Alice Lake lebt in einem Haus am Meer. Das Haus ist winzig, ein Cottage der Küstenwache, das vor über dreihundert Jahren für Menschen erbaut wurde, die sehr viel kleiner waren als sie selbst. Die Decken sind schief und wölben sich, ihr vierzehnjähriger Sohn muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Haustür geht. Ihre Kinder waren alle noch klein, als Alice vor sechs Jahren aus London hierhergezogen ist. Jasmine war zehn, Kai acht Jahre, und Romaine war ein vier Monate altes Baby. Alice hatte sich nicht träumen lassen, dass aus Kai eines Tages ein schlaksiger Teenager von einem Meter achtzig würde. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Kinder irgendwann zu groß für dieses Haus sein könnten.
Alice sitzt in ihrem winzigen Zimmer im obersten Stock. Von hier aus betreibt sie ihr kleines Gewerbe. Sie macht Kunst aus alten Landkarten. Die Bilder verkauft sie im Internet. Aber auch wenn das, was sie bekommt, schwachsinnig viel Geld für ein Kunstwerk aus alten Landkarten ist, für eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern ist es das nicht. Alice verkauft mehrere Kunstwerke pro Woche. Und das Geld reicht eben gerade so.
Vor ihrem Fenster schwingt eine Reihe ausgeblichener Wimpel im stürmischen Aprilwind zwischen viktorianischen Straßenlampen hin und her. Linker Hand ist eine Helling. Farbenfrohe kleine Fischerboote liegen dort zu beiden Seiten eines Anlegers aus Beton, und der scheußliche Schaum der Nordsee prallt gegen das felsige Ufer. Dahinter liegt das Meer. Schwarz und unendlich. Alice hat immer noch große Ehrfurcht vor der Nordsee. In Brixton, wo sie früher wohnte, blickte sie nur auf Häuserwände, auf benachbarte Gärten, ein paar Hochhäuser in der Ferne unter dunstigem Himmel. Und jetzt ist da dieses riesige Meer vor ihren Augen. Wenn sie sich auf ihr Sofa setzt, sieht sie nur Meer, als ob das Wasser ein Teil des Raums wäre, als ob es jederzeit durch die Fensterrahmen dringen und sie alle ertränken könnte.
Sie schaut wieder auf ihr iPad. Auf dem Bildschirm ist ein kleiner quadratischer Raum zu sehen. Eine Katze sitzt auf einem grünen Sofa und leckt sich das Fell, auf dem Couchtisch steht eine Teekanne. Alice kann hören, wie ihre Mutter mit der Pflegekraft spricht und ihr Vater mit ihrer Mutter. Sie versteht nicht genau, was sie sagen, denn das Mikrofon der Webcam, die sie bei ihrem letzten Besuch im Wohnzimmer installiert hat, überträgt den Ton aus den anderen Räumen nicht. Aber Alice ist beruhigt, denn sie weiß, dass die Pflegekraft da ist. Ihre Eltern werden Essen bekommen und ihre Medikamente einnehmen, sie werden gewaschen und angezogen, und in den nächsten ein oder zwei Stunden muss Alice sich keine Sorgen um sie machen.
Als sie vor sechs Jahren nach Nordengland zog, hätte sie nie gedacht, dass ihre munteren, gescheiten, gerade mal siebzig Jahre alten Eltern beide innerhalb weniger Wochen an Alzheimer erkranken und Pflegefälle werden würden.
Auf Alices Laptop ist eine Bestellung eingegangen von einem Mann namens Max Fitzgibbon. Er wünscht sich aus den Karten von Cumbria, Chelsea und Saint-Tropez eine Rose, die er seiner Frau zum fünfzigsten Geburtstag schenken will. Alice hat sofort ein Bild von dem Mann vor Augen: Er sieht gut aus für sein Alter, hat silbergraues Haar und trägt einen lila Pullover mit Reißverschluss. Auch nach fünfundzwanzig Jahren Ehe ist er immer noch unsterblich in seine Frau verliebt. Das alles kann sie an seinem Namen, seiner Adresse, an der Wahl seines Geschenks ablesen. »Große, volle Englische Rosen waren schon immer ihre Lieblingsblumen« steht in dem Kommentarfeld des Bestellformulars.
