16

Frank zieht die Vorhänge auf und wird wieder einmal von dem knurrenden Hund begrüßt. Genau der Hund, der gestern Abend noch in seinem Schoß gelegen hatte. Er lächelt Hero an, die hört auf zu knurren und wedelt mit ihrem stumpfen, stockartigen Schwanz. Frank weiß nicht, wie spät es ist, aber die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel, und in Alices Haus brennt kein Licht. Er öffnet die Tür. Hero kommt herein und springt geradewegs auf seine Liege.

»Guten Morgen, mein Mädchen«, sagt er und krault die Hündin unter der Schnauze. Sie rollt sich auf den Rücken und zeigt ihm ihren Bauch. Frank sitzt neben ihr, und während er ihr über den Bauch reibt, denkt er an den vergangenen Abend. Er darf sein Gefühl der Hilflosigkeit nicht mit Liebe zu Alice verwechseln. Er ist wie ein Neugeborenes, das sich an die erste Person klammert, die ihm etwas Zuneigung entgegenbringt. Aber dennoch, sie hat etwas Besonderes an sich. Wenn er mit ihr zusammen ist, fühlt er sich unweigerlich zu ihr hingezogen. Und das liegt nicht nur daran, dass sie selbstbewusst und attraktiv ist. Es ist mehr ihr Durchhaltevermögen, ihr künstlerisches Geschick, ihre Großzügigkeit. Gestern Abend hat Alice ihm von Hero erzählt, die von einem früheren Mieter dagelassen worden war, und dass sie den Hund, ohne zu fragen, bei sich aufgenommen hat. Und als ihre Eltern zu alt wurden, um sich um Sadie zu kümmern, hatte sie auch die aufgenommen. Und jetzt ist er auch noch hier, in ihrem engen Haus. Noch einer, der ein Dach über dem Kopf braucht, noch ein Maul, das gestopft werden will. Und sie scheint sich wirklich nicht daran zu stören.

»Hero!« Er hört eine Stimme im Hof. »Hero!«

Die Hündin springt von seinem Bett und läuft gemächlich zur Tür. Draußen steht das kleine Mädchen. Romaine.

Sie bleibt stehen, als sie ihn in der Tür sieht.

»Du bist ja früh auf«, sagt er.

»Ich weiß«, antwortet sie mit einem breiten Yorkshire-Akzent. »Mummy hat gesagt, ich soll wieder ins Bett gehen, aber ich konnte nicht schlafen.«

»Und gestern Abend warst du auch lange wach. Du bist bestimmt müde.«

Sie zuckt die Achseln, ihre Arme hat sie um Heros riesigen Hals geschlungen. »Ich bin nie müde.«

»Ach so, da hast du aber Glück.«

Sie zuckt wieder die Achseln und gibt Hero einen Kuss auf den Kopf.

»Und was willst du jetzt tun?«

»Ich glaube, ich werde noch einmal versuchen, Mummy aufzuwecken.«

Bei diesem Gedanken erschrickt er. Die tiefen Schatten unter Alices blaugrünen Augen fallen ihm ein, wie sie sich straff die Haare aus dem Gesicht streicht, als würde sie davon aufwachen. Heute ist Samstag. Und es ist noch früh.

»Was hältst du davon, wenn ich dir Frühstück mache, und dann schauen wir, was im Fernsehen läuft. Einverstanden?«

»Okay«, sagt sie. »Morgens esse ich immer einen getoasteten Bagel. Mit Erdnussbutter drauf. Weißt du, wie man den macht?«

Frank versucht sich zu erinnern, wie ein Bagel aussieht. Das Wort kennt er, aber es fällt ihm schwer, sich das dazugehörige Objekt vorzustellen. Er hat einen Hund mit seidigen Ohren vor Augen. Nein, das ist nicht richtig. Ein Bagel passt in einen Toaster, also muss es eine Art Brot sein.

»Wenn du mir alles zeigst, was ich für den Bagel brauche, dann kriege ich das bestimmt hin.«

»Also gut.«

Er folgt ihr in die enge Küche. Die Uhr in der Mikrowelle zeigt fünf Uhr achtundfünfzig an.

»Hier.« Romaine hebt den Deckel eines Holzbrotkastens und holt eine Tüte hervor – Bagels! Jetzt kann er sich erinnern. »Die Erdnussbutter steht da oben.« Sie zeigt auf eines der oberen Regale.

