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Alice fühlt sich seltsam in ihrem Zimmer im oberen Stock des Hauses. Gestern hat sie sich den ganzen Tag lang seltsam gefühlt, weil dieser Mann im Regen am Strand saß. Jetzt fühlt sie sich seltsam, weil genau dieser Mann in ihrem Studio ist. Seine Anwesenheit ist harmlos, aber irgendwie entnervend. Er scheint nur aus Lücken und Leerstellen zu bestehen. Aber noch anstrengender als diese Leere findet sie, dass er so ein maskuliner Typ ist. Seine fehlende Identität hat seine pure Männlichkeit herausdestilliert. Sein Geschlecht ist eine unumstößliche Tatsache, und … Alice hat schon sehr, sehr lange keinen Sex mehr gehabt, und Alice ist eine Frau, die Sex mag. Ihr sexuelles Verlangen hat ihr ganzes Leben geprägt, zerstört, könnte man auch sagen.

Sie setzt ihre Lesebrille auf und rückt den Stadtplan von Saint-Tropez ins Licht der Gelenkleuchte. Die Rosenblätter hat sie schon auf der Karte eingezeichnet, jetzt schneidet sie die Teile behutsam und geschickt mit einem Skalpell aus. Der Gedanke an Saint-Tropez, an Liegestühle und gekühlten Champagner am Pool, weiß gekleidete Kellner und braun gebrannte Männer in Badehosen regt ihre Fantasie an. Fast kann sie das Hintergrundrauschen einer Unterhaltung hören und die Hände eines unbekannten Liebhabers spüren, die ihre Schultern eincremen. Bald schon werden diese anonymen Hände zu den Händen des Mannes im Garten, und Alice denkt daran, wie diese Hände ganz mühelos mit dem Messer durch das dicke Bauernbrotsandwich schnitten, das sie ihm vorhin gemacht hat. Gute Hände. Gute Handgelenke. Dann stellt sie sich seinen ganzen Körper vor, denn trocken und sauber, in Kais Kapuzenpullover, macht er eine ziemlich gute Figur. Er ist nicht zu groß, wahrscheinlich nur ein paar Zentimeter größer als sie, aber kräftig gebaut. Sein Körper hat keine Schwachstellen. Und dann noch diese braunen Augen, der sanfte Blick voller Not und Verwirrung. Nur in diesem einen Moment, als sie vorgeschlagen hatte, mit ihm zur Polizei zu gehen, hatte sie etwas vollkommen anderes in seinen Augen aufblitzen sehen. Ein Anflug von Angst und Wut, der so schnell verschwunden war, dass sie sich schon fragte, ob sie sich das nur eingebildet hatte.

Alice verdrängt den Mann aus ihren Gedanken. Männer stehen nicht mehr auf der Tagesordnung. Die Kinder sind jetzt ihre Priorität. Die Kinder und ihr Job. Sie löst die blütenblattförmigen Stadtplanteile aus dem Papier und legt sie nebeneinander. Avenue des Canebiers. Chemin de l’Estagnet. Rue Cavaillon. Namen, bei denen man an Palmen und Cabrios denkt, an Hotels mit gestreiften Markisen und Parkservice. Trotzdem sollte sie nicht neidisch sein. Sie hat so viel Schönes hier. Auf der anderen Seite der Bucht stehen sogar Palmen. Zwei Stück.

Die Türglocke über ihrem Eingang läutet, und sie fährt erschrocken zusammen. Hundepfoten klackern auf der Holztreppe, gefolgt von lautem, freudigem Gebell. Alice späht über ihren Schreibtisch nach unten, wo sie den charakteristischen hennaroten Haarknoten von Derry Dynes ausmacht.

»Ich komme«, ruft sie. Vor der Haustür muss sie die Hunde mit Gewalt voneinander trennen, um die Klinke zu fassen zu kriegen. Dann muss sie die Hunde davon abhalten, Derry umzuwerfen.

