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1993

Es war alles fürchterlich schiefgegangen.

Kirsty war es zwar gelungen, die Decke über Marks Kopf zu werfen, aber da Gray Marks Schädel darunter nicht wirklich erkennen konnte, landete der Lampenfuß ohne große Wirkung irgendwo an der Seite seines Kopfes. In Sekundenschnelle hatte sich Mark aus der Decke herausgewühlt und Kirsty auf das Bett geschleudert. Gray hatte sich sofort auf ihn geworfen, ihn mit seinem heilen Arm um die Taille gefasst und versucht, ihn wegzuzerren, aber Mark war doppelt so stark wie Gray und hatte ihn mühelos abgewehrt.

Gray stolperte rückwärts gegen die Tür. Sie war unverschlossen. Er drückte die Klinke.

»Wenn du das Zimmer verlässt, bringe ich sie um«, schrie Mark.

Gray hielt inne.

»Ihr beide habt es wohl immer noch nicht richtig mitgekriegt. Ihr geht nirgendwo hin. Die Party unten ist vorbei. Es ist keiner mehr da.«

»Unser Dad wird bald hier sein«, keuchte Kirsty.

»Ah ja, euer Dad war da und ist wieder weg. Ich habe ihm erzählt, dass ihr vor einer Stunde gegangen seid.«

»Er wird die Polizei rufen, wenn er uns nicht findet«, entgegnete Gray. »Sie werden direkt hierherkommen. Sie werden deine Drogen finden. Dich einsperren.«

Mark zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich. Ich habe ihm gesagt, dass ihr zum Strand gegangen seid, mit ein paar neuen Freunden, und dass ihr beide high seid. Völlig zugedröhnt.«

Er zog Kirsty an den Armen hoch und drehte sich dann zu Gray um: »Setz dich auch hin!«, befahl er und klopfte neben sich aufs Bett. »Sofort!«

Das Messer war wieder an Kirstys Hals. Gray seufzte und ging auf das Bett zu. Mark zerrte ihn runter und sprang auf die Füße. Er fand das Kabel, das Gray aus der Lampe gerissen hatte, und fesselte Grays und Kirstys Hände so, dass sie beide Rücken an Rücken zusammengebunden waren.

»Mein Handgelenk!« Gray schrie auf: »Bitte sei vorsichtig mit meinem Handgelenk.«

Mark blickte teilnahmsvoll auf seine Hand: »Oh ja, tut mir leid. Manchmal kann ich meine Kraft nicht richtig einschätzen.« Dann aber spannte er das Kabel langsam immer fester und ließ dabei seinen Blick nicht von Grays Augen.

Gray schrie. Es fühlte sich an, als würden ihm Nägel ins Knochenmark getrieben. Ihm war, als ob alle Schmerzen, die er je erfahren hatte, in einer unvorstellbar entsetzlichen Empfindung zusammenschmolzen.

»Schrei, so viel du willst«, sagte Mark, während er das Kabel umständlich nachzog. »Keiner wird dich hören.«

Dann trat er zurück, um sein Werk zu begutachten. »Klasse, das wird euch daran hindern, Mist zu machen.«

»Mark, was soll das eigentlich?«, flehte Gray mit verzweifelter und hohler Stimme. »Was hast du vor?«

Mark nahm die Haltung eines sehr tief über etwas nachdenkenden Menschen an. »Mensch, gute Frage. Ich habe mich tatsächlich noch nicht entschieden. Lass uns später noch mal darüber reden.«

Schweiß rann Gray in die Augenbrauen und die Wangen hinunter, als er mit dem Schmerz kämpfte, den das Kabel in seinen gebrochenen Knochen grub. Als Kirsty sich nur wenig rührte, heulte er vor Schmerz auf.

»Entschuldige«, hörte er sie flüstern.

Währenddessen lief Mark auf und ab, immer noch in seiner lächerlichen Denkerhaltung. Dann setzte er sich plötzlich neben Kirsty, und Gray spürte, wie sie den Atem anhielt und sich ihr Rücken straffte. Gray konnte nicht sehen, was passierte, aber er hörte Kirsty sagen: »Bitte nicht!«

Heiser brachte er heraus: »Lass sie los! Fass sie verdammt noch mal nicht an!«

Er merkte, wie Kirstys Körper zuckte und sich krümmte.

»Hör auf!«, stieß sie hervor. »Nein!«

»Was macht er, Kirsty?«, fragte Gray.

