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1993

An diesem Abend aßen sie auswärts. Die spontane Einladung zum Tee hatte ihre Pläne für den Tag durcheinandergebracht. Sie hatten keine Zeit gehabt, einkaufen zu gehen, daher hatte Kirsty gesagt: »Warum essen wir heute Abend nicht am Strand? Das wäre doch schön.«

Es war ein herrlicher Abend, kühl, aber die Sonne schien noch am leuchtend blauen Himmel. Tony hatte vorgeschlagen, dass sie in das schicke Fischrestaurant mit der überdachten Terrasse am anderen Ende der Stadt gehen sollten, wo man einen wunderbaren Blick aufs Meer hatte. »Aber keine Vorspeisen«, hatte er noch befohlen.

Gray betrachtete Kirsty über den Rand der Speisekarte hinweg. Sie sah anders aus als sonst.

»Was ist los?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte.

»Nichts«, gab er zurück. »Was nimmst du?«

»Scampi«, sagte sie und schlug die Speisekarte zu.

Wimperntusche. Das war es. Sie hatte Wimperntusche benutzt.

»Was nimmst du?«

»Ein Minutensteak«, antwortete er.

Sie gähnte demonstrativ. Gray bestellte immer Steak.

»Worüber habt ihr euch unterhalten?«, fragte er. »Du und dieser Spinner?«

»Ach, Graham«, mischte sich seine Mutter ein. »Das ist nicht nett von dir.«

»Na ja«, entgegnete er. »Er ist nicht gerade das, was man normal nennt, oder?«

»Nein«, sagte Tony. »Aber ehrlich, wer ist das schon? Das kapiert man, wenn man älter wird. Die Menschen sind etwas seltsam, das gilt für jedermann.«

»Ja, aber nicht jeder verschwindet mit deiner fünfzehnjährigen Tochter im hintersten Winkel des Gartens, um sich ›Esel‹ anzusehen.«

»Da war aber ein Esel!«, sagte Kirsty bockig.

Gray seufzte.

»Der Esel hieß Nancy. Ein schönes Tier. Und Mark ist nicht komisch. Er ist nur … vornehm.«

»Er ist vornehm und seltsam. Ich meine, wer lädt eine wildfremde Familie zum Tee ein?«

»Er langweilt sich«, sagte Kirsty. »Das hat er mir erzählt. Er hat sich bereit erklärt, seiner Tante hier Gesellschaft zu leisten, weil er glaubte, Freunde von früher wiederzutreffen. Aber jetzt ist keiner von denen da, und er muss hierbleiben und hat niemanden, mit dem er sich treffen kann.«

»Also hat er beschlossen, dass er mit der Familie Ross aus Croydon abhängen will?«

Kirsty zuckte die Achseln.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch und nahm die Bestellungen auf. Gray blickte auf die Steam Fair unterhalb der Terrasse des Restaurants. Es war ein angenehmer Abend, und der Strand war voller Menschen: Teenagercliquen und Familien. Gray musste ein zweites Mal hinschauen, als er einen flüchtigen Blick auf einen Kopf mit dunklen, zurückgegelten Haaren erhaschte. Er folgte dem Kopf auf seinem Weg durch die Menge. Das war er doch, oder etwa nicht? War das Mark? Die Gestalt umrundete die Autoscooter, dann blieb sie stehen und kaufte ein Eis. Dann steuerte sie auf das Restaurant zu, und als sie sich näherte und aufschaute, flüsterte Gray kaum hörbar: »Mensch.«

»Was hast du gesagt?«, fragte Kirsty.

Mark begegnete Grays Blick und hob grüßend seine Eistüte in die Höhe.

»Mensch«, murmelte Gray noch einmal. Dann hob er die Hand und erwiderte Marks Gruß.

»Was ist denn?« Kirsty schob sich hoch, um zu sehen, wo er hinschaute. »Oh!«, sagte sie. »Mark ist da!« Sie winkte, und Mark winkte ebenfalls. Gray verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte.

»Komm runter«, hörte er Mark rufen. »Wenn du mit dem Essen fertig bist. Ich warte auf dich!«

Kirsty war rot im Gesicht, als sie sich wieder hinsetzte.

»Du gehst nicht zu ihm, oder?«, fragte Gray ungläubig.

»Warum denn nicht?«

»Weil du erst fünfzehn bist! Und er ist neunzehn! Mum, Dad, ihr lasst sie doch nicht mit diesem Typen losziehen?«

Pam und Tony sahen sich an, dann schauten sie zu Gray. Pam sagte: »Ich wüsste nicht, wieso Kirsty nicht zu Mark an den Strand gehen sollte. Was meinst du?« Sie warf Tony einen Blick zu.

Tony schüttelte den Kopf. »Solange du um zehn Uhr zu Hause bist, ist das in Ordnung.«

Der Rest der Mahlzeit war Gray verdorben. Hin und wieder blickte er verstohlen zum Strand hinunter und ortete Marks unnatürlich glänzende Haare. Wer ging schon allein zum Rummel? Wer wartete eine Stunde lang darauf, bis eine Fünfzehnjährige ihr Abendessen beendet hatte?

Grays Minutensteak war hart und zäh, die Pommes waren zu fettig, und das Ketchup war nicht von Heinz. Als er den Teller zur Hälfte leer gegessen hatte, legte er sein Besteck beiseite. Ihm fiel auf, dass Kirsty ihre Scampi hinunterschlang und immer zwei auf einmal in den Mund nahm. Dann knallte sie Messer und Gabel auf den Teller, stürzte den Rest Cola hinunter, ließ sich von Tony fünf Pfund geben und lief los.

Gray drehte sich um und blickte ihr nach. Er sah, wie seine kleine Schwester die Treppe hinunter zu Mark rannte, der beim Eingang auf sie wartete. Plötzlich hatte Kirsty die Füße nicht mehr nach innen gedreht, und ihr Gang wirkte auch nicht mehr so eckig. Mark begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung und einem Kuss auf die Wange. Dann stand er lächelnd neben ihr, eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Schließlich nahm er sie am Arm und mischte sich mit ihr unter die Menschenmenge.

Gray fiel wieder die Wimpertusche ein, und in dem Moment begriff er, dass die beiden dieses Treffen bereits in Kittys Garten verabredet hatten. Er überlegte, was sie sich wohl erzählten. Er stellte sich Mark vor, der verschwörerisch lächelte, und sagte: »Acht Uhr. Sorg dafür, dass du dann wegkannst.« Und seine Schwester, seine wunderbare, dumme, ungeküsste Schwester sagte: »Ich werde kommen!«, als ob dieser Moment eine Szene in einer dämlichen Show auf dem Disney Channel wäre.

Gray stand auf und sagte zu seinen Eltern: »Ich gehe ein bisschen spazieren. Ich sehe euch dann später im Cottage.«

»Möchtest du keinen Nachtisch?«, fragte seine Mutter.

»Nein«, antwortete er und legte eine Hand auf den Bauch. »Ich fühle mich nicht allzu gut. Ich glaube, das liegt an dem ganzen Kuchen vorhin.«

»Oh«, sagte seine Mutter mitfühlend und streichelte seine Hand. »Gut. Dann schnapp jetzt etwas frische Luft, und wir sehen uns später.«

Er lächelte die beiden an und ging in Richtung der Steam Fair davon. Auf der Kaimauer oberhalb des Rummels fand er einen guten Aussichtspunkt. Er nahm die Sonnenbrille ab, setzte sich hin und beobachtete den Strand.