»Möchtest du auch Butter drauf?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Okay.« Er reibt sich die Hände. »Dann wollen wir mal.«

Er nimmt einen Teller aus einem hölzernen Tellerregal und findet auch ein Messer in einer Schublade. Romaine setzt sich auf einen Stuhl am Küchentisch und beobachtet, wie er versucht, den Bagel in den Toaster zu drücken.

»So nicht!« Sie lacht. »Du musst den Bagel in der Mitte durchschneiden!«

»Natürlich! Du hast recht«, sagt er. »Ich Dummkopf!«

»Du Dummkopf!«

Er schneidet den Bagel auf und steckt beide Hälften in den Toaster.

»Warum kannst du dich an nichts mehr erinnern?«

»Ich weiß es nicht genau«, sagt Frank. »Deine Mum glaubt, dass ich vielleicht einen Schock bekommen habe. Der Schock muss so groß gewesen sein, dass mit einem Schlag alle meine Erinnerungen aus meinen Kopf verschwunden waren.«

»Wie bei einem Stromschlag?«

»Nein, eher so, wie wenn man etwas Schlimmes erlebt.«

»Du meinst, so wie damals, als mein Dad mich gestohlen hat?«

Frank dreht sich um und schaut Romaine an. »Hat er das getan?«

»Ja. Aber dann ist die Polizei gekommen, und alles war wieder in Ordnung.«

»Wow. Das war bestimmt ein ganz schöner Schreck für dich. Wie alt warst du da?«

»Ich war noch klein, erst drei. Aber mit meinem Gedächtnis ist das anders als mit deinem. Ich kann mich an fast nichts von damals erinnern, aber von dem Tag weiß ich noch alles.«

»Siehst du deinen Dad noch?«

»Kaum. Nur wenn er nach England kommt. Aber jetzt wohnt er in Australien und kommt nur selten. Aber ich darf nicht allein mit ihm irgendwo hingehen, damit er das nicht noch mal macht.« Plötzlich lehnt sie sich im Stuhl vor und starrt auf den Toaster. »Das reicht«, ruft sie. »Er darf nicht angekokelt sein!«

»Und wie …?«

»Der Knopf da! Am Toaster! Schnell!«

Der Bagel springt nach oben. Er hat fast dieselbe Farbe wie vorher. »Okay so?« Er hält Romaine die beiden Hälften hin.

»Ja.« Sie sieht erleichtert aus.

»Also, warum hat dein Daddy dich gestohlen? Was ist passiert?«

»Weil Mummy hierhergezogen ist, als ich noch ein Baby war. Er war sauer, denn er wohnte damals in London, und er wollte mich öfter sehen. Aber Mummy hat gesagt, das ginge nicht, weil er … Sachen gemacht hat. Er wurde richtig böse und so weiter. Und als ich einmal bei ihm in London war, hat er mich weggebracht. Ich glaube, das war ein Hotel oder so. Er war sehr lieb zu mir und hat mir ganz viele Geschenke und Süßigkeiten gekauft, aber ich hatte die ganze Zeit Angst. Dann ist die Polizei gekommen, und es war noch gruseliger. Ich kann mich noch an alles erinnern. Wirklich an alles.« Sie wendet ihren Blick auf den Tisch, als er ihr den Bagel hinstellt.

Frank weiß nicht, was er darauf sagen soll. Diese ganzen Geschichten, denkt er, die Welt ist voller Geschichten. Aber die eine Geschichte, die er unbedingt kennen muss, ist irgendwo tief in ihm drin vergraben, und er hat Angst, dass er nie mehr an sie herankommt.

»Oh!« Alice ist ein bisschen erschrocken, als sie Romaine zwischen Hero und Frank aufs Sofa gekuschelt sieht. Der Fernseher läuft, sie schauen Die Oktonauten.

»Guten Morgen«, sagt Frank. »Wir dachten uns, wir lassen dich noch ein wenig schlafen.«

Es ist schon fast neun. Alice kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so lange geschlafen hat. »Das ist absolut großartig«, sagt sie und beugt sich hinunter zu Griff. »Das ist mindestens eine Übernachtung wert.«

Sie blickt zu Romaine. Sie ist ein aufgeschlossenes Kind, im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die nur die wenigen Menschen, die ihr nahestehen, nicht mit tiefer Verachtung straft. Dennoch ist es seltsam, dass Romaine sich in Gegenwart eines fremden Mannes so wohlfühlt. Schließlich ist dieser Mann nicht einfach ein Fremder, er ist ein Mensch, der nicht weiß, wer er ist. Plötzlich überkommen Alice schreckliche Schuldgefühle. Sie zieht Romaines Kopf zu sich und küsst sie aufs Haar. »Hast du Hunger?«, fragt sie.

