Lilys Mutter überweist ihr einhundert Pfund. Mit dem Geld fährt sie am Freitagnachmittag mit dem Zug nach London. Dort will sie zu Carls Büro gehen und jeden seiner Schritte nachverfolgen. Es ist das erste Mal, dass sie allein unterwegs ist.
»Bitte«, sagt sie zu dem Schalterbeamten, als sie endlich drankommt. »Ich muss nach London. Können Sie mir helfen?«
Der Mann verzieht keine Miene. »Rückfahrt?«
»Ja«, antwortet sie. »Will ich auch. Später.«
Jetzt lächelt der Mann, und sie weiß, dass sie etwas Dummes gesagt hat.
Er nimmt ihre Zwanzigpfundnote entgegen, druckt ihr zwei Fahrkarten aus und reicht sie ihr zusammen mit dem Restgeld: »Bahnsteig drei. In sieben Minuten.«
Sie schnappt sich die Fahrkarten und das Geld. »Okay«, sagt sie.
Im Zug sieht sie ihre neue Welt wie hastig angefertigte Skizzen an sich vorbeiziehen: blank gescheuertes Grün und beißendes Gelb, die Rückseite von Industrieanlagen, viele Reihen roter Backsteinhäuser mit dem immer gleichen Kinderspielzeug auf dem immer gleichen Stückchen Rasen. Sie kennt diese Welt nicht. Sie kennt nur Carl. Sie steckt sich zwei Fingerknöchel in den Mund, um den heftigen Schmerz zu unterdrücken. Sie kann jetzt nicht weinen. Nicht hier im Zug unter lauter fremden Menschen. Sie schaut aus dem Fenster.
Lily ist schon einmal in Carls Büro gewesen, an einem Wochenende, das sie beide in London verbrachten, vor ihrer Hochzeit. Sie wohnten im West End Hotel und aßen in einem Restaurant hoch oben in einem Wolkenkratzer mit Blick auf die funkelnde Stadt zu Abend. Er hatte sie gefragt: »Hast du Lust zu sehen, wo ich arbeite?« Sie hatte die Achseln gezuckt und »Warum nicht« geantwortet.
Das Büro befindet sich in einem niedrigen, symmetrischen Gebäude mit einer Front aus dunklem Glas und gebürstetem Stahl. In der Mitte ist eine große elektrische Drehtür, dahinter liegt das Foyer, ganz in Schwarz und Chrom mit einem Wasserspiel aus Edelstahl an der Wand. Sie schaut auf ihre Uhr. Es ist sechzehn Uhr vierzig. Zwanzig Minuten noch bis zu dem Augenblick, in dem Carl sein Büro verlassen hätte. Sie beschließt, hier zu warten und solange Candy Crush auf ihrem Telefon zu spielen.
Um fünf Minuten vor fünf stellt sie sich vor, wie Carl den Computer ausschaltet, seine Jacke vom Stuhl nimmt, die Metallverschlüsse seiner Aktentasche zuschnappen lässt, einigen Kollegen »Tschüss, bis morgen« zuruft. (Würde er das tun? Würde Carl sich verabschieden? Vielleicht eher nicht. Carl ist nicht der Typ, der laut Auf Wiedersehen sagt. Vielleicht hebt er eine Hand zum Abschied. Oder er sagt kurz angebunden: »Bis dann.«) Sie stellt sich vor, wie er auf den Fahrstuhl wartet, er blickt auf sein Telefon und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Im Kopf zählt sie bis zwanzig, dann sieht sie ihn den Fahrstuhl betreten und hört das leise Dingdong der darunterliegenden Stockwerke. Im Foyer steigt er aus und geht durch die Drehtür. In diesem Moment beginnt sie zur Victoria Station zu laufen. Es ist nicht weit, nur zwei Minuten zu Fuß. Sie sucht die Anzeigentafeln nach Carls Zug ab, den um 17 Uhr 06 nach Grinstead, und geht zu Bahnsteig vier. Sie schaut in die Gesichter der Menschen, die in dieselbe Richtung unterwegs sind. Kennen sie Carl? Würden sie ihn wiedererkennen? Jeden Tag der gleiche Zug zur gleichen Zeit?