Alice schaut von ihrem Laptop auf und blickt aus dem Fenster. Er ist immer noch da. Der Mann am Strand.
Seit sie heute Morgen um sieben die Vorhänge aufgezogen hat, sitzt er dort, die Arme um die Knie geschlungen, im feuchten Sand und starrt unentwegt aufs Meer hinaus. Sie hat ihn den ganzen Tag im Auge behalten, aus Angst, er könne sich umbringen wollen. Das ist schon einmal passiert. Ein junger Mann, dessen Gesicht im fahlen Mondlicht leichenblass aussah, hatte seinen Mantel am Strand liegen gelassen und war einfach verschwunden. Das ist schon drei Jahre her, doch die Erinnerung quält Alice immer noch.
Aber dieser Mann bewegt sich nicht. Er sitzt einfach nur da und starrt vor sich hin. Die Luft ist heute kalt, und es bläst ein heftiger Seewind, der einen eisigen Gischtschleier mit an Land bringt. Dennoch hat der Mann nur ein Hemd und eine Jeans an. Er hat weder eine Jacke noch eine Tasche dabei und trägt keine Mütze und auch keinen Schal. Irgendetwas an ihm ist beunruhigend: Er ist nicht verwahrlost wie ein Obdachloser und wirkt nicht so seltsam wie die Patienten der psychiatrischen Tagesklinik im Ort. Er ist auch kein Junkie, dafür sieht er zu gesund aus, und er hat keinen Alkohol dabei. Er sieht einfach nur … Alice sucht nach dem passenden Wort, und dann fällt es ihr ein. Er sieht verloren aus.
Eine Stunde später regnet es. Alice späht durch die nasse Fensterscheibe zum Strand hinunter. Er ist immer noch da. Die braunen Haare kleben ihm am Kopf, seine Schultern und Ärmel sind von der Nässe tiefdunkel. In einer halben Stunde muss sie Romaine von der Schule abholen. Im Bruchteil einer Sekunde hat sie sich entschieden.
»Hero!«, ruft sie den scheckigen Bullterrier. »Sadie!« Das ist der alte Pudel. »Griff!« Das ist der Windhund. »Gassi gehen!«
Alice hat drei Hunde, aber nur Griff, den Windhund, hat sie sich selbst ausgesucht. Der Pudel gehört ihren Eltern. Sadie ist achtzehn Jahre alt und sollte eigentlich längst tot sein. Die Hälfte ihres Fells hat sie schon verloren, ihre Beine sind kahl und sehen aus wie Vogelbeinchen, aber sie besteht darauf, mit den anderen Hunden hinauszugehen. Und Hero, der Bullterrier, gehörte ihrem früheren Untermieter. Barry verschwand eines Tages und ließ ihr alles da, auch seine gestörte Hündin. Auf der Straße muss Hero einen Maulkorb tragen, denn sonst fällt sie Kinderwagen und Rollerfahrer an.
Während die Hunde sich um sie scharen und Alice die Leinen an ihren Halsbändern befestigt, fällt ihr Blick auf etwas am Kleiderhaken, das Barry in seiner Nacht-und-Nebel-Aktion ebenfalls vergessen hat: eine abgetragene alte Jacke. Unwillkürlich rümpft sie die Nase. In einem Moment geistiger Umnachtung – und größter Einsamkeit – hat sie einmal mit Barry geschlafen. Das bereute sie bereits, als er auf ihr lag und sie den Käsegeruch bemerkte, der aus jeder Pore seines leicht schwabbeligen Körpers strömte. Sie hielt den Atem an und machte weiter, aber seitdem brachte sie ihn immer mit diesem Geruch in Verbindung.
