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1993

Gray und Kirsty schlitterten die Terrassen und Wege des Gartens hinunter, der steil zum Meer hin abfiel. Hier gab es kein Licht, die Baumwipfel verdeckten den Mond, und sie rannten beinahe blind vorwärts.

Kirsty jammerte vor sich hin. »Ich hab ihn umgebracht! Verflucht! Verdammt! Gray! Ich hab ihn umgebracht!«

Gray redete atemlos auf sie ein. »Das weißt du doch nicht! Wir wissen gar nichts! Lauf einfach weiter!«

Er musste sie hinter sich herziehen, um zu verhindern, dass sie zusammenbrach. Sie war hysterisch.

Er drehte sich um und schaute zurück. Jedes Blätterrascheln kam ihm vor wie schweres Atmen, jedes Krachen der Wellen gegen die Felsen wie hektische Schritte. Er hatte zwar Marks lebloses Gewicht auf seinem Körper gespürt, war aber längst nicht überzeugt, dass er ihnen nicht auf der Spur war.

Gray und Kirsty hatten jetzt das Ende des Grundstücks erreicht, wo eine kleine Eisenpforte zu einer langen und gefährlichen Holztreppe an der Klippenwand führte. Der Mond tauchte wieder auf, und alles war jetzt in silberhelles Licht getaucht. Gray erkannte, wie sie beide zugerichtet waren: die Kleidung voll Blut, die Haare verschwitzt und Kirstys Sachen so gut wie zerfetzt. Sie sahen aus wie die Statisten aus einem Horrorfilm, als sie die gefährlichen Stufen zum felsigen Strand hinunterstolperten. Und dann kam, dicht hinter ihnen – nicht nur als Auswuchs seiner vom Adrenalin gespeisten Einbildung, sondern so wirklich wie der Fels unter seinen Füßen – das schwere Atmen eines Mannes und das Geräusch dumpfer Schritte auf den Holzstufen.

»Schneller«, zischte er Kirsty zu. »Komm schon!«

Die Schritte näherten sich immer rascher, als die beiden das Ende der Treppe erreichten. Sie kletterten über die glitschigen Felsbrocken, und die Gischt durchnässte sie bis auf die Haut. Am Strand der Bucht sahen sie, dass sich etwas bewegte, das Licht einer Taschenlampe und eine Gestalt, die hin und her lief.

»Dad«, flüsterte Gray. »Sieh nur, es ist Dad.«

Er blickte sich prüfend um. Eine Gestalt taumelte hinter ihnen über die Felsen.

»Dad!«, rief er. Er hatte die Hände zum Trichter geformt. »Dad!« Dann lief er weiter.

Der Strahl der Taschenlampe schwenkte zu ihnen herüber, klein und dünn aus dieser Entfernung, aber eindeutig auf sie gerichtet.

Die kleine Gestalt auf dem Strand rief ihnen etwas zu, was die Wellen aber verschluckten.

»Dad!«, schrie Kirsty.

Sie liefen beide noch schneller, schneller als die Person, die vom Strand aus auf sie zueilte.

Gray und Kirsty waren fast am Ende der Felsen angelangt, als die Gestalt heraufkletterte und das Licht der Taschenlampe sie einen Augenblick lang blendete. Die vertrauten Umrisse seines Vaters ließen Grays Herz ruhiger schlagen.

Aber Tony sah ärgerlich aus. »Ihr zwei«, schrie er. »Mein Gott. Ihr zwei. Ich habe …« Aber dann glitten seine Augen an ihnen herab, er nahm Kirstys blutbeflecktes, aufgeschlitztes T-Shirt wahr, ihren Ausdruck panischer Angst. Dann sah er Mark hinter ihnen auftauchen und brüllte: »Was hast du getan? Was hast du getan?«

Mark erstarrte. Er war etwa drei Meter entfernt. Alles stockte für einen Augenblick. Selbst das Meer verstummte, als sich die nächste Welle langsam aufbaute. Dann stürmte Mark auf Kirsty zu, stürzte sich auf sie, packte sie mit seinem Arm um die Taille, und ehe Gray und Tony sich rühren konnten, war er mit ihr in die wild schäumende Brandung gesprungen, zwischen die Felsen, in die Dunkelheit und in die raue See.