Lily steigt in den Zug und sucht sich einen Platz. Ihr gegenüber sitzt ein Mann. Sie holt tief Luft und tastet in ihrer Handtasche nach dem Foto von Carl. »Entschuldigen Sie bitte.« Ihre Stimme klingt schroffer als beabsichtigt. »Könnten Sie mir bitte helfen?«
Der Mann schaut sie mit unverhohlenem Misstrauen an, und sie weiß sofort, dass er denkt, sie wolle ihn nach Geld fragen. »Das ist mein Mann«, sagt sie und schiebt das Foto über den Tisch zwischen ihnen. »Er fährt jeden Tag mit diesem Zug, und jetzt ist er verschwunden.«
Der Mann weicht ein wenig zurück. Er denkt immer noch, dass sie ihn um Geld bitten wird. Sie unterdrückt den Drang, ihm zu sagen, er sei ein Arsch. »Er ist als vermisst gemeldet«, fährt sie fort. »Offiziell. Die Polizei ist auf dem Laufenden.«
Er hebt eine Augenbraue und sagt: »O-okay.«
»Erkennen Sie ihn wieder?«, fragt sie grimmig.
Er blickt auf das Foto und schüttelt den Kopf. »Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Vielen Dank.« Sie schnappt sich das Foto und stopft es wieder in die Handtasche. Ihr Gesicht ist feuerrot, und sie spürt, dass ihr Hals vor Wut ganz fleckig wird. Sie geht zu dem nächsten freien Platz, wo sie dann neben drei befreundeten Frauen sitzt, die nach Wein und Zigaretten riechen. Die kann sie unmöglich nach Carl fragen, sie reden so laut und schnell, und außerdem sind sie keine Pendlerinnen. Rechts von ihr sitzt ein Mann im Anzug. Sie holt das Foto hervor und atmet tief durch. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie spricht schnell, damit er keine Zeit hat, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen. »Mein Mann wird vermisst. Er ist jeden Abend mit diesem Zug gefahren. Kennen Sie ihn vielleicht?«
Der Mann zieht eine Lesebrille aus seiner Jackentasche, nimmt das Foto in die Hand, betrachtet es prüfend und gibt es ihr dann zurück. »Tut mir leid, aber ich kenne den Mann nicht.« Seine Stimme ist tief und freundlich. Lily spürt, dass sie sich entspannt. Sie schenkt ihm ein warmes Lächeln, bedankt sich und geht dann von Waggon zu Waggon, von einem Fahrgast zum anderen. Jedes Gespräch stärkt ihr Vertrauen. Die Menschen sind grundsätzlich freundlich, findet sie, und ein Lächeln wirkt bei den Engländern Wunder. Es ist nicht ihre Art, grundlos zu lächeln. Sie lächelt ihre Freunde an oder Babys oder ihre Familie, aber nicht fremde Menschen im Zug. Doch jetzt lächelt sie unentwegt, und als der Zug in Oxted einfährt, hat sie bestimmt dreißig Fahrgäste gefragt und immer die gleiche Antwort bekommen: »Nein, tut mir wirklich leid.« Einige der Befragten haben nachgehakt: »Wie heißt Ihr Mann?« – »Seit wann wird er vermisst?« – »Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Suche.«
An der Fahrkartenschranke schaut sie sich nach der letzten Person um, die gesehen haben könnte, wie Carl den Bahnhof verlässt: den Fahrkartenkontrolleur. Aber da steht niemand, da ist nur die Schranke. Sie seufzt. Sie hat all ihre Hoffnung darauf gesetzt, einen Menschen fragen zu können. Dann macht sie sich auf den langen Heimweg. Sie kommt an ein paar Geschäften vorbei, und ermutigt durch die freundlichen Reaktionen im Zug, geht sie hinein, lächelt, zeigt das Foto und stellt ihre Frage. Der Mann im Getränkeladen erkennt Carl auf dem Foto und erzählt, dass er gelegentlich eine Flasche Wein bei ihm gekauft habe. »Gut aussehender Kerl«, sagt er. Lily nickt und erwidert: »Ja, das stimmt.«