Vorsichtig zieht sie die Jacke vom Haken und legt sie sich über den Arm. Dann nimmt sie die Hundeleinen und einen Regenschirm und geht in Richtung Strand.
»Hier«, sagt sie und reicht dem Mann die Jacke. »Sie müffelt ein bisschen, aber sie ist regendicht. Und sie hat eine Kapuze, schauen Sie mal.«
Der Mann dreht sich langsam zu Alice um und sieht sie an.
Anscheinend hat er sie noch nicht verstanden, also redet sie einfach weiter. »Die Jacke hat Barry gehört. Mein ehemaliger Untermieter. Er war ungefähr so groß wie Sie. Aber Sie riechen besser. Natürlich weiß ich das nicht genau. Aber Sie sehen so aus, als würden Sie gut riechen.«
Der Mann schaut zu Alice und dann auf die Jacke.
»Also«, sagt sie. »Wollen Sie sie?«
Immer noch keine Antwort.
»Okay. Ich werde die Jacke hier bei Ihnen liegen lassen. Ich brauche sie nicht, und ich will sie auch nicht. Sie können sie also genauso gut behalten. Auch wenn Sie sich nur draufsetzen. Sie können sie auch in den Müll werfen, wenn Sie wollen.«
Sie legt die Jacke neben ihm ab und richtet sich auf. Sein Blick folgt ihr.
»Danke.«
»Sie können also doch sprechen?«
Er scheint überrascht. »Natürlich kann ich sprechen.«
Dem Akzent nach zu schließen, kommt er aus dem Süden. Seine Augen haben die gleiche rötlich braune Farbe wie seine Haare und die Stoppeln an seinem Kinn. Er sieht gut aus. Wenn man dunkle Typen mag.
»Schön«, sagt sie und steckt die eine Hand in ihre Jackentasche, während die andere den Knauf des Regenschirms umklammert. »Das freut mich.«
Er lächelt und greift mit einer Hand nach der feuchten Jacke. »Sind Sie sicher?«
»Wegen der Jacke? Sie würden mir einen Gefallen tun. Ganz im Ernst.«
Der Mann zieht sich die Jacke über die nassen Klamotten und fingert eine Weile am Reißverschluss herum, bevor er ihn zubekommt. »Danke«, sagt er noch einmal. »Vielen Dank.«
Alice dreht sich um und schaut, wo die Hunde abgeblieben sind. Sadie sitzt durchnässt und noch dünner als gewöhnlich neben ihr; die anderen beiden tollen am Ufer herum. Dann wendet sie sich wieder dem Mann zu. »Warum gehen Sie nicht rein bei dem Regen?«, fragt sie. »Laut Wettervorhersage wird es bis morgen früh so weiterregnen. Sie werden noch krank.«
»Wer sind Sie noch mal?«, fragt er und kneift die Augen zusammen, als ob sie ihm schon ihren Namen genannt und er ihn nur kurz vergessen hätte.
»Ich bin Alice Lake. Sie kennen mich nicht.«
»Nein«, sagt er. »Ich kenne Sie nicht.« Diese Tatsache scheint ihn zu beruhigen.
»Ich geh jetzt besser«, sagt Alice.
»Natürlich.«
Alice zieht die Leine straff, und Sadie steht mit wackligen Beinen auf, als wäre sie eine frisch geborene Giraffe. Alice ruft nach den anderen beiden Hunden, aber die beachten sie gar nicht. Sie seufzt genervt und ruft noch einmal. »Blöde Viecher«, murmelt sie bei sich. »Kommt schon!«, brüllt sie laut und läuft auf die Hunde zu. »Kommt sofort her!«
Beide Hunde rennen ins Wasser und wieder heraus; Hero ist mit einer grünlichen Schlickschicht bedeckt. Sie werden stinken. Und sie muss gleich Romaine abholen. Sie darf nicht wieder zu spät kommen. Sie war bereits gestern zu spät dran, denn sie war so vertieft in eines ihrer Landkartenbilder, dass sie die Zeit vergaß. Als sie Romaine um zehn vor vier im Schulsekretariat abholte, sah die Sekretärin sie über ihren Bildschirm hinweg an, als wäre sie ein Schmutzfleck an der Wand.