»Hallo, liebe Freundin«, sagt sie. »Was verschafft mir die Ehre?«

Derry wirft einen Blick über Alices Schulter und sieht dabei nicht besonders freundlich aus. »Ich habe Jasmine vorhin getroffen«, sagt sie. »Sie hat mir erzählt, dass der Mann bei euch im Haus ist.«

Alice seufzt und streicht sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. Sie ärgert sich über sich selbst, weil sie den Kindern nicht eingeschärft hat, nichts über Frank zu erzählen. Sie weiß, wie streng Derry ist.

»Er ist nicht im Haus«, sagt sie kurz angebunden. »Er ist im Studio.«

Sie hält die Tür auf, und die Hunde machen den Weg für Derry frei.

»Du bist verrückt«, sagt Derry und schaut sich auf dem Weg ins Wohnzimmer aufmerksam um. »Jasmine sagt, er hat sein Gedächtnis verloren.«

Sie dreht sich um, sichtlich zufrieden, dass »der Mann« nicht im Wohnzimmer ist, und geht Richtung Küche.

Alice seufzt noch einmal und folgt ihr. »Das klingt alles viel schlimmer, als es ist.«

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich da nicht reinziehen lassen«, sagt Derry. Sie schaut durch die Hintertür hinaus zum Studio. »Herrgott noch mal, Alice, stell dir bloß vor, die Schule erfährt davon? Was, wenn …?« Sie bricht ab und seufzt. »Wirklich, Alice. Nach dem, was im letzten Jahr vorgefallen ist, kannst du nicht einfach fremde Männer ins Haus holen.«

Alice weiß genau, worauf Derry anspielt, aber sie hat keine Lust, sich das jetzt anzuhören. »Ich habe es dir gerade gesagt. Er ist nicht im Haus. Er ist im Studio im Garten. Und die Hintertür haben wir gestern Abend abgeschlossen.«

»Darum geht es nicht. Das ist doch ein windiger Typ. Diese ganze Sache mit dem verlorenen Gedächtnis hört sich nach einem einzigen Schwindel an.«

Alice ist empört. »Um Himmels willen. Sei doch nicht so misstrauisch. Du bist wirklich eine Verschwörungstheoretikerin vor dem Herrn.«

»Ist er jetzt da drüben?«, fragte sie, während sie zwei Becher vom Haken in der Wand nimmt und den Wasserkocher anschaltet.

»Soweit ich weiß, ja«, antwortet Alice. »Ich habe ihn nicht weggehen gehört.«

»Hol ihn her.« Derry hängt einen Teebeutel mit grünem Tee in ihren Becher und einen mit Earl Grey in den von Alice.

Einen Moment lang ist Alice wie erstarrt.

»Nun mach schon«, sagt Derry. »Sag ihm, es gibt Tee.«

»Dir ist schon klar, dass ich arbeiten sollte, oder nicht?«

»Du kannst später arbeiten. Das hier dauert nicht lange.«

Alice sagt nichts dagegen. Ihre Freundschaft mit Derry basiert darauf, dass Derry immer recht hat. Kurz fährt sie sich über die Haare, dann hält sie sich die hohle Hand vor den Mund und atmet hinein. Die Vorhänge des Studios sind aufgezogen, und sie klopft zaghaft an die Tür. »Frank«, sagt sie. »Ich bin’s, Alice. Ich mache gerade Pause. Hast du Lust, auf eine Tasse Tee ins Haus zu kommen?«

Es kommt keine Antwort, also klopft sie noch einmal. »Frank?« Sie macht die Tür auf und späht durch den offenen Spalt. Das Bett ist gemacht, Kais Kapuzenpullover und die Jogginghose liegen ordentlich zusammengelegt auf dem Fußende. Der Raum ist leer.

»Also, wie es aussieht«, sagt sie einen Moment später zu Derry, »kannst du jetzt aufhören auszuflippen. Er ist weg.«

»Richtig weg?«

»Das weiß ich nicht.« Alice blickt sich in der Küche um. Auf dem Abtropfbrett steht umgedreht der Becher, den sie vorhin für seinen Tee benutzt hat. Sie sucht nach einer Nachricht von ihm, aber da ist nichts. Traurigkeit rauscht durch ihren Körper, und ihre Glieder werden vor Enttäuschung ganz schwer. Dann spürt sie Besorgnis. Sie denkt an seine braunen Augen, seine weichen, lockeren Haare, seine große Verletzlichkeit. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er da draußen ist, ganz allein. Das schafft sie einfach nicht.

