Lily sieht sie alle vor dem Haus stehen, ins Gespräch vertieft. Sie seufzt, nimmt eine entschlossene Haltung an und geht mit fröhlichem »Hallo!« auf die kleine Gruppe zu.
Als die drei Frauen und der Mann namens Frank sich umdrehen, schreckt sie zurück.
»Was ist los?«, fragt sie.
Sie wechseln seltsame Blicke, und dann lächelt die Frau namens Lesley und sagt: »Nichts. Alles gut. Und wie sind Sie weitergekommen?«
Lily seufzt wieder. Ihre kurzen Nachforschungen im Städtchen haben nur wenig ergeben. Kitty Tate war zuletzt vor etwa zwei Jahren in Ridinghouse Bay gesehen worden, und zwar von der Dame, der das noble Schuhgeschäft gehört. Kitty hatte ihr erzählt, dass sie nur für einen Tag da sei, um einen Käufer für ihren Flügel zu treffen, und dass sie nicht über Nacht bleiben, sondern am frühen Abend nach Hause fahren wolle. Sie hatte ein Paar Lederstiefel anprobiert, aber nichts gekauft. Sie machte einen unglücklichen Eindruck.
Niemand schien genau zu wissen, wo Kitty jetzt lebt. »Richtung Harrogate« war die allgemeine Annahme.
»Man sagt, dass sie schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen ist«, berichtet Lily. »Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Gestern ist sie hier gewesen.« Sie zuckt die Achseln. »Also bleibt alles ziemlich mysteriös.«
»Und was ist mit Ihrem Freund? Der in die verlassene Wohnung gehen soll? Haben Sie schon etwas von ihm gehört?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe ihn vor ein paar Minuten angerufen. Er war im Zug, noch zwanzig Minuten entfernt. Wir müssen abwarten.«
»Na schön«, sagt Lesley und blickt zur Villa hinüber. »Sollen wir reingehen?«
Der Mann, den sie Frank nennen, benimmt sich seltsam, als er das Haus betritt. Er bewegt sich zögerlich und langsam, seine Hände streichen über die Wände und die Oberflächen, während er weitergeht. Er schaut sich um, und Lily bemerkt, dass seine Hände zittern.
»Es ist alles ganz genauso«, sagt er. »Es ist genauso, wie es war. Außer …« Er dreht sich um und sagt zu Alice: »Es ist tot.«
Ja, denkt Lily, ja. Es ist ein totes Haus. »Es gibt ein Zimmer, das noch lebendig ist«, sagt sie. »Kommt mit!«
Schweigend folgen sie ihr hinauf. Als sie die zweite Treppe hochgehen, beginnt Frank unkontrolliert zu zittern.
»Hier hat er uns hergebracht. Hier hat er uns hineingezerrt. Und hier« – er zeigt auf die Stufe, auf der er gerade steht – »genau hier hat er meine Schwester auf den Boden gedrückt und versucht, sie zu vergewaltigen. Vor meinen Augen.«
Er kniet sich hin und fährt mit den Fingerspitzen über den alten Teppich. »Seht hier, Blut! Das ist Marks Blut. Ich habe ihm mit einem Kleiderbügel den Kopf aufgeritzt.« Plötzlich schaut er Lily direkt ins Gesicht: »Ihr Mann, hat er eine Narbe? Unter seinem Haar? Ungefähr hier?« Er zeigt auf seine Schädeldecke.
»Mein Mann hat sehr dichtes Haar«, antwortet Lily. »Wie soll ich wissen, ob er eine Narbe hat.« Aber das ist eine Lüge. Sie hat die Narbe, die Frank beschreibt, nachts gespürt, wenn sie mit ihren Händen durch sein Haar strich. Er hat dort eine Wulst, harte Haut, wie ein kleines Stück altes Kaugummi. Sie hat ihn einmal danach gefragt; er hat gesagt, es käme von einem Unfall in der Kindheit. Deshalb hat sie diese Narbe geliebt, geliebt sowohl als körperlichen Teil von ihm als auch als symbolisches Zeichen seiner persönlichen Geschichte, an der er sie so selten teilhaben ließ. Wenn sie sich liebten, hatte sie die Narbe gesucht, sie mit ihren Fingerspitzen berührt, verstohlen und flüchtig. Und nun war dieselbe Narbe zum Beweis geworden, als ob sie angesichts so vieler anderer Beweise noch einen brauchte, dass der Mann, den sie über alles liebte, der Mann, für den sie ihre Familie, ihr Zuhause und ihr Leben aufgegeben hatte, ein gewalttätiger und böser Mann war, der Frauen misshandelte. Sie unterdrückt das alles und führt die anderen weiter hinauf zum Dachzimmer.
»Das ist das Zimmer«, sagt Frank, als Lily die Tür aufstößt. »Das Zimmer, wo er uns eingesperrt hat. Nur sieht es jetzt völlig anders aus.«
Eine Weile bleiben alle in der Tür stehen und schauen hinein.
