Russ sieht wirklich genauso aus, wie er gesagt hat. Ein unscheinbarer Mann mit einem freundlichen Gesicht und nicht dem geringsten Interesse an Mode. Sie sieht, wie er aufschreckt, als sie den netten kleinen Laden betritt. Sie hat sich heute Morgen Mühe gegeben mit ihrem Aussehen. Nach drei Tagen ohne Dusche und Make-up, die glatten Haare stets zum Pferdeschwanz zusammengebunden, fühlte sie sich genötigt, für Carls Freund gut auszusehen. So wie sie es auch getan hätte, wenn Carl die Einladung zum Essen bei Russ zu Hause angenommen hätte. Sie überlegt, was Carl Russ wohl über sie erzählt hat. Bestimmt hat er gesagt, dass seine Frau wunderschön ist. Eine groß gewachsene und elegante Frau. Bestimmt hat er gesagt, dass er der glücklichste Mann der Welt ist.
»Lily?« Er erhebt sich von seinem Stuhl.
»Richtig.« Sie geben sich die Hand, und Lily setzt sich ihm gegenüber.
»Schön, dich kennenzulernen«, sagt er und reicht ihr die Speisekarte. Seine Hand zittert leicht.
»Ja«, erwidert sie. »Vielen Dank.«
»Ich nehme nur einen Kaffee, aber bestell, was du magst. Die Eier mit Speck sind gut hier. Und die Focaccia ist frisch gebacken.«
Lily liest die Speisekarte und merkt, dass sie wirklich hungrig ist. Seit Tagen hat sie keinen Hunger gehabt. »Toast«, sagt sie zu dem Ladenbesitzer, als er an ihren Tisch kommt. Sie denkt daran zu lächeln und fügt hinzu: »Bitte. Weißen Toast mit Butter. Und einen Cappuccino und auch einen Orangensaft. Vielen Dank.«
»Also«, sagt Russ. »Du hast immer noch nichts von Carl gehört, nehme ich an?«
»Nein. Und ich werde auch nichts mehr von Carl hören. Da bin ich ziemlich sicher.«
»Du meinst, du glaubst …«
»Ich denke, er ist tot.«
Russ wird bleich.
»Wenn er noch am Leben wäre, selbst wenn er in einem Sarg unterhalb der Meeresoberfläche eingeschlossen wäre, wenn er Arme und Beine verloren hätte, wenn er blind und taub wäre, würde er einen Weg zu mir zurückfinden. Das würde er.«
»Ja, natürlich, aber das würde doch einige Zeit dauern …«
Sie wirft ihm einen warnenden Blick zu. Jetzt ist nicht der richtige Moment für Scherze. »Ich habe dieses Gefühl, in meinem Bauch, in meinem Herzen. Er ist tot. Und er ist nicht nur tot, Russ, sondern er war noch nie lebendig.«
Jetzt sieht Russ etwas verängstigt aus. Er sieht aus wie der Mann im Zug neulich, als ob er Angst hätte, dass er gleich mit irgendeinem Trick über den Tisch gezogen wird.
Lily mäßigt ihren Ton und sagt: »Hör zu, Russ. Die Polizei hat Carls Reisepass mitgenommen, als ich ihn vermisst gemeldet habe. Sie haben seine Daten überprüft. Und sie sagen, dass er gar nicht existiert. Es gibt keinen Carl Monrose. Sein Reisepass ist gefälscht.« Sie stützt sich mit den Händen auf der Tischkante ab und blickt tief in Russ’ blasse Augen. »Und du bist der einzige Mensch, der ihn gekannt hat. Nun erklär mir mal, wie das sein kann.«
»Gefälscht?«
»Ja, er hat den Reisepass von irgendwelchen üblen Typen im Internet gekauft. Es gibt keinen Carl Monrose. Er existiert nicht.«
»Aber – ihr habt doch geheiratet? Seine Papiere müssen doch in Ordnung gewesen sein, sonst hättet ihr doch die Urkunde gar nicht bekommen?«
Lily schluckt ihre Verärgerung über Russ’ Bemerkung hinunter. »Wenn du einen Reisepass besitzt«, sagt sie, »kannst du alle anderen Formalitäten problemlos erledigen. Außerdem war die Hochzeit in Kiew. Verstehst du, was ich sagen will?«
Er nickt und starrt auf seinen Kaffeeschaum.
»Kannst du mir bitte erzählen, was du über ihn weißt? Über meinen Ehemann?«
»Also …« Russ lehnt sich zurück und blickt durch die Fensterfront des Deli. Der Besitzer bringt Lily ihren Toast. Sie beschmiert die Scheiben mit Butter, während Russ erzählt.