»Nein!«, schrie Tony.

»Kirsty! Verflucht!«

Und schon waren Gray und Tony im Meer. Gray war wie unter Schock, das eisige Wasser an seinem geschundenen Körper, das Brüllen der Wellen, die über seinem Kopf zusammenschlugen. Gray drosch um sich auf der Suche nach einem Halt. Er hörte die Stimme seines Vaters dicht neben sich und schwamm auf sie zu. Tony gab Gray Zeichen. Gray folgte ihm, indem er sich mit den Beinen vorwärtsstieß und seinen verletzten Arm dicht an den Körper drückte. Sein Vater zeigte nach Osten. Gray sah zwei kleine Schemen, die die Bucht durchquerten. Mark schwamm schnell, mit Kirsty im Griff. »Beeil dich!«, rief Tony.

»Mein Handgelenk ist gebrochen!«, schrie Gray in das Chaos hinein. »Ich kann nicht schwimmen!«

Sein Vater verstummte für einen Augenblick. »Geh raus!«, brüllte er. »Geh sofort raus!«

Hilflos sah Gray die Silhouetten von Mark und Kirsty immer kleiner werden. Dann beobachtete er, wie sein Vater mit halsbrecherischer Geschwindigkeit von ihm wegkraulte und immer winziger wurde, bis er ihn kaum noch sehen konnte. Gray ließ sich von der nächsten Welle gegen die Felsen tragen und kroch unter erbärmlichen Schmerzen auf einen Vorsprung, wo er sich einen Augenblick lang auf den Rücken legte, unfähig sich zu bewegen. Sein Herz pochte und hämmerte in seiner Brust. Sein Handgelenk pulsierte und schmerzte. Er setzte sich auf und starrte in die Ferne, konnte jedoch nichts erkennen. Mühsam kam er auf die Füße und kroch unbeholfen über die Felsen, bis er endlich den festen Boden des Strands unter sich hatte. Dann lief er los. Der Strand war leer. Von weit oben her hörte er die dumpfen Bässe, die von der Stadt herüberschallten. Er hörte schrilles Frauenlachen und das Quietschen eines Autos. Hinter sich sah er die Lichter von Kittys Villa. Aber draußen auf dem Meer war nichts.

»Hilfe!«, schrie er in die Nacht hinein. »Helft mir!«

Er lief und lief und schrie vergeblich. Dann sah er plötzlich eine Gestalt aus der Brandung herauskriechen. Sie sackte auf den Strand und blieb einen Moment liegen, bevor sie sich wieder aufraffte. Gray rannte noch schneller, bis er völlig atemlos neben seinem Vater auf die Knie fiel.

»Dad! Wo ist Kirsty?«

Sein Vater sagte nichts. Er rollte sich auf die Seite und zog seine Knie an die Brust. Dann rollte er sich wieder zurück auf den Rücken, griff sich mit beiden Händen ans Herz und massierte es. »Großer Gott«, stieß er hervor, »großer Gott!«

Gray schaute aufs Meer hinaus. Lange Wellen entrollten sich wie Teppiche und breiteten sich als glänzender Schaum zu seinen Füßen aus. Die Oberfläche glitzerte und kräuselte sich. Ein Ozeandampfer tauchte am Horizont auf, über ihm glitt lautlos ein Flugzeug dahin. Er starrte verzweifelt auf die sich rasch ändernden Konturen des Meeres und sehnte ein Anzeichen von Kirsty herbei.

»Dad! Steh auf! Dad! Wo ist sie? Wo ist Kirsty?«

Aber sein Vater hielt sich immer noch die Brust. Gray merkte, dass sein Atem schwerer ging, anstatt sich zu beruhigen. »Dad! Komm hoch!« Er sah wieder auf das Meer, auf das schwarze Nichts, und zurück auf seinen Vater.

