45

Alice lehnt die kleine Karte gegen den Fuß ihrer Nachttischlampe und starrt darauf. Sie ist ausgezeichnet. Eine kleine Bleistiftskizze von ihr und Romaine, Seite an Seite, die Arme umeinandergeschlungen. Sie haben in der Küche Modell gesessen. Zehn Minuten hat Frank gerade mal gebraucht und sie beide genau eingefangen. Romaines außergewöhnliche Locken, die Speckfältchen an ihren Handgelenken, ihr schiefes Lächeln. Und die langen Beine von Alice, die Wirbel an ihrem Haaransatz, der müde Reiz in ihrem Gesichtsausdruck. Aber vor allem hat er die Liebe zwischen ihnen eingefangen. Das Kumpelhafte. Denn Romaine ist tatsächlich ihr Kumpel. Sie leben im selben Rhythmus, tanzen nach dem gleichen Beat. Wäre Romaine dreißig Jahre älter und nicht ihr Kind, wären sie wahrscheinlich beste Freundinnen. Das strahlt Franks reizende Zeichnung aus. Alice und Romaine. Für immer beste Freunde.

Er hat den Abend mit ihnen verbracht, eingeklemmt auf dem Sofa zwischen Romaine und Kai, und irgendeine Show auf Channel Five geguckt. Aber als Alice endlich herunterkam, nachdem sie Romaine ins Bett gebracht hatte – wie immer viel zu spät –, war auch Frank schon schlafen gegangen. Die kleine Karte ist alles, was von ihm geblieben ist, und eine kleine gekritzelte Notiz: »Ab ins Bett. Morgen ist Schule. Ich sehe dich beim Frühstück.«

Sie fühlt sich gleichermaßen enttäuscht und erleichtert. Natürlich muss er heute in seinem eigenen Bett schlafen. Hat sie nicht gerade heute Morgen ihr Bett mit Männer abschreckenden Zierkissen bestückt? Aber zugleich sehnt sie sich nach ihm. Sie nimmt die Karte hoch und zieht mit der Fingerspitze die Linien nach. Er hat sie schön aussehen lassen. Gertenschlank und hohlwangig, mit einem durchdringenden Blick. Ob er sie wohl so sieht? Nicht als Hausfrau mit wilder Dachsmähne, mit Rettungsring um die Taille und dunklen Schatten unter den Augen? Sondern als Frau, die eine harte Konkurrenz für Catherine Deneuve wäre?

Sie seufzt, sieht zum Fenster und stellt sich Frank in ihrem Studio auf dem Feldbett vor. Vielleicht ist er nackt. Dann sieht sie dasselbe Bett morgen Nacht vor sich, leer, das Studio kalt und abgeschlossen. Das Leben wieder normal. Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis sie wieder den Körper eines Mannes in den Armen halten kann. Welche Chancen gibt es in einer kleinen, abgelegenen Küstenstadt für eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die ihr Haus nur verlässt, um Hunde den Strand entlangzujagen und vor der Schule herumzustehen, einen halbwegs anständigen Mann zu finden, der mit ihr Sex haben will?

Sie schafft es bis zur Tür, bevor die Vernunft sie einholt. Ihre Hand gleitet von der Klinke, und sie holt tief Luft.

Kai erscheint hinter ihr, als sie sich umdreht.

»Hallo, mein Hübscher.«

»Was machst du hier?«

»Ich schließe ab. Und was hast du vor?«

»Nichts. Ich will mir nur Wasser holen.«

Er lässt sich ein Glas Wasser einlaufen.

»Geht’s dir gut?« Er dreht sich um und mustert sie.

»Ja, alles super.«

»Du wirkst …« Seine Augen gleiten nachdenklich durch den Raum und zu ihr zurück. »… ein bisschen verrückt.«

Sie lacht. »Verrückt?«

»Ja. Ich meine, nicht verrückt verrückt. Nur ein bisschen durcheinander.« Er sieht zum Hinterhof hinüber. »Ist er der Grund?«

»Er?«

»Ja, du weißt schon. Die ganze Sache mit dem Gedächtnisverlust. Weil du dich um ihn kümmerst?«

»Na ja, ein bisschen vielleicht. Das war schon seltsam, oder? Ihn hier bei uns zu haben.« Sie geht auf ihren Sohn zu und legt ihm die Hand auf den Nacken. »Aber morgen um diese Zeit ist es vorbei. Dann ist er weg. Unser Leben wird wieder normal verlaufen.«

»Wünschst du dir das?«

Sie sieht ihn prüfend an.

»Wünschst du dir, dass alles wieder normal wird?«

»Ich denke …, ich meine …«

»Ich mag ihn«, unterbricht er sie. »Wenn sich herausstellt, dass er kein Mörder ist. Verstehst du? Oder selbst, wenn er einer ist.« Er lacht.

»Oh«, sagt Alice, »schön.«

»Nacht, Mum.« Er umarmt sie ungestüm. »Hab dich lieb.«

»Ich habe dich auch lieb, mein Kleiner.« Sie küsst ihn auf die Wange. Er lächelt sie an und geht nach oben. Und sie bleibt allein zurück in der Küche mit dem brummenden Kühlschrank und der Dunkelheit und den Hunden.