Alice beobachtet Lily durch das Fenster des Cafés. Dann reicht sie Derry ihre Haustürschlüssel und sagt: »Kannst du eben kurz zu mir nach Hause laufen? Öffne die Hintertür und lass die Hunde raus. Ignoriere alles, was du auf dem Boden vorfindest.«
Derry legt ihr die Hand auf den Arm, nickt und geht weg. Lesley bestellt am Tresen noch eine Runde Kaffee. Draußen vor dem Café geht Lily auf und ab und gestikuliert, während sie telefoniert.
Alice dreht sich zu Frank um und legt ihre Hand auf seine Schulter: »Wie geht es dir?«
Er zuckt die Achseln.
»Ist dir noch etwas eingefallen?«
Einen Augenblick starrt er aus dem Fenster, seufzt und schüttelt dann den Kopf.
Draußen hat Lily ihr Gespräch beendet.
»Was haben sie gesagt?«, will Alice wissen, als sie wieder hereinkommt.
»Ich habe nicht die Polizei angerufen«, sagt sie kurz angebunden. »Ich habe mit einem Freund gesprochen. Er geht gleich zu der Baustelle. Bald werden wir Bescheid wissen.« Sie schaut einen nach dem anderen an. »Was machen wir jetzt?«
Lesley antwortet: »Das ist doch eigentlich klar. Das Einzige, was wir machen können, ist, Kitty Tate zu suchen.«
»Wir sollten zu dem Haus gehen«, schlägt Alice vor. »Nachsehen, ob wir dort ihre Adresse finden können.«
»Ich habe das Haus schon durchsucht«, sagt Lily. »Ich habe nichts gefunden.«
»Das Haus ist groß«, entgegnet Alice freundlich. »Vielleicht lohnt es sich, noch einmal zu suchen?« Dieses Mädchen ist ungefähr fünf Jahre älter als ihre Jasmine. Alice stellt sich ihre Tochter vor, wie sie in einem fremden Land verzweifelt nach dem Mann sucht, der sie dort hingebracht hat. Sie stellt sich vor, wie Frank und Lesley auf Lily wirken müssen: alt und andersartig, unangenehm befremdlich. Sie lächelt sie zum ersten Mal an.
Lily zögert eine Sekunde, dann strafft sie sich, und ihr Entschluss steht fest: »Sie können das machen, ich werde weiter die Leute in der Stadt befragen. Ich komme später nach.«
Alice sieht, wie sie sich umdreht, das Café verlässt und in der Tür kurz zögert, ehe sie sich nach links wendet. Welche Fügung des Schicksals hat dieses Mädchen in diesen ruhigen Künstlerort verschlagen, der so versteckt in einer Senke an der Küste Yorkshires liegt? Und was hätte Lily jetzt gemacht, jetzt gerade, wenn Mark Tate nie in ihr Leben getreten wäre?
Alice stellt sich ihn nun vor, wie er in einer leeren Wohnung an einen Heizkörper gefesselt ist. Und sie denkt darüber nach, was der Mann, den sie als Frank kennt, als notwendig erachtet hat, um ihn dorthin zu bringen: das Messer an der Kehle, den Sack über dem Kopf, das Fesseln der Hände, die Drohungen, die Entführung. Sie kann all das nicht mit dem sanften Mann in Einklang bringen, der die letzten fünf Tage in ihrem Haus gewohnt hat, mit dem sie geschlafen hat, der in den frühen Morgenstunden mit ihrer Tochter zusammengesessen hat, der von ihrem am wenigsten zutraulichen Hund angenommen worden ist und der die Zustimmung ihres Sohnes gefunden hat. Sie wird wieder daran erinnert, dass der Mann, den sie vor einer Woche am Strand gefunden hat, überhaupt kein Mann war, sondern nur ein leeres Behältnis, in das sie hineinlegen konnte, was immer sie sich wünschte. Sie hat es mit Qualitäten und Charaktereigenschaften angefüllt, die ihr gefielen. Sie hat nicht wahrhaben wollen, dass Frank hinter der sanftmütigen Fassade ebenso gut ein Soziopath oder sogar ein Mörder sein könnte. Sie hat ihre Kinder in Gefahr gebracht. Sie hat sich selbst in Gefahr gebracht.
Und dennoch, als sie jetzt mit ihm Seite an Seite zu Kitty Tates Haus geht, tut es ihr in der Seele weh, ihre Arme sehnen sich danach, ihn zu umschlingen. Was immer er ist. Wer immer er ist. Was immer er getan hat.