»Also, ich habe Carl bei der Arbeit kennengelernt, das weißt du ja schon. Vor fünf Jahren. Nein, vor viereinhalb Jahren. Ungefähr. Wir waren im selben Team, ich habe vergessen, welches das war. Egal. Ich habe ihn immer für einen coolen Typen gehalten. Er war zurückhaltend, aber ich fand ihn interessant. Also machte ich es mir zur Aufgabe, mich mit ihm anzufreunden. Carl, das begriff ich sofort, musste man sich langsam nähern. Wenn wir mal was trinken gingen, wartete ich danach immer einige Wochen, bevor ich ihn ein nächstes Mal fragte. Und wenn wir zusammen unterwegs waren, redete ich meist über allgemeine Themen. Fußball oder das Büro. Sobald das Gespräch persönlicher wurde, lenkte ich es wieder auf eine neutrale Ebene, damit er nicht dachte, ich wolle ihn aushorchen. Das mag verrückt klingen, aber offen gestanden weiß ich fast nichts über ihn.«
Lily nickt. Für sie klingt das gar nicht verrückt. »Was ist mit seiner Familie? Hat er dir je etwas über sie erzählt?«
Russ runzelt die Stirn. »Im Grunde nicht. Ich meine, ich wusste, dass er eine Familie hatte. Eine Mutter. Eine Schwester. Sein Vater war, glaube ich, schon gestorben.«
»Ja.« Lily ist erleichtert, dass zumindest diese Angaben mit dem übereinstimmen, was Carl ihr erzählt hat. »Kannst du dich an die Namen von seiner Mutter und seiner Schwester erinnern? Oder vielleicht auch, wo sie wohnen?«
»Nein, die Namen hat er nie erwähnt. Es hieß immer nur ›meine Mutter‹ oder ›meine Schwester‹. Hast du die beiden denn noch nicht kennengelernt?«
»Nein. Wir sind ja erst vor Kurzem aus den Flitterwochen zurückgekehrt. Carl hat gesagt, wir hätten später noch genug Zeit für seine Familie, im Moment sollte alle Zeit uns allein gehören.« Sie zuckt die Achseln. All die romantischen Momente mit Carl, die sich so besonders angefühlt hatten, schienen letztlich nur von ihm inszeniert gewesen zu sein. »Allerdings habe ich mit seiner Mutter an unserem Hochzeitstag telefoniert. Carl gab mir sein Telefon und sagte: ›Mum möchte dich begrüßen.‹ Das Gespräch war kurz. Wir sprachen eine Minute lang, vielleicht auch weniger. Sie klang sehr freundlich.« (Und auch sehr unsicher, wie Lily jetzt wieder einfällt, als ob sie es eilig hätte, das Gespräch zu beenden, als ob sie Angst hätte, etwas Falsches zu sagen.) »Ich wünschte, ich könnte mich an ihren Namen erinnern.«
»Das würde wohl nicht viel nützen. Wahrscheinlich heißt seine Mutter mit Nachnamen gar nicht Monrose«, wirft Russ ein. »Wenn das nicht Carls richtiger Name ist. Und ich bezweifle, dass uns der Vorname allein weiterbringen würde.«
»Das ist wahr, ja. Aber es ist so merkwürdig, dass ich mich nicht erinnern kann. Diese Frau ist meine Schwiegermutter, ich habe mit ihr am Telefon gesprochen, und trotzdem fällt mir ihr Name nicht mehr ein. Ich habe das Gefühl, als ob … als ob ich das alles nur geträumt hätte. Als wäre ich in Trance gefallen. In dem Moment, als ich Carl traf.«
»Na ja, das sagt man doch über das Verliebtsein, es ist eine chemische Reaktion, nicht wahr? Und die vernebelt das Gehirn.«
»Wahrscheinlich ist das so. Aber jetzt, wo ich allein bin, kann ich langsam wieder klar denken. Und jetzt stelle ich mir all diese Fragen. Unzählige Fragen, die ich ihm hätte stellen sollen, als er noch da war.«
»Na ja, Einsicht ist der erste Weg zur Besserung.«
Lily lächelt grimmig. Sie weiß nicht, was das Wort Einsicht bedeutet. »Hör zu, Russ. Bist du überrascht, das alles über Carl zu erfahren?«
»Also, ja, natürlich überrascht mich das. Meine Güte. Das passiert ja nicht jeden Tag, dass Menschen eine falsche Identität besitzen und einfach so verschwinden. Trotzdem muss ich sagen, dass Carl ein Buch mit sieben Siegeln für mich war.«
»Warum wolltest du sein Freund sein, Russ? Wo er doch so verschlossen war. Warum hast du dir die Mühe gemacht?«
Russ stellt seine Kaffeetasse bedächtig auf der Untertasse ab. »Gute Frage«, sagt er. »Jo hat mich das schon oft gefragt: ›Was siehst du nur ihn ihm?‹ Sie mag ihn nicht besonders.« Er lacht.