»Hoffen wir’s«, sagt Derry. »Der Typ hat dir wirklich gerade noch gefehlt.«

»Ja«, sagt Alice. »Wahrscheinlich stimmt das.«

Er hat das Gefühl, auf einem Förderband zu stehen und von fremden Kräften fortgetragen zu werden. Er fühlt sich wie ein Müllsack, der die Straße hinuntergeschleift wird. Ein Stück weiter vorn sieht er eine Bank und steuert darauf zu. Beinahe wird er von einer Frau auf dem Fahrrad mit einem Korb voller Früchte umgeworfen. Sie sieht ihn merkwürdig an, und er fragt sich, ob er so verrückt aussieht, wie er sich fühlt.

Als er heute Morgen nach dem Frühstück in Alices kleinem Studio auf dem Bett gelegen hatte, waren keine Erinnerungen wach geworden, aber sehr starke Gefühle. So hatte er empfunden, als Alice vorgeschlagen hatte, mit ihm zur Polizei zu gehen. Schreckliche, dunkle Ahnungen von Verderben. Das Wissen, dass irgendetwas irgendwo furchtbar zerbrochen war und dass er nichts tun konnte, um es wieder heil zu machen. Aber er sah auch hellweiße Blitze, wie Sonnenstrahlen, die sich in einem vorbeifahrenden Auto spiegelten, den Betrachter für einen Moment blendeten und aus dem Gleichgewicht brachten. Hinter den weißen Blitzen, das weiß er, verbergen sich Bilder, Puzzleteile, und er wünscht sich, er könnte sie sehen.

Er muss weiterlaufen. Er muss herausfinden, was ihn in dieses Küstenstädtchen im Norden geführt hat. Aber als er aufsteht, blendet noch ein weißer Blitz seine Augen, und er sinkt wieder auf die Bank. Heftig reibt er seine geschlossenen Augen und versucht verzweifelt, die Ränder des Bildes auszumachen. Dann sieht er es: Eine gewundene Haltestange, ein pastellfarbenes Pferd, ein braunhaariges Mädchen; sie bewegt sich auf und ab, sie lächelt und winkt, und dann ist sie fort.

Die Macht dieses Bildes, nach all den Stunden der Leere, bringt ihn zum Lachen. »Verdammt!«, sagt er. »Verdammt, ja!«

Er springt von der Bank auf, die Seepromenade auf der anderen Seite der Straße zieht ihn magisch an. Er blickt auf den sichelförmigen Strand. An diesem frischen Apriltag ist der Strand verwaist, und er versucht, etwas aus diesem Anblick herauszufiltern, das Wesentliche jenes Moments, an den er sich gerade erinnert hat. Aber ihm fällt nichts ein. Dann geht er die Stufen der Kaimauer hinunter. Seine Hand fährt das Geländer entlang, und unter seinem Griff splittert etwas von der Farbe ab. Vorsichtig setzt er die Füße auf die schmalen Stufen und atmet den Geruch nach Fischabfällen und Salzwasser ein. Ist er schon einmal hier gewesen? Ist das möglich? Und wenn ja, warum war er hier? Und wann? Und wer ist das Mädchen auf dem Karussell, das lächelnde, schöne Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren, das so selbstvergessen nicht bemerkt, dass es angeschaut wird?

Bei dem Gedanken an das Mädchen erfasst ihn wieder diese Untergangsstimmung. Sein Körper gehorcht ihm nicht mehr, und er erbricht den Toast und die Eier, die Alice ihm heute Morgen zubereitet hat. Er nimmt wieder genau dieselbe Position ein wie während seiner ersten Stunden in Ridinghouse Bay. Er sitzt in der Hocke am Strand und starrt hinaus, als wartete er darauf, dass ihm das Meer etwas bringen wird.