Als keine Geschäfte mehr kommen, überquert sie die Hauptstraße und geht durch kleine Straßen mit roten Häusern, die sich in einem verwirrenden Zickzack bis zur nächsten Hauptstraße hinziehen, wo sich der Supermarkt und andere große Geschäfte befinden. Hier kommt sie zum Mittagessen her, wenn es ihr in der Wohnung zu einsam wird. Dann sitzt sie im Starbucks und liest die Zeitung, damit sie ein Gesprächsthema hat, wenn Carl von der Arbeit nach Hause kommt. Der letzte Teil des Weges führt durch ruhige Straßen. Einzeln stehende niedrige Häuser, die Carl Bungalows nennt, mit langen Auffahrten. Keine Geschäfte. Keine Menschen. Dann kommt noch ein kurzes Stück, wo ein Neubaugebiet entsteht, das laut dem großen Plakat an der Straße Wolf’s Hill Boulevard heißen soll. Carl lacht jedes Mal laut auf, wenn er daran vorbeikommt. »Boulevard«, sagt er dann. »In Oxted. So ein Scheiß.«
Lily bleibt einen Moment lang stehen und starrt auf das Gebäude. Dort ist niemand. Seit sie hier wohnt, hat sie niemanden dort gesehen. Sie kann sehen, dass der erste Häuserblock beinahe fertig gebaut ist. Die Fenster wurden eingesetzt und die Fassade verkleidet. Die Bauarbeiter sind schon mit dem nächsten Häuserblock beschäftigt, der nur aus Traggerüsten und im Wind flatternden Plastikplanen besteht. Die Sonne ist untergegangen, der Himmel hat eine samtig blaue Farbe, Autoscheinwerfer strahlen golden im Vorbeifahren, und sie ist allein auf der Straße. Ein seltsamer Schauer durchfährt sie. Wieder schaut sie auf den neuen Häuserblock und entdeckt ein flackerndes Licht in einem Fenster im ersten Stock.
Lily dreht sich um und geht in Richtung ihrer Wohnung. Aus einem unerfindlichen Grund beunruhigt das flackernde Licht sie. Sie wird der dicken Polizistin davon erzählen. Vielleicht ist ja was dran an ihrem Verdacht. Vielleicht ist auch nichts dran. Aber im Augenblick ist das flackernde Licht ihr einziger Anhaltspunkt.
Sobald sie zu Hause ist, ruft sie bei der Polizei an.
»Hallo, ist dort Mrs. Traviss?«
»Ja, Police Constable Traviss.«
»Oh, Entschuldigung. Police Constable Traviss. Hier spricht Mrs. Monrose. Die Frau von Carl Monrose.«
»Ich weiß. Sie müssen hellsehen können. Ich wollte Sie gerade anrufen. Wir müssen den Computer Ihres Mannes holen. Sein Reisepass könnte auf dem Darknet-Markt erworben worden sein. Wir möchten seinen Browser-Verlauf und sein E-Mail-Konto überprüfen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine Pause, wie die Polizistin sie immer wieder macht, und diese Pause besagt, dass sie Lily für eine Nervensäge und dazu noch für dumm hält.
»Diese Reisepässe sind wie maßgeschneidert. Sie sind unglaublich teuer, und die Leute bestellen sie in den dunkelsten Tiefen des Internets. Ihr Mann muss mit ziemlich gefährlichen Typen Kontakt gehabt haben. Und das auch eine Zeit lang. Wir müssen diese Leute finden. Deshalb brauchen wir Zugang zu dem Computer Ihres Mannes.«
»Aber was haben diese Leute mit der Suche nach meinem Mann zu tun?«
Wieder die besagte Pause. »Also, das ist keine direkte Spur, aber diese Leute könnten etwas über Ihren Mann wissen. Darüber hinaus ist es möglich, dass sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben. Wenn er diesen Männern beispielsweise Geld geschuldet oder ihnen gedroht hat, sie auffliegen zu lassen.«
Das Bild des flackernden Lichts in der gerade fertiggestellten Wohnung kommt ihr blitzartig wieder in den Sinn. Das Blut in ihren Adern fühlt sich erst kalt, dann heiß an. Gangster. Verbrecher. Auf diese Gedanken war sie selbst in der Dunkelheit der Nacht nicht gekommen. »Wissen Sie«, beginnt sie. »Vielleicht hat es keine Bedeutung, aber in dem neu gebauten Haus neben unserer Wohnung hat Licht gebrannt. Nur ein einziges Licht in einem einzigen Fenster. Obwohl dort noch niemand wohnt. Das gab mir zu denken …«
Lily hält inne. Was gab ihr das Licht zu denken? Sie hat keine Ahnung. Ihr war unheimlich zumute gewesen. Das war alles. Kalt und gruselig.