»Kommt schon, ihr Scheißer!« Mit ein paar großen Schritten ist sie bei ihnen und greift hastig nach Griff. Griff glaubt, das sei ein Spiel, und schießt freudig davon. Alice verfolgt jetzt Hero, die auch vor ihr wegrennt. Die ganze Zeit zieht sie Sadie, die kaum noch aufrecht stehen kann, an ihrem knochigen Hals mit sich. Es regnet in Strömen. Alices Jeans ist klatschnass, ihre Hände eiskalt, die Zeit rennt ihr davon. Sie macht ihrem Frust lauthals Luft und versucht es mit einem Trick, den sie bei ihren Kindern angewendet hat, als sie noch klein waren.
»Schön«, sagt sie. »Sehr schön. Dann bleibt eben hier. Seht zu, wie ihr ohne mich zurechtkommt. Bettelt beim Fleischer um ein paar Knochen. Ein schönes Leben noch!«
Die Hunde bleiben stehen und sehen Alice an. Alice dreht sich um und geht weg.
»Wollen Sie ein paar Hunde haben?«, ruft sie dem Mann zu, der immer noch im Regen am Strand sitzt. »Wollen Sie sie haben? Sie können sie meinetwegen behalten.«
Der Mann schreckt zusammen und sieht sie aus dunklen Augen an. »Ich … ich …«
Alice verdreht die Augen. »Das war nicht ernst gemeint.«
»Nein«, sagt er. »Nein, das weiß ich.«
Sie geht in Richtung Anleger, dort wo sich die Treppe in der Kaimauer befindet. Es ist jetzt halb vier. Die Hunde bleiben am Ufer stehen, blicken erst der eine zum anderen, dann beide zu Alice. Plötzlich rasen sie auf sie zu und stoppen nur Sekunden später, dreckverkrustet und stinkend, bei ihren Füßen.
Alice geht die Stufen hinauf. Als der Mann nach ihr ruft, dreht sie sich um.
»Entschuldigen Sie bitte!«, sagt er. »Entschuldigung, aber wo bin ich?«
»Was?«
»Wo bin ich? Wie heißt dieser Ort hier?«
Alice lacht. »Im Ernst?«
»Ja«, sagt er. »Im Ernst.«
»Das hier ist Ridinghouse Bay.«
Er nickt. »Richtig«, sagt er. »Vielen Dank.«
»Gehen Sie rein, ja?«, sagt Alice leise zu dem Mann. »Bitte bleiben Sie nicht länger in diesem Regen.«
Der Mann lächelt entschuldigend, und Alice winkt zum Abschied. Dann geht sie in Richtung der Schule und hofft, dass er fort sein wird, wenn sie wieder hier vorbeikommt.
Alice weiß, dass man sie in Ridinghouse Bay für einen schrägen Vogel hält. Obwohl man gerechterweise sagen muss, dass es im Ort schon ziemlich viele schräge Vögel gab, bevor sie hierherkam. Aber auch in diesem seltsamen Ort sticht Alice mit ihrem Brixton-Akzent, ihrer schroffen Art und ihrer kunterbunten Familie heraus. Mal abgesehen von den Hunden. Überall, wo sie mit ihnen auftaucht, ziehen sie ihre Show ab. Sie laufen nicht bei Fuß, sie bellen und schnappen, und sie jaulen zum Gotterbarmen, wenn sie mal kurz vor einem Laden warten müssen. Manchmal wechseln Leute die Straßenseite, wenn Alice und ihre Hunde ihnen entgegenkommen, und machen, insbesondere um die breitschultrige Hero mit ihrem Maulkorb, einen großen Bogen.
