38

Lily und Russ haben die Süd-Ost-Autobahn verlassen und sind auf dem Weg Richtung Norden.

»Also«, sagt Lily, »wie hast du Jo kennengelernt?«

»Oh Gott, jetzt fragst du aber was.«

»Ja«, sagt sie, »warum nicht.«

Er lächelt und sagt: »Bei der Arbeit.«

»Wo du auch Carl kennengelernt hast?«

»Nein, wo ich vorher gearbeitet habe. Sie war meine Chefin.«

»Aha«, sagt Lily. »Das passt.«

»Findest du?«

»Ja, weil sie so bestimmend ist.«

Russ lacht laut auf. »Ist sie nicht!«

»Ist sie wohl! Sie will nicht, dass du mit mir frühstückst. Sie will nicht, dass du mich nach Yorkshire fährst. Sie wirft dir dein Mittagessen an den Kopf.«

»Nein, im Ernst, das liegt daran … Sie ist oft sehr müde. Daran liegt es. Und sie fühlt sich während der Woche irgendwie eingesperrt …«

»Eingesperrt?«

»Weißt du, so wie ein Hund im Zwinger. Sie sehnt sich danach, mal rauszukommen. Sie lebt nur für die Wochenenden, wenn ich zu Hause bin und wir uns die Kinderbetreuung aufteilen können. Wenn wir was Schönes unternehmen, Zeit mit Darcy verbringen.«

Lily schaudert. Sie möchte kein Kind, bevor sie fünfunddreißig ist. Das hatte sie Carl gesagt, und er meinte, er würde so lange warten, wie sie es wünschte. Aber jetzt kann sie sich in diese Frau, Jo, hineinversetzen. In den letzten zwei Wochen hat sie sich selbst manchmal eingesperrt gefühlt. Sie wäre auch äußerst unglücklich gewesen, wenn Carl sie am Wochenende einen ganzen Tag allein gelassen hätte, um eine andere Frau durch die Gegend zu fahren. Und sie hat noch nicht einmal ein Baby, um das sie sich kümmern muss. Sie nickt und sagt: »Ich verstehe sie. Sagst du ihr bitte, dass es mir leidtut? Ich bin ihr sehr dankbar. Und ich möchte ihr etwas schenken.«

»Nein, nicht nötig, lass das sein. Aber ich erzähle ihr, was du gesagt hast. Jo ist ja kein Unmensch. Wirklich nicht. Sie ist ein Schatz. Sie ist überhaupt die Beste. Ich habe so ein Glück mit ihr.«

»Wie sieht sie aus?«

»Sie ist schön«, sagt er. Lily fragt sich, ob das heißt, so schön wie sie, oder nur im Vergleich zu ihm. »Rote Haare, grüne Augen. Umwerfend.«

Lily schaut Russ an, wie ein Leuchten von ihm ausgeht, wenn er von seiner Frau spricht. Genauso geht es ihr, wenn sie über Carl spricht. Als wäre sie verzaubert.

»Hier.« Er greift in die Innentasche seiner Jacke und zieht eine Brieftasche heraus. »Hier, ich hab ein Foto dabei. Schau es dir an.«

Sie nimmt seine Brieftasche und öffnet sie. Das Foto zeigt eine hübsche Frau mit Brille, die ein Dickerchen von Baby hält. Sie gibt ihm die Brieftasche zurück. »Sehr schön«, sagt sie. »Du hast wirklich Glück.«

Sie fühlt in ihrer Manteltasche nach dem Schlüssel, den sie in Carls Aktenschrank gefunden hat, nach der beruhigend massiven Kugel. Und dann berühren ihre Finger die zusammengerollten Zwanzigpfundscheine, die sie mitgenommen hat, falls sie ein Zimmer in einem Hotel nehmen oder eine Bahnfahrkarte nach Hause kaufen muss. In ihrer Tragetasche hat sie das Fotoalbum von der Hochzeit, um es Carls Mutter zu zeigen, und einige Fotos ihrer Familie in Kiew. Noch immer hofft sie, dass die Frau nachgeben wird, wenn Lily erst vor ihrer Tür steht. Dass sie sie hereinbittet, Tee einschenkt, sich interessiert zeigt.

