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Alice schaltet das Deckenlicht in ihrem Schlafzimmer aus, sodass nur noch das sanfte Licht der Tischlampe mit dem dunklen Schirm ihr Gesicht erhellt. Sie stellt ein volles Weinglas auf ihrem Schreibtisch ab, dann stellt sie sich vor den Spiegel und fährt sich mit ihren kurzen Fingernägeln durch die Haare. Es ist eine Minute vor acht. In den nächsten zwei Minuten geht sie unruhig im Zimmer umher und überprüft alle paar Sekunden nervös ihr Aussehen im Spiegel. Endlich kündigt eine einlullende Tonfolge einen Skype-Anruf an. Alice rast zum Schreibtisch, holt tief Luft, räuspert sich und drückt auf »Gespräch annehmen«.

Dann sieht sie ihn: »Hallo, Alice.«

»Hi!«

Er sieht müde aus. »Wie geht es dir?«, fragt sie.

»Mir geht’s … Ach, na ja, was soll ich sagen? Mir geht’s nicht so gut.«

»Nein?«

»Nein. Anscheinend bin ich nicht sehr gut darin, Gray Ross zu sein. Fakt ist, ich bin eine Vollkatastrophe.«

»Oh, Frank …«

Er lächelt. »Es gefällt mir, wenn man mich Frank nennt«, sagt er versonnen. »Das fehlt mir.«

»Für mich wirst du immer Frank bleiben«, sagt sie.

»Ich weiß. Das macht mich …«

»Was?«

»Irgendwie traurig.«

»Warum?«

»Weil ich nicht gern Gray bin. In der Schule nennen sie mich ›Fifty Shades‹.« Er seufzt, und Alice lacht laut auf.

»Das ist wahnsinnig komisch!«

»Wahrscheinlich. Aber es ist nicht nur das. Es ist einfach alles. Ich meine …« Das Bild beginnt sich zu bewegen, als er den Laptop in die Hand nimmt und damit herumschwenkt. »Sieh dir meine Wohnung an, Alice. Im Ernst. Sieh dir das an.«

Der Laptop zeigt einen quadratischen Raum mit gelben Wänden. Überall liegen hohe Papierstapel, in der Mitte steht ein gammeliges cremefarbenes Sofa, daneben eine billige Keramiktischlampe. Dann führt Frank Alice in ein veraltetes Badezimmer. Eine schäbige Badematte hängt schlampig über dem Wannenrand, und auf dem Fensterbrett steht eine vertrocknete Topfpflanze. In der Küche stapelt sich das dreckige Geschirr, im Schlafzimmer ist das Bett nicht gemacht, und vor dem Fenster hängen kaputte Jalousien.

»Alles war noch genau so, wie ich es zurückgelassen habe. Ob du’s glaubst oder nicht, so lebe ich.«

»Ich habe schon viel Schlimmeres gesehen«, sagt Alice. »Wo ist Brenda?«

»Warte einen Moment …« Die Bilder wechseln sehr ruckartig, als er durch die Wohnung geht. »Hallo, Süße, da bist du ja.« Die Kamera zoomt eine rot-braun gestreifte Katze heran, die es sich auf einem Haufen Dreckwäsche gemütlich gemacht hat.

»Oh«, sagt Alice. »Sie ist reizend!«

»Sie hasst mich«, erwidert er. »Seit ich wieder da bin, schmollt sie die ganze Zeit.«

Alice lacht; sie kann nicht anders.

»Das ist nicht lustig«, protestiert er. »Soweit ich weiß, war sie der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte. Ehrlich, Alice. Du hättest mich nicht gemocht.«

Wieder lacht sie.