»Ich berühre sie, Graham«, hörte er Marks Stimme, ruhig und gemessen. »Ich berühre ihren Körper.«

Gray zuckte zusammen, ihm wurde flau im Magen: »Zum Teufel, lass sie los! Nimm die Hände weg von ihr, oder ich bringe dich um!«

Mark lachte auf seine kichernde, abstoßende Art: »Ja wirklich, Graham? Tust du das? Ich streichele gerade ihren Hals, Graham. Ganz zart. Mit meinen Fingerspitzen. Ich glaube, sie mag das. Ja, sie mag es. Sie schnurrt ja nahezu.«

Gray spürte ein dunkelrotes Feuer in sich aufsteigen, es züngelte sich in sein Bewusstsein, ließ seinen Verstand schmelzen. Er wollte diesen Menschen töten. Ihn ermorden. Ihn erstechen, erschlagen, ihm auf dem Schädel herumtrampeln, bis der platzte, ihn in den Kopf schießen und dann ins Herz, ihn treten, ihn steinigen, enthaupten, zermalmen, zerreißen, bis er nichts anderes mehr war als ein Klumpen Fleisch und Knochen.

»Sag doch mal, Kirsty, warum bist du heute Abend überhaupt hergekommen? Das würde mich interessieren.«

»Es hörte sich an, als könnte es lustig werden.« Ihre Stimme klang gedrückt und dunkel.

»Und hast du deshalb gesagt, dass du mich liebst? Am Strand. Weil das lustig war?«

»Nein. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich hatte noch nie einen Freund, und ich wusste nicht, was von mir erwartet wurde.«

»Gut. Heute Abend lernst du sicher etwas fürs Leben. Man kann unmöglich herumlaufen und Leuten sagen, dass man sie liebt, Kirsty. Nicht, wenn man es nicht so meint. Damit weckt man falsche Erwartungen. Ach, übrigens« – er schielte zu Gray hin – »ich massiere momentan die Brüste deiner Schwester. Sie sind einfach wunderbar. Besser sogar, als ich sie mir vorgestellt habe. Zwei ordentliche Handvoll.«

Gray spürte im Rücken, wie Kirsty sich wand. Er war blind vor machtloser Wut, atmete aber tief ein und aus, um einen klaren Kopf zu bekommen. Wut würde gar nichts helfen. Er verschob seine Hände ein wenig und begann, an dem Kabel zu drehen, wobei er die erneute Schmerzattacke in seinem Handgelenk zu ignorieren versuchte. Die Schnur war, wie vorauszusehen, fest angezogen, aber wenn er das ausgefranste Ende finden könnte, würde möglicherweise genug Spiel sein, um es irgendwie zu bewegen.

»Männer sind sensibel, Kirsty, das verkennen viele. Leicht verletzbar. Und du hast mich tief verletzt. Ich habe mich sofort in dich verliebt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Das habe ich dir beteuert. Es war wie ein Donnerschlag, so etwas habe ich noch nie vorher erlebt. Und du? So wie du dich verhalten hast, so wenig Achtung wie du vor den Gefühlen eines anderen hast, das macht dich irgendwie unmenschlich. Verstehst du, was ich meine?«

Kirstys ganzer Körper zuckte.

»Was hat er gemacht?«, schrie Gray.

»Ich habe meine Hand zwischen ihren Beinen, Graham.« Sein Tonfall war munter. »Direkt … zwischen … ihren … Beinen. Oh ja. Ja, sie mag das, großer Bruder. Sie mag das wirklich und wahrhaftig. Und wisst ihr, das ist das, was Leuten passiert, die nicht den mindesten Respekt vor anderen haben.« Die letzten Worte klangen wie ein Ratschlag für die Zukunft an sie beide. Und dann, es war schrecklich, stöhnte Mark. »Mmmmmm. Ja.«

Gray fingerte immer intensiver und schneller an dem Kabel. Die Gelenklampe lag dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Er konnte Kirsty noch helfen, wenn er nur die Schnur lösen könnte. Kirsty hatte gemerkt, was er beabsichtigte, und er fühlte, dass ihre Finger auch an dem Kabel arbeiteten.

Mark stöhnte wieder. Kirsty zitterte. Es durfte nicht passieren. Er würde es nicht zulassen. Denn sonst wäre ihr Leben ruiniert, Kirstys und seines. Für immer.

Er blickte zu der Lampe. Er befeuchte sich die Lippen. Er prüfte die Schnur. Sie lockerte sich. Zweifellos löste sie sich. Mark redete weiter. Wie gut seine Schwester sich anfühlte, wie feucht sie wurde, aber Gray blendete alles aus. Er konnte sich das nicht anhören. Er musste sich konzentrieren. Den Schmerz vergessen. Marks Hände zwischen den Beinen seiner Schwester vergessen. Nur diese Schnur lösen. Seine Hände herausziehen. Die Lampe greifen. Sie über Marks Kopf hauen. Dem hier ein Ende machen. Ein Ende machen. Ein Ende.