»Wie steht es mit dir?«, fragt Russ. »Wie hast du Carl kennengelernt?«

»Hat er dir das nicht erzählt?«

»Nein. Nur das Allernötigste, wie mit allem.« Russ lacht. »Als er aus der Ukraine zurückkam, hat er nur gesagt, dass er jemand Besonderen kennengelernt hat.«

Sie erzählt ihm die Geschichte von der Konferenz damals im Februar, von dem Job, den sie ihrer Mutter zuliebe angenommen hatte, von dem ersten Mal, als sie ihn gesehen und in demselben Augenblick Bescheid gewusst hatte.

»Und wann hat er dich gebeten, ihn zu heiraten? War das gleich da?«

»Nein, nein, er ist nach einer Woche wiedergekommen.« Ein weiches Lächeln gleitet über ihr Gesicht bei der Erinnerung. »Mit einem Ring. Es war der schönste Augenblick in meinem ganzen Leben.«

»Und wie … ?« Russ zögert, beginnt noch einmal: »Wie ist er? Ich meine, so im Alltag? Ich bin … ich kann ihn mir gar nicht vorstellen als Privatmann.«

»Er ist wundervoll. Er bringt mir jeden Tag etwas mit, Schokoladentrüffel, eine Rose, eine Haarspange. Er schreibt mir SMS, verliebte Worte. Wenn er nach Hause kommt, kümmert er sich um mich, er kocht, lässt mir ein Bad ein und reicht mir das Handtuch. Er vergöttert mich.«

»Wow«, sagt Russ, während er in den Seitenspiegel schaut und in den Rückspiegel, bevor er auf die mittlere Fahrspur schwenkt. »Das ist erstaunlich. Irgendwie kann ich mir das gar nicht vorstellen.«

»Ich kann es nicht erklären«, sagt sie. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es ist mehr als Liebe, es ist Obsession.«

»Das kann, nun ja … Da ist eine dunkle Seite dabei, stimmt’s? Bei der Besessenheit?«

»Eine dunkle Seite gibt es bei allem, Russ.«

»Ha!« Er lacht. »Natürlich, das stimmt wohl. Wahrscheinlich hast du recht.«

»Ich bin eine tief melancholische Person.«

»Das würde ich nicht sagen …«

»Weil du mich nicht kennst. Aber es stimmt. Ich bin melancholisch. Das heißt nicht, dass ich nicht auch Spaß haben könnte. Ich kann eine Menge Spaß haben. Aber wenn ich nur ich selbst bin, allein … Da gibt es keinen Sonnenschein.«

Russ nickt und zieht den Wagen wieder auf die Überholspur. »Das ist interessant«, sagt er.

»Ja, ist es«, sagt Lily.

»Ich glaube, in diesem Land möchten wir alle heiter und unbeschwert sein und haben Angst, wenn wir es nicht sind«, erklärt Russ.

»Du bist heiter.«

»Ja, das bin ich, oder ich versuche es jedenfalls. Das heißt nicht, dass ich nicht auch Anwandlungen habe von … Introspektion.«

»Was heißt das? Ins Innere sehen?«

»Ja, ins Innere sehen. Sich fragen, wer man ist und warum man da ist. Alles hinterfragen.«

»Ich glaube, Carl ist auch sehr schwermütig«, sagt Lily einen Augenblick später.

»Ja«, sagt Russ und nickt heftig. »Ja, höchstwahrscheinlich hast du recht.«

Sie wendet sich ab, um aus dem Fenster zu schauen. Verschwommen sind grüne Felder, der blaue Himmel und hin und wieder ein Schwall von goldenem Raps zu sehen. Auf einem großen grünen Schild steht »Norden«. Sie denkt an Carls dunkle Seite, an die Augenblicke, wenn er ganz still wurde, wenn er ihre Hand wegstieß oder auf eine Frage nicht antwortete. Sie erinnert sich an die Nächte, in denen er im Schlaf sprach, sich hin und her wälzte und laut aufschrie. Einmal hat er sie im Schlaf gewürgt. Sie war aufgewacht und fand ihn über sich, seine Augen erkannten sie nicht, er streckte die Arme aus, dann schlossen sich seine Hände um ihre Kehle und drückten zu. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, das Blut pochte in ihren Schläfen, und ihr Knie drückte gegen seinen Unterleib. Und dann der Schock in seinen Augen, als er erwachte und sie ansah, der Ausdruck des Entsetzens, seine Hände, die sich von ihrem Hals lösten, seine Finger, die ihr Gesicht fanden, das Stöhnen: »Es tut mir leid, es tut mir so leid, es war ein Albtraum, ich hatte einen Albtraum.« Seine Küsse, seine Umarmungen, dann liebte er sie zärtlicher als jemals zuvor.