Frank lächelt Alice unsicher an. Was denkt sie, fragt er sich. Bereut sie jede Minute, die sie mit ihm verbracht hat? Schaudert es sie bei der Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht? Sieht sie vor ihrem inneren Auge in ihm schon das schlimme Monster, als das er sich erweisen könnte?
Schon gleich zu Beginn, als er langsam aus dem Fugue-Zustand auftauchte, hat er ein Gefühl von Gewalt gehabt, von Händen um eine Kehle, von langsam aufflammender Mordgier. Was wird Lilys Freund vorfinden, wenn er die Tür zu der Wohnung Nr. 1 öffnet? Einen leeren Raum? Einen toten Körper?
Er bemerkt, dass er sich von den anderen zu entfernen beginnt, als die den Berg zur Hauptstraße hinaufgehen, die aus dem Ort hinausführt.
»Frank? Wo gehst du hin?«, ruft Alice.
Er sieht hoch zu ihnen und dann zur Küstenstraße. »Können wir …? Nur kurz?«
Irgendetwas zieht ihn den Berg hinunter, die Gasse zum Meer hinab. Hier ist er schon viele, viele Male entlanggegangen. Die anderen nicken und folgen ihm. Als er am anderen Ende der Gasse herauskommt, wendet er sich instinktiv nach rechts, und da ist es: Rabbit Cottage. Es heißt allerdings nicht mehr Rabbit Cottage. Auf einer Schieferplatte steht »Ivy Cottage«. Es ist in einem zarten Himmelblau gestrichen, und die Fenster sind erneuert worden.
Er starrt auf das Häuschen, und sein Inneres öffnet sich wie ein Krater. Das war der letzte Ort, an dem sie alle zusammen waren. Wäre er an dem Abend mit seiner Familie zusammen nach Hause gegangen, wäre er bei seiner Familie geblieben, anstatt Mädchen nachzulaufen, hätte er nicht drei Gläser Tequila getrunken und die Leute aus dem Pub mit hierhergebracht, dann wären sie alle an diesem Abend schlafen gegangen, hätten den nächsten Tag zusammen verbracht und den darauffolgenden und so weiter; sie wären zurück nach Hause gefahren und hätten den Rest ihres Lebens zusammen verbracht. Kirsty hätte einen Mann kennengelernt, der nicht geisteskrank war; Gray hätte einen Schwager und eine Nichte oder einen Neffen. Er selbst hätte vielleicht eine Frau, ein oder zwei Kinder. Seine Mutter wäre mit ihrem verlassenen Nest wie ein normaler Mensch umgegangen und nicht wie eine sorgenzerfressene Irre. Sein Vater wäre älter und grauer geworden, und sie wären normal und langweilig und perfekt gewesen für immer und ewig.
Es war alles seine Schuld. Alles. Einfach alles.
Derry kommt mit Alices Haustürschlüsseln in der Hand aus einer kopfsteingepflasterten Gasse. Sie sieht die beiden erstaunt an. »Nett von euch, mir zu sagen, wo ihr hingeht«, sagt sie. »Ich war gerade wieder beim Sugar Bowl Café; dort sagte mir eine Frau, ihr wäret in diese Richtung gegangen.«
Alice entschuldigt sich, und zusammen gehen sie in Richtung Ortskern. Frank und Derry laufen nebeneinander her. Ein Weile schweigen sie, dann fragt Derry: »Na, Frank, hast du ihn getötet?«
Er fährt zusammen. »Was?«
»Mark Tate, hast du ihn getötet? Du schaust immerzu auf deine Finger.« Sie wirft einen Blick auf seine Hände. »Als würdest du sie nicht erkennen. Als gehörten sie nicht zu dir.« Sie kneift die Augen zusammen. »Ich meine … Es wäre die logische Erklärung. Es würde deinen Gedächtnisverlust erklären, deine mitternächtliche Flucht ans Ende der Welt. Oder nicht?«
Er sieht sie an, um ihre Absicht einzuschätzen. Fordert sie ihn heraus? Greift sie ihn an? Oder versucht sie nur, ihm zu helfen, sich zu erinnern?
»Ich weiß es tatsächlich nicht«, sagt er. »Vielleicht habe ich ihn getötet, ja. Es könnte durchaus sein. Und mit meinen Händen.«
»Und wenn das so ist?«
»Dann hat er es verdient zu sterben. Und ich habe es verdient, ins Gefängnis zu gehen, für das, was ich getan habe.« Dieser Gedanke verschafft ihm Erleichterung.
Den Rest des Weges gehen sie schweigend.