»Nein«, antwortet Romaine. »Frank hat mir einen Bagel gemacht. Aber er hat versucht, ihn in den Toaster zu stecken, ohne ihn vorher aufzuschneiden. Das war sehr lustig!«

»Dummer Frank«, sagt Frank.

Kai erscheint in der Tür. Er sieht verschlafen aus und auch leicht verärgert. Er wirft seiner Mutter einen Blick zu, der Was zum Teufel macht er hier? bedeutet.

Alice beschließt, den Blick ihres Sohnes zu ignorieren, und fragt stattdessen: »Guten Morgen, mein Hübscher. Warum bist du schon so früh auf?«

»Ich habe Stimmen gehört«, antwortet er. »Die Stimme eines Mannes.«

»Ja«, sagt sie. »Frank ist gestern Abend wiedergekommen. Er hat angefangen, sich an ein paar Dinge zu erinnern!«

Kai interessiert sich offensichtlich kein bisschen für Franks verlorenes Gedächtnis. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und latscht wieder die Treppe hinauf.

»Tut mir leid«, sagt Frank an Alice gewandt. »Ich glaube, für einen Teenager ist es etwas seltsam, einen Fremden zu Hause vorzufinden.«

»Ehrlich, Frank, die Kinder sind daran gewöhnt. Wir hatten immer Leute im Haus. Und sehr viel seltsamere als dich.«

»Erinnerst du dich noch an Barry?«, fragt Romaine.

»Wie könnte ich den vergessen.«

»Er ist weggelaufen«, sagt Romaine. »Er hat seine ganzen Sachen und seinen Hund hiergelassen, und er schuldete Mummy total viel Geld. Er ist einfach verschwunden.«

»Er war nicht in Ordnung«, sagt Alice.

»Ja«, stimmt Romaine zu. »Er war nicht in Ordnung. Aber er hat mir immer Comics gekauft. Und Schokolade.«

»Er hat die Sachen geklaut, Romaine.« Sie wendet sich an Frank. »Er hat einem kleinen Mädchen gestohlene Schokolade gegeben. Kann man das glauben?«

»Großer Gott, also, ich hoffe, ich finde nicht heraus, dass ich ein böser Mann bin, der kleinen Mädchen gestohlene Schokolade gibt.«

»Nein«, sagt Romaine und schmiegt sich an ihn »Du bist bestimmt kein böser Mann. Du bist ein netter Mann.«

Alice sieht ihre Tochter an. Ihr kleiner Körper drückt sich an Franks großen Männerkörper. Alice hat bereits zugelassen, dass Romaine verletzt wurde. Sie hat die Sicherheit all ihrer Kinder aufs Spiel gesetzt, und sie ist einer Katastrophe nur um Haaresbreite entkommen. Nun spürt sie einem warnenden Gefühl oder einer grundsätzlichen Angst in ihrem Inneren nach. Aber da ist nichts, nur Wärme.

»Ich habe gedacht, nachdem du dich gestern an einiges erinnert hast, könnten wir heute einen Spaziergang durch den Ort machen. Vielleicht kommen dann noch mehr Erinnerungen zurück.«

»Kann ich mitkommen?«, fragt Romaine.

»Du kannst auch mitkommen«, erwidert Alice. »Und Frank, wir sollten dir etwas zum Anziehen besorgen. Ein paar neue Unterhosen?«

Sie bemerkt, dass er bei der Erwähnung der Unterwäsche errötet.

»Nicht dass mit deiner Unterhose irgendetwas nicht in Ordnung wäre. Ich bin sicher, sie ist sehr hübsch. Aber es ist doch immer ganz gut, wenn man Ersatz hat.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Sieh mal«, sagt sie. »Dein Hemd ist von Muji, die Hose ist von Gap, und die Schuhe sind von Jones. Du hast schöne Zähne, einen angenehmen Akzent und einen ordentlichen Haarschnitt. Ich nehme also an, dass du dich als kreditwürdig erweist, sobald wir dich wieder zusammengepuzzelt haben.«

»Aber wenn nicht, was dann?« Er macht eine ausladende Handbewegung. »Du musst doch schon für all das hier zahlen. Drei Kinder. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du meinetwegen pleite wärst.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich bin schon groß. Wir kaufen alles im Secondhandshop, wenn das dein Gewissen beruhigt. Na ja, natürlich nicht die Unterhosen.«

»Igitt«, sagt Romaine. »Unterhosen aus dem Secondhandshop. Igitt!«