Seit sie in Ridinghouse Bay wohnt, mimt Alice die geheimnisvolle, Furcht einflößende Einzelgängerin, obwohl sie das in Wirklichkeit gar nicht ist. In London hatte sie fünf Freunde an jedem Finger, mehr als sie brauchen konnte. Sie war ein Partygirl, jemand, der anderen half, bei einer Flasche Wodka die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Sie war die Mutter, die morgens am Schultor fragte, wer noch mit Kaffee trinken kommt. Sie war immer obenauf, sie lachte am lautesten, und sie redete am meisten. Bis sie alles vermasselte.
Aber inzwischen hat sie auch hier eine Freundin gefunden, einen Menschen, der sie versteht. Alice und Derry Dynes haben sich vor achtzehn Monaten an Romaines erstem Schultag kennengelernt. Ihre Blicke trafen sich, und sie waren sich auf Anhieb sympathisch, ein Moment geteilter Freude. »Lust auf einen Kaffee?«, fragte Derry Dynes. Sie hatte Alices feuchte Augen bemerkt, die zusah, wie ihre kleine Tochter im Klassenzimmer verschwand. »Oder lieber etwas Stärkeres?«
Derry ist vielleicht fünf Jahre älter als Alice und mindestens einen Kopf kleiner. Sie hat einen Sohn im Alter von Romaine und eine erwachsene Tochter, die in Edinburgh lebt. Sie liebt Hunde und lässt sich sogar von ihnen auf den Mund küssen, und sie liebt Alice. Sie hat schnell begriffen, dass Alice öfter mal verheerende Entscheidungen trifft und die Kontrolle über ihr Leben verliert, und deshalb ist sie jetzt ihr Coach. Stundenlang sitzt Derry mit Alice zusammen und berät sie in der Auseinandersetzung mit der Schule über Romaines Lernschwierigkeiten, aber sie hält sie zum Beispiel davon ab, in die Schule zu laufen und die unfähige Sekretärin anzuschreien. Derry trinkt mit Alice zwei Flaschen Wein an einem Abend unter der Woche, aber sie bringt sie dazu, den Korken in der dritten Flasche stecken zu lassen. Sie sagt Alice, zu welchem Friseur sie gehen soll und was sie dort sagen soll: »Stufenschnitt, nicht ausgefranst, und Strähnchen.« Früher war Derry Friseurin, heute ist sie Reiki-Therapeutin. Und sie hat mehr Ahnung von Alices Finanzen als diese selbst.
Jetzt steht Derry mit ihrem Sohn Danny und Romaine eng beieinander unter einem riesigen roten Regenschirm vor der Schule.
»Danke dir. Die Hunde sind am Strand durchgedreht, ich konnte sie nicht wieder einfangen.«
Alice beugt sich vor, küsst Romaine auf die Haare und nimmt ihr die Lunchbox ab.
»Was in aller Welt hast du bei diesem Wetter am Strand gemacht?«
Alice verdreht die Augen und seufzt. »Das willst du nicht wissen.«
»Doch«, erwidert Derry, »will ich.«
»Habt ihr heute noch was vor, oder wollen wir zusammen Tee trinken?«
Derry schaut zu ihrem Sohn hinunter und sagt: »Ich sollte mit Danny in die Stadt gehen, um ihm neue Schuhe zu kaufen …«
»Na dann, kommt doch vorher bei mir vorbei. Ich will dir was zeigen.«
»Sieh mal«, sagt Alice, als sie an der Kaimauer stehen und durch den wasserfallartigen Regen schauen, der sich von ihren Regenschirmen ergießt. »Er ist immer noch da.«
»Er?«, fragt Derry.
»Ja, er dort. Ich habe ihm die Jacke gegeben. Die ist von Barry.«
Derry schaudert unwillkürlich. Auch sie erinnert sich an Barry. Alice hat ihr die Ereignisse damals sehr genau und anschaulich beschrieben. »Hatte er denn vorher keine Jacke an?«
»Nein. Er saß nur im Hemd da. Total durchnässt. Er hat mich gefragt, wo er ist.«
Die beiden Kinder ziehen sich an der Mauer hoch und blicken über den Rand.
