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1993

Die Schnur war nun so locker, dass Gray seine Hände befreien konnte. Er widerstand der Versuchung und nahm sich Zeit, den nächsten Schritt zu planen.

»Ich greife gerade nach dem Messer, um deiner Schwester das T-Shirt aufzuschlitzen, Graham. Aber keine Sorge, ich bin sehr vorsichtig. Ich will sie ja nicht verletzen, jedenfalls jetzt noch nicht.«

Gray zuckte wieder zusammen, als er das Reißen des Stoffes hörte und das schwere Atmen seiner Schwester.

Dann: »Irre, ich meine wirklich … irre. Das sind jawohl die unglaublichsten Titten, die ich je gesehen habe. Ehrlich. Hast du schon mal die Titten deiner Schwester gesehen, Graham?« Mark sprach in einem Plauderton, in dem man jemanden fragt, ob er einen bestimmten Film schon gesehen habe. »Was für ein Jammer, dass du nicht siehst, was ich hier sehe. Da entgeht dir einiges.«

Gray atmete tief ein, um seinen flammenden Zorn zu beherrschen. Sachte zog er seine gesunde Hand aus der Schlinge und versuchte, mit den Fingern einen der Metallhaken zu fassen, die Kirsty in die Gesäßtasche ihrer Jeans gesteckt hatte. Sie bewegte sich etwas, um es ihm zu erleichtern, was Mark aber missverstand. »Oh, deine Schwester scheint jetzt an der Sache Gefallen zu finden, Graham. Na dann, lassen wir diese Schönen frei. Wollen wir?«

Gray spürte, wie Mark seiner Schwester an den Rücken fasste und an dem BH-Verschluss herumfummelte. Er hielt die Hände still und den Atem an. Es schien ewig zu dauern.

»Hast du noch nie einen BH geöffnet, Mark?«, höhnte er.

»Schnauze, du verdammter Vollpfosten.«

»Also ehrlich. Du wirkst ein bisschen wie ein Amateur. Ich frage mich tatsächlich, ob du vielleicht noch Jungfrau bist. Du führst dich ja auf wie ein verdammter Freak.«

Er merkte, wie Marks Hände sich von Kirstys Rücken lösten. Und dann war Mark über ihm, das Gesicht wutverzerrt. Er holte aus und schlug Gray hart ins Gesicht. »Halt verdammt noch mal das Maul.«

Und da war er, der Moment. Gray riss seine Hand aus der Schlinge, sprang auf und zog Mark den Metallhaken über den Schädel. Er fühlte, wie er ins Fleisch drang, fühlte, wie er das Fleisch aufriss, sah, wie Mark sich mit beiden Händen an den Kopf fasste und das Blut durch seine Finger quoll, sah die schwere Lampe zu seinen Füßen, hob sie mit dem gesunden Arm auf und holte aus. Dann aber sah er, wie Marks Hände sich vom Kopf lösten und auf halbem Weg nach der Lampe griffen und fühlte, wie sie ihm aus der Hand genommen wurde, als würde eine Blume von der Wiese gepflückt.

»Oh mein Gott«, stöhnte Mark, die Lampe in der Hand. Das Blut rann ihm in drei Bahnen übers Gesicht. »Jetzt hast du es also getan, jetzt hast du es wirklich getan.« Seine Stimme hatte sich verändert, das schrille Jammern schlug um in tiefes Knurren.

»Die Tür«, schrie Gray seiner Schwester zu. »Hau ab! Lauf!«

Er erhaschte einen Blick auf ihr tränenverschmiertes Gesicht, als sie zur Tür stürzte. Mit einer Hand hielt sie die Fetzen ihres T-Shirts vor der Brust zusammen, mit der anderen steckte sie etwas in ihre Hosentasche.

»Lauf«, rief er noch einmal.

Mark ließ die Lampe fallen, stolperte durch den Raum und konnte fast Kirstys Arm ergreifen, als diese gerade durch die Tür schlüpfte und sie hart hinter sich zuschlug, direkt gegen seinen Arm. Mark stoppte, griff sich an den Arm und heulte auf. Dann stieß er die Tür auf und stürzte ihr nach wie ein verwundetes Tier. Gray rannte hinterher. Er sah Kirsty die Treppe hinunterrasen, zwei Stufen auf einmal nehmend, sie stolperte und rutschte drei Stufen hinunter, ehe sie wieder auf die Füße kam. Aber dadurch verlor sie kostbare Zeit, und Mark konnte sie einholen. Er riss sie auf die Treppe, warf sich mit seinem vollen Gewicht auf sie, zerrte an ihrem BH, zerrte an ihrer Jeans, und das Blut tropfte aus seiner Wunde auf ihre Brust. Gray griff ihn am Hemdkragen und wollte ihn von ihr wegziehen, aber er hatte nicht genug Kraft mit nur einem Arm, sodass Mark ihn leicht wegstoßen konnte. Aber da er durch Grays Versuch abgelenkt war, gelang es Kirsty, ihn mit ihrem linken Fuß direkt zwischen die Beine zu treten und ihn zurückzustoßen. Vor Schmerz blieb Mark zusammengerollt liegen.

»Du verdammtes Miststück«, winselte er und hielt sich den Unterleib. »Du widerliches, hässliches Miststück!«

Gray griff Kirstys Hand. Sie rannten los und riefen laut um Hilfe, falls sich doch noch irgendjemand im Haus befinden sollte.

»Nein, sie wird abgeschlossen sein!«, rief Gray und zog Kirsty von der Eingangstür weg.

Sie liefen durch die geflieste Halle auf die Hintertür zu. Gray blickte zurück, um zu sehen, wie viel Vorsprung sie hatten, gerade als Marks blutverschmiertes Gesicht vor ihm auftauchte und er seinen wütenden, heißen Atem spürte. Dann war Gray am Boden, sein Kinn knallte auf die harten Fliesen, einen Moment lang verschlug es ihm den Atem, und schon lag Mark auf ihm. Er fühlte, wie Mark seinen Kopf mit beiden Händen griff, ihn hochhob und dann auf den harten Boden schmetterte, und er fühlte, wie sein Hirn gegen die Schädeldecke prallte und sein Gehör zu einem dumpfen Brummen verstummte.

Seine Schwester schrie. Dann war es für einen Augenblick seltsam und erschreckend still. Mark erhob sich plötzlich von Gray und brach dann zusammen. Kirsty hatte aufgehört zu schreien und stand über den beiden, laut und hastig keuchend.

Sie hielt ein blutiges Messer umklammert. Marks Messer. Das Blut tropfte auf die weißen Fliesen. Und dann half sie Gray auf, stützte ihn, und sie rannten los, durch die Hintertür, über den herrlichen mondbeschienenen Rasen, Hand in Hand.