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Sobald sie einen Fuß in das Hope and Anchor gesetzt haben, kann Frank sich erinnern. Er weiß, dass er schon mal hier war, und diesmal zucken und zischen seine Nervenbahnen nicht, diesmal übertragen sie klar und deutlich ihre Botschaft: Ja, er war hier, und an dem Abend ist eine blonde Sängerin aufgetreten, und ein Mädchen begleitete sie am Klavier, und dann war da noch … Sofort hat er wieder den scharfen Geschmack im Mund … Tequila, eine angespannte Atmosphäre, und das Mädchen mit den braunen Haaren war ebenfalls hier. Und jetzt fällt ihm auch wieder ihr Name ein. Wie ein Felsbrocken landet er zu seinen Füßen. Kirsty. Das Mädchen heißt Kirsty, und er liebt sie. Er liebt sie wirklich.

Frank schafft es, nicht das Bewusstsein zu verlieren, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen und seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Er gelangt zu dem Tisch, der für sie in einem kleinen Nebenraum reserviert ist, zieht den Stuhl vor und setzt sich schwerfällig hin. Er schließt die Augen und versucht der Erinnerung nachzujagen, die rasend schnell in den dunkelsten Ecken seines Verstandes verschwindet. Ein oder zwei Sekunden lang kann er das Bild festhalten, gerade lange genug, um freundliche grüne Augen, eine Windjacke, billige Turnschuhe und ein leicht dümmliches Lächeln zu sehen. Sein Herz schmerzt so sehr, dass er mit beiden Händen hinfasst und es massiert.

Alice hat seinen Stimmungswechsel nicht bemerkt. Sie ist damit beschäftigt, Sadie auf ein schmuddeliges Schaffell zu bugsieren, das sie mitgebracht hat, gleichzeitig versucht sie herauszufinden, was Romaine essen möchte (»Am Sonntag gibt es kein Omelett, Meckerliese«) und Jasmine dazu zu bringen, die Ohrknöpfe rauszunehmen und ihr Telefon auszuschalten. Bis sie Frank ihre Aufmerksamkeit schenkt, ist dieser besondere Moment vorüber, und er fühlt sich wieder normal.

»Rind oder Schwein oder Hühnchen?«, fragt Alice.

Frank widmet sich der Speisekarte und wendet sich an Romaine, die sich neben ihn gesetzt hat. »Was nimmst du denn?«

»Röstkartoffeln.«

»Nur Röstkartoffeln?«

»Ja.« Romaine schmollt, die Arme über der Brust verschränkt.

Alice sieht Frank mit hochgezogenen Augenbrauen an und seufzt. »Ich kann nichts dafür. Mein Kind behauptet, dass Fleisch nach Blut schmeckt. Zumindest wenn es nicht paniert ist oder von Blätterteig und Käse umhüllt oder als Hack in einer Bolognese.«

Frank nickt und sagt zu Romaine: »Also, eigentlich wollte ich das nehmen, was du nimmst, aber jetzt nehme ich wohl das Hühnchen.«

Romaine zuckt die Achseln, als ob ihr nichts auf der Welt gleichgültiger wäre. Alice und Frank lächeln sich über ihren Kopf hinweg an.

»Müde«, formt Alice beinahe lautlos mit den Lippen.

Frank nickt und sieht sie unverwandt an. »Ich habe mich an etwas erinnert«, sagt er, als die drei Kinder anfangen, sich zu unterhalten.

»Geht es dir gut?«

»Ja.« Er lächelt. »Mir geht’s gut. Heute war es ganz anders. Die Bilder waren klar und deutlich. Ich habe eine Sängerin gesehen, die stand dort.« Er deutet auf den großen Schankraum. »Und eine Pianistin. Und ich habe mich an das Mädchen mit den braunen Haaren erinnert. Richtig erinnert. Und Alice«, sagte er freudig. »Ihr Name ist mir wieder eingefallen!«

Alice zieht eine Augenbraue hoch. »Im Ernst?«

»Ja! Kirsty! Sie heißt Kirsty!«

Alices Gesicht verdunkelt sich, und sie sagt: »Oh, wow! Das ist fantastisch, Frank!«

»Ich weiß«, sagt er. »Ich glaube, das war der Knackpunkt. Ich glaube, jetzt werden meine Erinnerungen wieder zurückkommen. Genau wie du gesagt hast.«

»Und wer war sie?«, fragt sie nachdenklich. »Ist dir auch wieder eingefallen, wer sie war?«

»Nein, das nicht«, antwortet er. »Aber ich habe mich erinnert, dass ich sie liebe. Ich habe sie sehr geliebt. Und …« Er fasst sich wieder ans Herz. Beim Gedanken an das hübsche Mädchen aus seiner Vergangenheit hat er sofort wieder Schmerzen. »Ich vermisse sie. Ich vermisse sie schrecklich.«

Alice streckt ihren Arm über Romaines Stuhllehne hinweg aus und drückt leicht seine Schulter. »War sie deine Frau?«, fragt sie beinahe flüsternd.