»Er wusste nicht, wo er ist?«
»Nein. Er schien ein bisschen durcheinander zu sein.«
»Lass dich da nicht in was reinziehen«, sagt Derry.
»Wer hat denn gesagt, dass ich mich da reinziehen lasse?«
»Du hast ihm eine Jacke gegeben. Du steckst schon mittendrin.«
»Das war nur ein Akt der Menschenliebe.«
»Ja«, sagt Derry. »Genau das meine ich.«
Alice sieht ihre Freundin stirnrunzelnd an und geht von der Kaimauer weg. »Willst du wirklich einkaufen gehen?«, fragt sie. »Bei dem Wetter?«
Derry hebt den Kopf und blickt in den düsteren Himmel. »Nein, vielleicht doch nicht.«
»Ach bitte«, sagt Alice. »Kommt mit zu mir. Ich mache uns den Kamin an.«
Derry und Danny bleiben einige Stunden zu Besuch. Die Kleinen spielen im Wohnzimmer, während Derry und Alice in der Küche Tee trinken. Kurz nach vier kommt Jasmine bis auf die Haut durchnässt, mit einem triefenden Rucksack voller Lern- und Arbeitsunterlagen. Sie hatte keine Jacke und auch keinen Schirm dabei. Eine halbe Stunde später kommt Kai mit zwei Freunden aus der Schule. Alice kocht Spaghetti, und Derry kann sie gerade noch davon abhalten, eine Weinflasche zu öffnen, denn sie muss nach Hause. Um sechs gehen sie und Danny. Es regnet immer noch. Matschig braunes Regenwasser fließt in Rinnsalen die Slipanlage hinunter zum Strand und strömt sturzbachartig von den Hausdächern. Inzwischen ist auch noch ein heulender Wind aufgekommen und treibt den Regen waagerecht vor sich her, sodass er überall durch die Ritzen dringt.
Vom oberen Stockwerk ihres Hauses aus kann Alice sehen, dass der Mann immer noch da ist. Er sitzt nicht mehr mitten auf dem Strand, er hat sich nahe der Kaimauer auf einem Haufen Seile niedergelassen. Er hat den Kopf zum Himmel gewandt und die Augen geschlossen. Etwas in Alice zieht sich zusammen, wenn sie den Mann ansieht. Natürlich könnte er verrückt sein. Er könnte gefährlich sein. Aber dann fallen ihr wieder seine traurigen dunklen Bernsteinaugen ein und seine sanfte Stimme, als er sie fragte, wo er sei. Und sie ist hier in ihrem Zuhause, mit anderen Menschen. Im Kamin brennen dicke Holzscheite, hier ist es warm und trocken und sicher. Sie kann nicht hierbleiben, wenn sie weiß, dass er da draußen ist.
Sie kocht Tee und gießt ihn in eine Thermoskanne. Dann bittet sie die Großen, ein Auge auf Romaine zu haben, und geht zu ihm an den Strand.
»Hier, bitte«, sagt sie und reicht ihm die Thermoskanne.
Er nimmt sie entgegen und lächelt.
»Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollen reingehen.«
»Ja, daran erinnere ich mich«, sagt er.
»Gut«, erwidert sie. »Aber wie ich sehe, haben Sie nicht auf mich gehört.«
»Ich kann nicht nach drinnen gehen.«
»Sind Sie obdachlos?«
Er nickt. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich glaube, ja. Ich weiß es nicht genau.«
»Sie wissen es nicht?« Alice lacht leise auf. »Wie lange sitzen Sie denn schon hier?«
»Ich bin seit gestern Abend hier.«
»Und wo sind Sie hergekommen?«
Er dreht sich um und sieht sie an. Seine Augen sind weit aufgerissen und angsterfüllt. »Ich habe keine Ahnung.«
Alice tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Jetzt bereut sie, dass sie an den Strand gekommen ist. Dass sie sich da reinziehen lässt, wie Derry es ausdrückt. »Im Ernst?«, fragt sie.