Lily ist furchtbar beleidigt und fasst eine spontane Abneigung gegen diese Jo.
»Ich glaube, dass wir uns einfach gegenseitig respektieren. Wir sind wie Tag und Nacht, aber wir verstehen einander. Der Punkt ist …« Er beugt sich zu ihr, und sie kann sehen, wie er sich entspannt, als ihm schließlich ein Licht aufgeht. »Der Punkt ist, ich wäre gern mehr so wie er. Und er, glaube ich, wäre gern ein bisschen mehr wie ich.« Zufrieden mit seiner Aussage, lehnt er sich zurück.
Lily kann sich zwar nicht vorstellen, dass Carl auf irgendeine Weise wie dieser harmlose Mann sein möchte, aber sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Ja, ich verstehe.«
»Ich glaube, er hat sich das gewünscht, was ich habe. Eine feste Beziehung, ein Zuhause, ein intaktes Familienleben. Und ich hätte gern etwas von seiner Freiheit, seinem Glamour, seinem guten Aussehen.« Er lacht noch einmal.
»Wo hat er gewohnt?«, fragt sie, um das Gespräch am Laufen zu halten. »Bevor er mit mir zusammen war?«
»Ich habe keine Ahnung.« Russ lächelt und schüttelt gedankenverloren den Kopf. »Nicht im Süden der Stadt, da bin ich sicher. Wenn wir zusammen weg waren, habe ich ihm beim Nachhausegehen manchmal angeboten, dass wir uns ein Taxi teilen. Aber er hat immer gesagt: ›Ich muss in die andere Richtung.‹ Ich habe nie nachgefragt, wo er genau hinfuhr.« Er hält inne und kratzt sich am Kopf. »Ja«, sagt er. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es schon komisch, dass ich so viel Zeit mit ihm verbracht habe und so wenig über ihn weiß.«
»Hatte er Freundinnen? Vor mir?«
»Also, ja, das schon, aber nichts Ernstes. Nur …« Russ sieht Lily unsicher an. »Es klingt hart, aber ich würde sagen, er hat die Frauen ausgenutzt. Zumindest war das mein Eindruck. Er wollte nur Sex mit ihnen. Er hat nie Namen genannt, immer nur ›diese Frau, die ich am Freitag kennengelernt habe‹ oder ›die Tussi, die ich am Samstag flachgelegt habe‹. Die Frauen kamen und gingen. Er schien sie beinahe … zu verachten. Als ob sie nichts wert wären, wenn sie sich mit ihm einließen. Er sagte ziemlich gemeine Sachen über sie. Oft habe ich gedacht, dass er in der Vergangenheit vielleicht einmal sehr verletzt worden ist. Und sich deshalb diese harte Schale zugelegt hat, weißt du?« Russ klopft mit dem Finger auf die Tischkante. Plötzlich sieht er niedergeschlagen aus. »Aber dann hat er dich getroffen.« Sein Gesicht hellt sich auf. »Und alles war anders. Vollkommen anders. Er hat dich angebetet. Ich glaube, er hat gedacht, dass du sein ganzes Leben verändern würdest. Und jetzt …«
»Ist er tot«, beendet Lily den Satz für ihn.
»Also, ich denke nicht, dass er tot ist. Aber er ist in Schwierigkeiten. Eine falsche Identität. Er muss echt was ausgefressen haben. Oder ihm wurde etwas Schlimmes angetan. Niemand wechselt seine Identität, wenn er nicht unbedingt muss. Er muss ehrlich verzweifelt gewesen sein. Ich würde dir gern helfen – wenn ich das kann?«
»Ja, bitte«, sagt Lily. »Bitte. Ich kenne niemanden in diesem Land. Die zuständige Polizistin hasst mich. Und sonst will mir keiner helfen. Es scheint allen egal zu sein.« Sie stellt fest, dass sie weint. Verärgert nimmt sie die Serviette entgegen, die Russ ihr hinhält, und wischt entschlossen die Tränen fort. »Entschuldigung.«
»Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Wirklich nicht. Hör zu, sobald ich nach Hause komme, spreche ich mit Jo. Dann überlegen wir, was wir tun können. Wir könnten vielleicht …« Er bricht ab und spricht diesen Gedanken jetzt lieber nicht aus. »Also, ich rede mit ihr. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Du musst ja das Gefühl haben, in der Hölle gelandet zu sein.«
»Ja«, sagt Lily und nickt entschieden. »Ja, ich bin in der Hölle gelandet. Genau so fühle ich mich.«