»Ich weiß nicht«, fährt sie fort. »Es kam mir seltsam vor.«
»Okay.« Beverly übergeht ihre Bemerkung. »Sind Sie zu Hause? Kann ich jetzt vorbeikommen, um den Computer abzuholen?«
»Also, ja, natürlich können Sie kommen. Aber ich kenne das Passwort nicht.«
»Das ist kein Problem. Wir setzen da unsere Computerjungs dran.«
»Also dann, in Ordnung. Und vielleicht können wir zu der Baustelle hinübergehen, wenn Sie da sind? Und in der Wohnung nachschauen, wo das Licht war?«
»Ich bin nicht sicher, ob wir dafür Zeit haben. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
Beverly kommt in Begleitung eines jungen, einfach gekleideten Mannes mit einer riesigen Brille und einem Karton unter dem Arm. Er bleibt maßlos lange in dem ungenutzten zweiten Schlafzimmer, wo der Computer steht. Lily sitzt die ganze Zeit über ängstlich auf dem Sofa und schaut, die Arme vor der Brust verschränkt, zur Wanduhr. »Was macht er da drin?«, fragt sie Beverly.
»Ach, wissen Sie, nur das Übliche. Wir können hier nicht einfach so reinmarschieren und den Computer ausstöpseln.«
Lily nickt. Noch ein paar Minuten vergehen. Sie hört, wie Schubladen geöffnet und geschlossen werden. Dann erscheint der Mann in der Tür und schaut zu Lily: »Haben Sie den Schlüssel für die unterste Schrankschublade?«, fragt er.
»Nein«, sagt sie. »Den Schlüssel suche ich schon seit zwei Tagen. Der muss an seinem Schlüsselbund sein.« Sie zuckt die Achseln.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Schublade aufbohre? Ich würde gern nachsehen, was da drin ist. Vielleicht Speicherkarten?«
Lily sitzt ganz steif da. Sie stellt sich vor, dass Carl in die Wohnung kommt und sieht, dass sein brandneuer Schrank ein Loch hat, seine persönliche Habe geplündert und gestohlen wurde. Aber dann kommt ihr der Gedanke, dass Carl sie angelogen hat. Sie kennt nicht einmal seinen richtigen Namen. Er hat eine verschlossene Schublade in ihrem gemeinsamen Zuhause. Und er hat den Schlüssel mit zur Arbeit genommen. Dafür muss er einen Grund gehabt haben.
»Ja«, sagt sie schließlich. »Einverstanden. Aber bitte machen Sie keine Unordnung.«
Der junge Mann lächelt und geht wieder in das Zimmer zurück. Zehn Sekunden später ertönt das gellende Heulen des Bohrers. Kurz darauf steht der Mann mit einem Karton in der Tür.
»Also«, sagt er leichthin, als ob das, was hier passiert, ganz normal wäre. »Hier ist alles erledigt. Haben Sie schon …« Er blickt auf den Zettel mit persönlichen Fragen, den er Lily vorhin gegeben hatte: besondere Daten, Namen der Haustiere, Namen der Eltern, Kosenamen, Namen von wichtigen Orten.
»Ja.« Sie schiebt das Papier über den Tisch zu ihm hin, und er steckt es zu den anderen Dingen in seinem Karton.
»Klasse«, sagt er. »Okay.« Das ist an Beverly gerichtet, die sich langsam erhebt.
Alle zusammen gehen sie zur Tür, und Beverly sagt: »Wir melden uns.«
Die leere Wohnung mit dem flackernden Licht hat sie mit keiner Silbe erwähnt.
Nachdem die beiden gegangen sind, steht Lily eine Weile reglos da. Sie lässt den Blick durch die Wohnung schweifen, so wie sie es schon hundertmal gemacht hat, seit Carl am Dienstagabend nicht nach Hause gekommen ist. Zuerst hat sie nur gesehen, dass er nicht da war. Jetzt sieht sie, dass er sie getäuscht hat. Langsam geht sie in das unbenutzte Zimmer und kniet sich hin, um den Inhalt der verschlossenen Schublade zu untersuchen.