Er streicht sich die feuchten Haare aus der Stirn und seufzt. »Im Ernst.« Dann gießt er sich Tee ein und hält den Becher in die Höhe. »Danke«, sagt er. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Alice blickt aufs Meer hinaus. Sie weiß nicht genau, was sie sagen soll. Einerseits möchte sie einfach wieder ins warme Haus zurückgehen, andererseits spürt sie, dass sie ein bisschen bei ihm bleiben sollte. Sie stellt dem Mann noch eine Frage: »Wie heißen Sie?«
»Ich glaube«, sagt er, während er auf seinen Tee starrt. »Ich glaube, ich habe das Gedächtnis verloren. Ich meine …« Er dreht sich abrupt zu ihr. »Das wäre doch logisch, oder? Das ist die einzige logische Erklärung. Denn ich weiß nicht, wie ich heiße. Und ich muss einen Namen haben. Jeder hat doch einen Namen. Richtig?«
Alice nickt.
»Ich weiß weder, warum ich hier bin, noch, wie ich hierhergekommen bin. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir: Ich muss das Gedächtnis verloren haben.«
»Aha«, sagt Alice. »Ja, das ist logisch. Haben Sie sich … Sind Sie verletzt?« Sie zeigt auf seinen Kopf.
Er fährt sich mit der Hand über den Kopf, dann sieht er sie an. »Nein«, antwortet er. »Sieht nicht danach aus.«
»Ist Ihnen das schon mal früher passiert? Dass Sie das Gedächtnis verloren haben, meine ich?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagt er treuherzig, und sie müssen beide lachen.
»Wissen Sie, dass Sie in Nordengland sind?«, fragt Alice jetzt.
»Nein«, erwidert er. »Das wusste ich nicht.«
»Und Sie haben einen südlichen Akzent. Sind Sie von dort?«
Er zuckt die Achseln. »Ich vermute mal, ja.«
»Mensch«, sagt Alice. »Das ist ja wirklich verrückt. Sie haben sicher schon in Ihren Taschen nachgesehen, oder?«
»Ja, habe ich«, sagt er. »Ich habe auch etwas gefunden, konnte mir aber keinen Reim darauf machen.«
»Haben Sie das, was Sie gefunden haben, noch?«
»Hier.« Er lehnt sich zur Seite. »Hier ist es.« Er zieht eine Handvoll feuchtes Papier aus seiner Gesäßtasche. »Oh.«
Alice starrt erst auf den nassen Klumpen und dann in den dunkler werdenden Himmel. Kurz streicht sie sich übers Gesicht und atmet tief aus. »Okay«, sagt sie. »Ich muss verrückt sein. Nein, ich bin wirklich verrückt. Also, ich habe ein kleines Studio in meinem Garten. Normalerweise vermiete ich den Raum, aber im Augenblick steht er gerade leer. Sie können dort über Nacht bleiben. Wir trocknen diese nassen Zettel, und morgen versuchen wir, Sie wieder zusammenzupuzzeln. Sind Sie einverstanden?«
Er starrt ungläubig zu ihr hoch. »Ja«, sagt er. »Ja, bitte.«
»Ich muss Sie warnen«, sagt sie im Aufstehen. »Bei mir herrscht Chaos. Ich habe drei sehr laute, freche Kinder und drei ungehorsame Hunde. Mein Haus ist ein Saustall. Erwarten Sie also bloß keine Wunder.«
Er nickt. »Ehrlich gesagt, das ist mir ganz gleich. Und es macht mir wirklich nichts aus. Ich bin Ihnen so dankbar. Ich kann gar nicht glauben, wie freundlich Sie zu mir sind.«
Alice führt den durchnässten fremden Mann die Steinstufen zu ihrem Cottage hinauf. »Nein«, sagt sie. »Das kann ich auch nicht glauben.«