»Ich meine das ernst. Ich bin mehr oder weniger Alkoholiker. Zumindest war ich das. Als ich weglief, habe ich das anscheinend, wie alles andere, auch vergessen. Aber im Recyclingbehälter sind nur Bierdosen und Wodkaflaschen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich so lange meinen Job behalten konnte. Ein paarmal bin ich wohl schon verwarnt worden, weil ich zu spät war und den Unterricht nicht vorbereitet hatte. Ich hatte den Ruf, nach Alkohol zu riechen. Und meine Mutter behauptet, ich sei abweisend und rufe sie nur selten an. Also.« Er zuckt die Achseln, formt mit Daumen und Zeigefinger den Buchstaben L. »Loser.«

Alice lächelt. »Na ja«, sagt sie. »Dann sind wird quitt.«

Er seufzt, und sein Gesichtsausdruck wird ernst. »Alice«, sagt er. »Ich habe eine wichtige Entscheidung getroffen. Ich bin in wirklich schlechter Verfassung. Mich plagen Schuldgefühle, ich bin wütend, und ich hasse mein Leben. So kann ich nicht weitermachen. Ich bin wieder zu meinem Therapeuten gegangen, aber anscheinend hilft mir das nicht. Jetzt hat er mir eine Auszeit vorgeschlagen.« Er legt eine Pause ein und senkt den Blick. »Er hat mir einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik empfohlen. Nur für eine Weile. Ich muss diesem Gedächtnisverlust auf den Grund gehen. Ich muss mir selbst auf den Grund gehen. Ich glaube, der Therapeut hat recht.«

»Wie lange wirst du da bleiben?« Alice fühlt Panik in sich aufsteigen. Sie wollte Frank fürs Wochenende zu sich einladen.

»Keine Ahnung. Mindestens vier Wochen. Vielleicht auch länger. Ich …« Er stößt einen lauten Seufzer aus. »Im Augenblick kann niemand es mit mir aushalten. So kann ich nicht in deiner Nähe sein. Und ich wäre wirklich gern mit dir zusammen.«

Alice lächelt. »Ich möchte auch gern mit dir zusammen sein.«

Sein Gesicht hellt sich auf, und er streckt sich. »Zeig mir die Hunde«, sagt er. »Ich möchte gern die Hunde sehen.«

»Okay!« Sie hebt ihren Laptop und geht damit zum Bett, wo Griff der Länge nach liegt und gähnt. Der Hund wedelt träge mit dem Schwanz, als er Franks Stimme über den Lautsprecher hört. »Ach, sieh an!«, sagt Alice. »Er erinnert sich an dich!« Sie schwenkt den Laptop zum Treppenabsatz, wo Hero hockt und murrt, weil Griff sie nicht in Alices Zimmer lässt. Im Erdgeschoss liegt Sadie zitternd vor dem Kamin, eingehüllt in einen Wollpullover. Kai und Jasmine winken ihm vom Sofa aus zu. Romaine kommt mit einer Zahnbürste im Mund aus der Küche. Sie küsst den Bildschirm, der danach vollkommen mit Zahnpasta verschmiert ist.

Frank seufzt. »Ich liebe dein Haus«, sagt er. »Ich vermisse dein Haus. Ich vermisse dich. Ich …« Die Stimme versagt ihm. »Kirsty wird beerdigt«, sagt er dann. »Aber erst in ein paar Wochen. Kommst du?«

»Natürlich komme ich zu ihrer Beerdigung.«

»Schön«, sagt er. »Sehr schön. Dann haben wir eine Verabredung. Sicherlich geht es mir bis dahin auch besser, Alice. Ich … also, ich weiß natürlich nicht, wie das alles wird, aber ich verspreche dir, dass es mir dann besser geht.«

»Mach mir bloß keine Versprechungen«, sagt sie. »Tu, was du tun kannst. Sei der, der du bist. Es ist egal, wie viele Fehler du hast. Ich habe keine hohen Ansprüche«, scherzt sie. »Ich schwöre, ich nehme jeden.«

Endlich lacht auch Frank einmal, und die Anspannung löst sich.

»Alles Gute, Frank«, sagt Alice. »Ich sehe dich, wenn du das hinter dir hast.«

Frank hebt seine Fingerspitzen an die Lippen und legt sie dann auf den Bildschirm. Alice tut es ihm gleich. Einen Moment lang verharren ihre Hände in der Berührung über den Äther, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

»Ich sehe dich, wenn ich das hinter mir habe«, sagt Frank.

»Ich werde auf dich warten«, sagt Alice.

Danach wird der Bildschirm schwarz.