»Ich weiß es nicht«, antwortet er. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Das ist ein lustiger Gedanke, nicht wahr? Dass du eine Frau haben könntest.«

Er zuckt die Achseln. Das ist nicht lustig. Das ist schrecklich. Er denkt an das, was Jasmine gestern beim Abendessen zu ihm gesagt hat, dass es gemein von ihm wäre, nicht herausfinden zu wollen, wer er sei, weil es vielleicht Menschen gibt, die sich Sorgen um ihn machen. Bis zu diesem Moment hatte er keine Vorstellung davon, was das wirklich bedeutet. Er hatte keine Gefühle außer für die Menschen in seiner unmittelbaren Nähe. Jetzt liebt er plötzlich jemanden von früher. Er liebt Kirsty.

Er sieht, wie Alice sich zu einem Lächeln zwingt. Sie streicht ihm über die Schulter und legt ihre Hand dann rasch wieder zurück in ihren Schoß.

Die Kellnerin erscheint mit einem Notizblock. Frank dreht sich um und bestellt sein Essen, aber ihm entgeht nicht, dass Alice mit leeren, tränenfeuchten Augen in die Ferne starrt.

Auf dem Heimweg nimmt Alice nicht Franks Hand. Die Kinder würden sich darüber aufregen, und sie will es auch gar nicht. Das Ende dieser Begegnung ist abzusehen, das weiß sie, und diese Aussicht gefällt ihr gar nicht. Das Ende ist grausam und gemein. Sie wird allein in ihrem Zimmer sitzen und Kunst aus Karten für Menschen machen, die diese dann ihren Liebsten schenken. Sie wird auf einem vollgekrümelten Sofa Fernsehen gucken, umgeben von stinkenden Hunden und launischen Teenagern, mit einem Windhund zu Bett gehen, am nächsten Morgen mit fettigen, schlecht getönten Haaren aufwachen – und es wird ihr vollkommen egal sein. Der schöne Mann mit dem kastanienbraunen Haar und den freundlichen Augen und den starken Händen wird gehen und sie hier zurücklassen, in einem Leben, mit dem sie ganz zufrieden war, bis er vor fünf Tagen am Strand auftauchte. Wie es scheint, wird ihr das Beste entrissen, was ihr seit Langem passiert ist, bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, es richtig zu genießen.

Alice ist still auf dem Heimweg. Sadie humpelt an ihrer Seite. Jasmine geht voraus und hört wieder Musik über Kopfhörer; sie sieht niedergeschlagen und verletzlich aus: Diese Miene setzt sie absichtlich auf, glaubt Alice. Kai und Romaine gehen Hand in Hand, in ein Gespräch vertieft. Möwen kreisen am Horizont, und ein riesiges Kreuzfahrtschiff funkelt matt in der Ferne, so weit weg von dem kleinen, alten Fischerort Ridinghouse Bay, dass es fast wie ein Raumschiff wirkt.

»Ist alles in Ordnung, Alice?«, fragt Frank und sieht sie mit sanftem, besorgtem Blick an.

»Mir geht’s gut«, sagt sie. »Bin nur gerade etwas nachdenklich.«

Er nickt und schaut in die Ferne; dann wendet er sich wieder an sie: »Sie könnte tot sein, weißt du? Das Mädchen mit Namen Kirsty. Vielleicht war sie in jungen Jahren meine Freundin. Sie sieht wirklich sehr jung aus. Ein Teenager. Sehr unwahrscheinlich, dass ich noch mit ihr zusammen bin, auch wenn ich sie 1993 geliebt habe. Oder wann das auch war, als ich in Ridinghouse Bay war.«

Alice weiß überhaupt nicht, was sie darauf antworten soll. Kirsty könnte seine Ehefrau, seine Tochter, seine erste Liebe oder auch seine Schwester sein. Darum geht es nicht. Tatsache ist, er liebt sie. Liebt sie in der Gegenwart. Das bedeutet, dass Alice nicht länger so tun kann, als würde Frank nur ihr allein gehören.

Er seufzt und sagt: »Na ja, wie auch immer. Ich bin sicher, sobald wir morgen alles herausgefunden haben, wirst du mich nicht mehr sehen wollen. Egal, ob ich nun verheiratet bin oder nicht.«

Alice bleibt stehen und sieht Frank an. Er versteht es nicht, denkt sie, er versteht rein gar nichts. »Ich will dich immer sehen, Frank«, sagt sie. »So oder so. Die Frage ist doch, ob du mich dann noch sehen willst.«