»Also gut«, sagt Lily. »Wir müssen uns aufteilen. Und wir müssen alles kriminalistisch untersuchen, bis wir etwas mit Kittys Adresse darauf gefunden haben.«
Es dauert nicht lange. Alice findet sie auf einem Lieferschein hinten in der Schublade eines alten Küchenschrankes.
Mrs. Kitty Tate
The Old Rectory
Coxwold
Harrogate
YO61 3FG
Sie alle starren einen Augenblick darauf. Lily weiß nicht, was sie denken soll. Sie möchte diese Frau kennenlernen, diese Frau, die – aus welchen Gründen auch immer – über viele Jahre Carl vor der Polizei geschützt hat, die vorgegeben hat, seine Mutter zu sein, als sie an dem Tag ihrer Hochzeit miteinander gesprochen haben, diese traurige, einsame Frau, die nach Jasmin duftet, schöne Kleider besitzt und sich vor den Leuten dieser Stadt in einem toten Haus auf den Klippen versteckt. Sie möchte sie kennenlernen, damit sie alles besser verstehen kann. Aber sie hat auch Angst, Dinge zu hören, die sie Carl hassen lassen.
Und während sie darüber nachdenkt, klingelt ihr Telefon. Es ist Russ. Sie schaut auf ihr Telefon, dann auf die anderen, in ihren Gesichtern die verschiedensten Emotionen – von Angst, Betroffenheit bis zu Ungeduld. Sie holt tief Luft, und dann geht sie ran.
»Hallo, Russ. Bist du schon dort?«
»Ja«, sagt Russ. »Aber Carl ist nicht hier.«
Sie streicht ihr Haar aus dem Gesicht und runzelt die Stirn. »Bist du an der richtigen Stelle?«
»Ja, ja. Wohnung Nummer eins, Wolf’s Hill Boulevard. Er war mit Sicherheit hier. Ich sehe die Schnüre, die Stricke … Es ist ein übles Chaos. Es ist … Na ja, er muss eine ganze Weile hier gewesen sein, lass es uns mal so ausdrücken. Aber jetzt ist er nicht hier. Er ist weg.«
Ihr Herz schlägt schneller, und sie fühlt sich erleichtert. »Oh, Gott sei Dank. Dafür danke ich Gott.«
Die anderen starren sie mit großen Augen an.
»Gut, ja«, fährt Russ fort. »Einerseits ist das gut. Andererseits … Wer weiß, wo er ist? Was er tut? Ich meine, Lily, er könnte gefährlich sein.«
Sie zieht ärgerlich die Luft ein, weiß aber, dass ihr Ärger unangebracht ist. Dennoch ist sie nicht imstande, ihre Gefühle zu ändern. »Mir gegenüber nicht!« Damit beendet sie das Gespräch.
Die anderen starren sie immer noch an.
»Er ist nicht dort«, sagt sie.
»Sie meinen, er ist entkommen?«, fragt Alice fassungslos.
Lily seufzt. »Ja. Er hat sich befreit und ist geflüchtet.« Sie möchte nicht darüber nachdenken, dass er nicht versucht hat, sie zu kontaktieren, dass er sie nicht gesucht hat.
Derry und Alice schauen Frank fragend an.
»Du hast ihn nicht getötet?«, fragt Alice.
Er sieht bleich aus und erschüttert. »Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich dachte … aber vielleicht doch nicht. Vielleicht war er nur bewusstlos?« Er seufzt. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Für einen Augenblick sagt keiner ein Wort.
Dann sieht Lesley auf ihre Armbanduhr und verkündet: »Also gut. Es ist Viertel nach zwölf. Ich werde im Büro anrufen und sagen, dass ich heute nicht mehr komme. Dann fahre ich nach Coxwold, um Kitty Tate ausfindig zu machen. Was ist mit euch?«
Derry erklärt, dass sie Romaine und Daniel von der Schule abholen wird. Sie verabschiedet sich, und die anderen warten darauf, dass Lesley mit ihrem Auto zurückkommt. Sie sitzen auf der Vordertreppe des großen weißen Hauses und schweigen verlegen. Es ist ein schöner Tag geworden; der Himmel ist hellblau, und eine sanfte Brise treibt Kirschblüten vor ihre Füße.
Schließlich wendet sich Lily Frank zu. »Also. Sie dachten, Sie hätten ihn getötet?«
Er sieht sie an, als hätte er vergessen, dass sie da ist. Dann nickt er. »Ja«, sagt er einfach. »Das stimmt.« Er wendet sich von ihr ab und betrachtet seine Hände. »Der Mann, den Sie lieben, ist ein Monster«, fügt er ruhig hinzu.
»Sie haben versucht, ihn umzubringen. Sie haben ihn liegen lassen im Glauben, er sei tot. Was sind Sie denn dann?«
Frank seufzt. Einen Augenblick lang herrscht Schweigen. Nur das ferne Krächzen von Möwen, das Kratzen kleiner Vögel in der Hecke, das Lied eines Buchfinken, der von Baumwipfel auf sie niederblickt, sind zu hören. »Ich habe Unrecht begangen«, sagt er, »aber das macht mich nicht zu einem Monster.«