Am nächsten Tag lag da eine Halskette mit einem einfachen Diamantanhänger.

Sie wusste nichts von seiner Kindheit, von seiner Vergangenheit. Sie wusste nichts von seinen Narben. Aber sie wusste, dass es diese Narben gab.

Es ist sonnig, als sie von der Hauptstraße abbiegen zu dem Ort, der sich Ridinghouse Bay nennt. Es ist gemütlich im Auto, im Radio läuft Musik, aus der Heizung strömt warme Luft. Und Russ ist ein sehr guter Begleiter. Lily ist entspannt mit ihm, als ob sie ihm alles sagen könnte. Nach der nächsten Kurve kommt der Ort in Sicht: Ein sichelförmiges Durcheinander kleiner Häuser erstreckt sich zum Meer hinab, und im glitzernden Hafen schaukeln Boote. Aber Russ lenkt den Wagen vom Ort weg eine schattige Straße hinab, wo die sich dunkel neigenden Baumkronen einen Korridor bilden.

Die Dame von Google Maps sagt: »Nach fünfzig Metern erreichen Sie Ihr Ziel.«

Lily wird nervös. Sie fasst Russ am Ärmel an und sagt: »Ich habe Angst.«

»Es wird schon gut gehen«, sagt er. »Vielleicht ist gar niemand da. Auch möglich, dass wir direkt umkehren und nach Hause fahren.«

»Auch davor habe ich Angst.«

Sie biegen von der Straße ab und müssen halten, weil eine rostige Kette über die Auffahrt gespannt ist. Lily springt aus dem Wagen, klickt die Kette auf, zieht sie zur Seite und tritt zurück, damit Russ den Wagen weiterfahren kann. So ein schönes Haus hat sie noch nie gesehen. Es besteht aus cremefarbenen Steinen, oder vielleicht ist es auch cremefarben gestrichen. Wasserspeier und Büsten sind in den Putz eingelassen, es gibt kannelierte Säulen. Eine Freitreppe führt zu einer hohen schwarzen Holztür mit einem Messingtürklopfer in der Mitte. Hinter dem Haus sieht man das Meer und einen königsblauen Himmel voller blassgoldener Federwolken.

Lily geht zum Auto und wartet, dass Russ aussteigt.

»Das Haus ist wunderschön«, sagt sie. »Ich habe so ein Haus noch nie zuvor gesehen.«

»Georgianisch«, sagt Russ, wischt Krümel von seinem Schoß und streckt zur Lockerung die Arme aus. »Kann auch neogeorgianisch sein. Sieht etwas vernachlässigt aus.«

Lily folgt ihm zur Eingangstür, ihr Herz schlägt wie wild, die Tragetasche mit dem Fotoalbum hält sie verkrampft in der Hand. Sie kann kein Anzeichen von Leben entdecken, und als sie näher am Haus sind, erkennt sie, dass das Haus heruntergekommen und verlottert ist. Die cremefarbenen Wände und die Fenster sind schmutzig, die Rosenbeete vor dem Haus überwuchert und voller totem Laub.

Es ist zwar kein Märchenschloss mehr, aber trotzdem ist es schön. Warum sollte Carl sich nicht gewünscht haben, sie hierher mitzunehmen, sie daran teilhaben zu lassen?

Die Türglocke klingt genau, wie Lily es sich vorgestellt hat, ein elegantes Klangspiel von Kupferröhrchen. Niemand öffnet ihnen. Es geht kein Licht an. Keine Stimme dringt nach außen. Russ klingelt noch einmal. Er schaut Lily an, runzelt die Stirn, dann klingelt er wieder. Sie versuchen es fünf Minuten lang, dann steht fest, dass niemand da ist oder, wenn doch, dass man nicht an die Tür gehen will. Lily steckt ihre Hand in die Tasche und holt den Schlüsselbund heraus.

»Das«, sagt sie zu Russ und streckt es ihm auf der flachen Hand entgegen. »Das war in Carls Aktenschrank.«

Er nimmt ihr den Bund ab und untersucht die Schlüssel. Dann prüft er das Schlüsselloch in der großen schwarzen Tür und sagt: »Der könnte passen.« Er steckt den seltsam aussehenden Schlüssel, den Lily am nächsten Morgen zum Schlüsseldienst am Bahnhof bringen wollte, ins Schloss und dreht ihn um. Es klickt leise, als die Tür aufgeht.

Russ und Lily sehen sich an. Lily nickt. Russ stößt die Tür auf.