»Ich … kann … nicht … atmen«, röchelte sein Vater. »Mein … Herz.«

»Oh Gott.« Gray strich sich die Haare aus dem Gesicht und stampfte auf dem Sand auf. »Oh Gott. Dad. Oh … Verdammt.« Er schaute nach hinten zurück auf die Dächer der Stadt, suchte die Promenade nach Menschen ab. Er sah ein Pärchen mit einem Hund, das die Arme umeinander geschlungen hatte. »Hilfe!«, schrie er. »Zum Teufel, helfen Sie mir!« Er wusste, schon als er es herausbrüllte, dass es hoffnungslos war, dass sie ihn nicht hören konnten. Das Paar spazierte weiter, ohne zu ahnen, was gerade am Strand geschah. Gray sank auf die Knie. Er drehte seinen Vater so, dass es in etwa so aussah wie die stabile Seitenlage, die er früher einmal bei den Pfadfindern gelernt hatte. Aber er konnte mit nur einer Hand so wenig tun. Er nahm seinem Vater die Hand von der Brust und begann, den Brustkorb zu drücken und dabei, die Intervalle zählend, vor sich hin zu murmeln. Aber es war zwecklos. Herz-Lungen-Wiederbelebung klappte nicht mit nur einer Hand. Gray ließ von ihm ab und schrie noch einmal dem Paar auf der Promenade hinterher. Dann fing er an zu weinen. »Dad«, wimmerte er. »Ich schaff es nicht! Ich schaff es nicht! Oh Scheiße. Dad, was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Der Körper seines Vaters versteifte sich. Er hatte sich wieder ans Herz gefasst. Es sah aus, als ob er versuchte, unter die Rippen zu greifen, um sein Herz herauszuzerren. Gray sprang auf und blickte wieder aufs Meer. Nichts. Er drehte sich um, schaute hoch zur Promenade. Dort gingen mehrere Leute entlang, Grüppchen nächtlicher Zecher sangen und grölten. »Hilfe!«, brüllte Gray. »Helft uns!«

Sein Vater fing nun an pfeifend zu atmen und zog angestrengt am Kragen seines nassen Polohemds.

Er starb. Das war Gray plötzlich klar. Sein Vater starb, und seine Schwester war mit einem Psychopathen in der Nordsee verschwunden. Und er konnte überhaupt nichts machen, nicht die kleinste Kleinigkeit.

Ergeben bettete er den Kopf seines Vaters in seinen Schoß und streichelte seine Stirn. Er küsste seine Wangen und drückte ihn liebevoll an sich. Dann blickte er hinaus aufs Meer und hoch in den sternenübersäten Himmel und zurück auf die ahnungslose Stadt, und er fühlte das Leben aus seinem Vater rinnen, so schnell, dass ihm schlecht wurde. »Oh nein«, schluchzte er. »Oh, oh nein, oh nein. Nein, Dad. Nicht mein Dad. Nicht mein Dad. Nein, Dad. Nein. Bitte, Dad. Bitte. Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott.«

Wenige Sekunden später wusste er, dass es zu Ende war. Keine Zeit mehr für letzte Worte der Liebe und des Trosts. Nur noch Zeit, um die letzten rasselnden Atemzüge des Mannes aufzufangen, der ihn aufgezogen hatte, sie zu bewahren wie die Tropfen einer kostbaren Essenz. Gray ließ seinen Kopf auf die Brust des Vaters sinken und schluchzte in sein kaltes, nasses Polohemd: »Nicht mein Dad, nicht mein Dad!«

Er hob seinen Kopf zum Himmel empor und heulte wie von Sinnen den Mond an.

Hinter ihm rollte das Meer heran, rollte das Meer hinaus, Wellen schäumten über den Strand, aber das dunkle Wasser dahinter blieb leer.