen sie über das weiche Gras und setzten sich nicht weit entfernt von dem Pfau auf den Boden. Während sie ihn beobachteten, legte Kirsty wieder ihren Kopf in Grays Halsbeuge, und er spürte, wie diese Geste ihn rührte. Sie war noch nie zärtlich mit ihm gewesen. Sonst hatten sie beide immer einen höflichen Abstand zueinander eingehalten, aber jetzt hatte sie ihr Herz geöffnet und liebte ihn. Er legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie näher zu sich. »Ich liebe dich, kleine Schwester«, flüsterte er. »Liebe dich auch, großer Bruder«, antwortete sie wispernd.
Plötzlich drehte sich der Pfau dem Licht aus dem Haus und seinem Publikum zu, fächerte sein Federkleid auf und schüttelte es im Takt der Musik. Kirsty riss den Mund auf. »Wow! Er tanzt! Der Pfau tanzt!«
»Tatsächlich!« Gray lachte. »Er tanzt wirklich.«
Als er das sagte, bemerkte er einen Lichtstrahl, der auf den Rasen fiel. Kirsty und Gray drehten sich um und erkannten Mark, der mit einigen Bierflaschen in den Händen auf sie zukam.
»Hallo, ihr beiden«, sagte er laut.
Gray unterdrückte ein Stöhnen.
»Was macht ihr hier draußen?«
»Wir schauen nur dem Pfau zu«, antwortete Kirsty. »Er tanzt gerade!«
Mark setzte sich neben sie beide ins Gras und reichte jedem von ihnen ein Bier. »Tanzende Pfauen, wie?«
»Ja, schau doch!«
Aber der Pfau war verschwunden.
»Oh«, sagte Kirsty.
»Also«, sagte Mark und sah zu Gray. Ganz offensichtlich hatte er nicht das geringste Interesse an dem tanzenden Pfau. »Sieht so aus, als hättest du Izzy an die Dorftrottel verloren.«
Gray zuckte die Achseln. »Sie hat nie mir gehört.«
»Vorhin sah es aber ganz so aus, als wäre sie dein Mädchen.«
»Das sind doch nur die Drogen, nicht wahr? Das war nicht echt.«
Mark nickte. »So wie tanzende Pfauen?«
Gray ging nicht darauf ein. »Wer sind überhaupt all diese Leute?«
»Die sind aus dem Ort. Du weißt schon. Menschen, die wirklich das ganze Jahr über hier leben. Stell dir das mal vor.«
»Kennst du sie?«
»Einige von ihnen. Ich komme ja schon seit Jahren regelmäßig hierher, vergiss das nicht. Seit ich ein Kind war.«
Lange Zeit herrschte Schweigen, das nur von dem schrillen Gelächter aus dem Haus durchbrochen wurde.
»Also«, sagte Mark nach einer Weile. »Neulich Morgen. Was zur Hölle war da los?«
»Was meinst du?«
»Du weißt genau, was ich meine. Der Morgen, als ich regelrecht abserviert wurde, von dir und deinen Eltern. Auf eurer Türschwelle. Das war nicht sehr nett.«
Weder Gray noch Kirsty sagten ein Wort.
»Ich nehme schwer an, dass es genau das war. Oder nicht? Ich wurde per Stellvertreter abserviert.«
Gray zog Kirsty näher zu sich heran. »Sie hat sich nur krank gefühlt. Sie war einfach nicht in der richtigen Stimmung.«
Kirsty sagte nichts, sondern schmiegte sich nur noch enger an Gray.
»Fühlst du dich denn jetzt wieder besser?«, hakte Mark nach. »So gut, dass du morgen Abend mit mir ausgehen kannst?«
Während er sprach, zupfte er ein paar Grashalme. Seine Stimme klang schrill. Seine Energie hatte etwas Manisches.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kirsty. »Ich bin nicht sicher.«
»Was heißt das denn schon wieder? Entweder du stehst auf mich, oder du stehst nicht auf mich. Entweder du willst mit mir ausgehen oder nicht. Entweder da läuft was, oder da läuft nichts.«
Kirsty erwiderte nichts.
»Also?«
»Hör mal, Mark. Es ist schon spät. Sie ist zugedröhnt. Ich muss sie jetzt nach Hause bringen. Lass uns ein anderes Mal darüber reden, okay? Wenn wir alle ein bisschen weniger … chemisch drauf sind.«
»Aber kapierst du das denn nicht? Genau deshalb sollten wir jetzt darüber reden. Solange unsere Gefühle an die Oberfläche dringen. Solange wir uns echt fühlen.«
»Mark.« Gray seufzte. »Das ist nicht echt.«
»Natürlich ist das echt. Alles, was du fühlst und siehst, ist echt. Es ist alles da drin.« Er zeigte auf Grays Kopf. »Es ist alles hier drin.« Er deutete auf sein Herz. »Man braucht nur einen Schlüssel, um den Zugang zu öffnen. Einen Schlüssel wie E oder Alk. Also …« Er wandte sich abrupt um, sodass er Kirstys Gesicht plötzlich sehr nah war. »Also frage ich dich jetzt, Kirsty: Was ist los? Ey?«
Gray stand auf und zog auch Kirsty auf die Füße. »Im Ernst, das ist nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der richtige Ort, Kollege. Ich bringe sie jetzt nach Hause, okay?«
Mark packte Kirsty am Arm und zog sie wieder auf den Rasen. Sie landete mit einem dumpfen Knall auf ihrem Hinterteil.
Gray stieß mit beiden Händen Marks Schultern fort und sagte: »Verdammt noch mal, lass sie los!«
Er versuchte, Kirsty wieder aufzurichten, als Mark plötzlich aufsprang, ihn auf den Rasen warf und schon halb auf ihm saß. Grays Oberkörper traf Kirsty, die vor Schmerzen aufschrie. Gray richtete sich auf und holte weit zum Schlag aus, aber Mark bekam seine Faust zu fassen und ließ sie nicht mehr los. Mit dem anderen Arm zog Mark Kirsty zu sich und klemmte ihren Hals in seiner Armbeuge ein. Gray zerrte an Kirstys Armen, aber dadurch wurde Marks Klammergriff um ihren Hals nur umso fester, daher packte er Marks Handgelenk und versuchte, seinen Arm fortzuziehen. Mark rammte seinen rechten Fuß zwischen Grays Beine und verfehlte nur um Haaresbreite seine Genitalien. Gray rollte nach hinten weg, konnte sich aber gleich wieder aufsetzen. Er wollte Mark gerade erneut angreifen, als er sah, wie das silberne Klappmesser im Mondlicht leuchtete. Gray hielt augenblicklich inne. Mark hielt das Messer an Kirstys Hals und keuchte schwer. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er leckte sich die Lippen.
»Jetzt sieh dir das an«, sagte er zu Gray. »Sieh dir an, wozu du mich gezwungen hast.«