»Oh, du bist wieder da«, sagt Alice.
Es ist fast zehn Uhr abends, als er im Schein der Laternen in Barrys Jacke in der Tür steht und unglaublich erschöpft aussieht. Sechsunddreißig Stunden lang war er weg.
»Ja«, erwidert er. »Wenn das in Ordnung ist.«
»Das muss es wohl, oder? Wo bist du gewesen?«, fragt sie.
»Am Strand.«
»Die ganze Zeit?«
»Na ja, fast die ganze Zeit. Ich habe da letzte Nacht geschlafen.«
»Was hast du nur mit diesem Strand? Ich dachte, du hättest dein Gedächtnis wiedergefunden und wärst nach Hause gegangen.«
»Genau darum geht es.« Er blickt wehmütig über ihre Schulter. »Ich habe mich an etwas erinnert. Etwas Wichtiges.«
Jetzt schaut er sie an. Sie lässt sich erweichen und macht die Tür weit auf, sodass er ins Haus kommen kann. Dann holt sie ihnen beiden ein Bier, und sie setzen sich nebeneinander auf das Sofa, mit Sadie zu ihren Füßen und Hero auf Alices Schoß. Nur Griff hält artig Abstand.
»Sind die Kinder alle im Bett?«, fragt er.
»Die Kleine schläft, die anderen liegen auf ihren Betten und spielen mit ihren Telefonen herum.« In diesem Moment erscheint eine Nachricht auf ihrem eigenen Telefon. Alice schaut flüchtig hin. Jasmine hat Alices Telefon bei Instagram eingeloggt. Jetzt hat irgendwo irgendjemand etwas gelikt, was Jasmine gepostet hat. In den nächsten zehn Minuten wird Alices Telefon wie irre vor sich hin piepen, weil Jasmines sämtliche Freunde und Bekannte ihren Post liken. Alice hat ein Meer körperloser Daumen vor Augen, die unsinnigerweise auf kleine Herzen drücken. Sie seufzt.
»Was ist das?«, fragt Frank und deutet mit dem Kinn auf das iPad.
»Das ist das Wohnzimmer meiner Eltern«, sagt sie. »In London.«
Er nickt, als ob das, was sie gesagt hat, für ihn einen Sinn ergäbe.
»Sie sind beide dement«, erklärt sie. »Die Pflegekräfte kommen regelmäßig, aber niemand passt Tag und Nacht auf sie auf. Und man muss wirklich auf sie aufpassen. Meine Schwester hat auch so eine Webcam, und wir hoffen, dass sie und ich zusammen mit den Pflegern unsere Eltern noch etwas länger zu Hause lassen können. Denn die Alternative ist … na ja, daran will ich gar nicht denken.«
Sie lächelt knapp. Kaum zu glauben, dass ihre Eltern vor nicht einmal zwei Jahren eine Reise zur Chinesischen Mauer geplant haben, und jetzt kommt keiner von ihnen mehr rechtzeitig bis zum Badezimmer.
»Mein Leben ist sehr seltsam«, sagt sie.
»Meins auch«, sagt er, und sie fangen beide an zu lachen.
Sie kann kaum glauben, wie erleichtert sie war, als er vorhin vor ihrer Tür stand. Sie hat sich allergrößte Mühe gegeben, streng zu klingen, dabei hätte sie am liebsten die Arme um ihn geschlungen und gerufen: Ein Glück, du bist wieder da. Aus diesem Grund ist sie jetzt vorsichtig und cool, denn das ist neuerdings ihre standardmäßige Herangehensweise ans Leben – und nicht etwa, Wildfremde zu umarmen.
»Also«, sagt sie. »Was hast du so gemacht?«
Frank lächelt und dreht die Bierflasche in seinen Händen. »Ich hatte mir gedacht, dass ich einen Grund gehabt haben muss, warum ich nach Ridinghouse Bay gekommen bin. Du weißt ja, dass ich eine Zugfahrkarte hierher gekauft habe. Und ich habe zum Strand gefunden. Das kann kein Zufall sein. Ich dachte, wenn ich eine Weile herumlaufe, würde ich etwas sehen, was meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen könnte.«
»Und das ist passiert?«
»Ja!« Seine braunen Augen leuchten. »Ich habe mich an ein Mädchen auf einem Karussell erinnert. Weißt du, so ein altes Drehkarussell mit Pferden, die rauf- und runtergleiten?« Er sieht sie fragend an, als wäre er nicht sicher, ob dieses Bild ihr einleuchtet, aber sie nickt ihm ermutigend zu.
»Die Steam Fair«, sagt sie. »Die findet jeden Sommer hier statt.«
»Oh!« Er sieht erfreut aus. »Dann ist meine Erinnerung also echt?«
»Ja, das wäre möglich. Und wer war das Mädchen?«
»Das weiß ich nicht. Sie hatte braune Haare, und sie war sehr jung. Ein Teenager, denke ich.«
»Und du hast überhaupt keine Idee, wer das sein könnte?«
»Nein, aber mir ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich bin die High Street entlang zum Strand gegangen, weil ich das Gefühl hatte, das Mädchen auf dem Karussell dort gesehen zu haben …«
»Genau, dort ist es.«
Er lächelt. »Dieser Rummel, die Steam Fair?«
»Ja, die findet am Strand unterhalb der High Street statt! Und was ist passiert, als du dort hingegangen bist?«
»Ich musste mich übergeben«, sagt er.
»Was, wirklich?«
»Ja. Aus heiterem Himmel. Danach konnte ich mich nicht mehr bewegen. Es war genau wie am Mittwoch. Ich habe mich in den Sand gesetzt und aufs Meer hinausgeblickt. Menschen kamen und gingen, aber ich war wie weggedriftet. Doch als es vorhin dunkel wurde, hatte ich noch eine Erinnerung. Ich erinnerte …« Seine Hände zitterten. »Ich erinnerte mich an einen Mann, der hier ins Meer sprang. Das war auf jeden Fall in Ridinghouse Bay. Es war dunkel, ich sah das Mondlicht auf dem Wasser, der Mann schwamm immer weiter raus. Ich wusste, ich musste ihm folgen, aber ich konnte nicht … Ich weiß nicht, warum …« Mit der linken Hand massiert er sein rechtes Handgelenk. »Ich konnte einfach nicht.«
Er schaut Alice an und blinzelt. Sie muss an den jungen Mann denken, der vor ein paar Jahren an diesem Strand ins Wasser gegangen ist. »Ich habe das auch gesehen«, sagt sie. »Vor drei Jahren. Ich habe gesehen, wie ein Mann ins Wasser gegangen ist. Er hat sich ausgezogen, seine Kleidung zu einem sauberen Stapel zusammengelegt, dann ist er ins Meer gegangen, bis sein Kopf ganz unter Wasser war. Ich frage mich …«
»Nein.« Er schüttelt entschieden den Kopf. »Nein. Dieser Mann hatte seine Sachen noch an. Er trug eine Jeans und ein T-Shirt. Und er hatte … Er hatte noch etwas bei sich. Etwas Großes. In seinen Armen. Und er ist nicht ins Wasser gegangen. Er ist gesprungen. Als ob er vor jemandem fliehen würde.«
»Vor wem?«
»Ich weiß es nicht«, sagt er. »Aber er könnte vor mir geflohen sein.«