1993
Kirsty und Mark amüsierten sich hervorragend. Ganz so, wie es dem Jahrmarktklischee entspricht, hat Mark für Kirsty ein großes, hässliches Plüschtier gewonnen, das sie nun an ihre Brust gedrückt hält. Und dann haben sie, auch das ein Klischee, Zuckerwatte gegessen. Anschließend hat Mark beim Hau-den-Lukas so fest zugeschlagen, dass ein kräftiges Dingdong ertönte: Jahrmarktklischee Nummer drei. Und zu guter Letzt, gerade als Gray schon dachte, sie kämen nie mehr wieder, tauchten die beiden, die Münder aufeinandergepresst, aus dem Tunnel of Love auf.
Gray drehte sich der Magen um.
Es war halb zehn. Der Himmel war indigoblau mit lila Streifen. Seine Schwester küsste einen Mann. Gray konnte sich nicht entscheiden, ob er zu seinen Eltern gehen und ihnen alles erzählen oder ob er lieber dableiben sollte, für den Fall, dass etwas Schlimmes geschah. Und er fragte sich, was er selbst unter schlimm verstand. Er konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, aber es war da, wie ein dicker Kloß im Hals. Es ging nicht darum, dass seine Schwester sich verliebte, dass sie Sex hatte, dass sie erwachsen wurde. Dieses Gefühl war anders, dunkler. Es ging um Mark. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Etwas Dunkles und Grausames haftete ihm an. Sein Gesicht war zu kantig. Hinter jeder seiner Gesten, jedem Wort steckte Kalkül. Selbst seine Haarfarbe war zu gleichmäßig, um echt zu sein. Gray hatte den Eindruck, wenn er an Marks Haaren zerrte, würde er ihm eine Maske vom Gesicht ziehen und sein wahres Ich entlarven.
Gray beobachtete, wie Kirsty und Mark aus dem Tunnel-of-Love-Wagen stiegen und Hand in Hand, Mark mit dem hässlichen Plüschtier unter dem Arm, wegspazierten. Wohin würden die beiden jetzt gehen, fragte sich Gray. Auf dem Jahrmarkt gab es nichts mehr für sie zu tun. Kirsty war zu jung, um in den Pub zu gehen. Inzwischen war es dunkel. Die beiden schlenderten zum Ausgang; Mark warf den Kopf zurück, um lauthals über etwas zu lachen, das Kirsty gesagt hatte. Gray konnte sich nicht vorstellen, was das wohl gewesen sein könnte. Dann beobachtete er mit wachsendem Unbehagen, wie Mark Kirsty vom Ortskern weg zum Meer hinführte. Gray glitt von dem Felsen, auf dem er gesessen hatte, und folgte den beiden. Die Lichter von Ridinghouse Bay gelangten kaum noch bis hierher, und die Musik der Steam Fair war bloß noch ein entferntes, leicht unheimliches Säuseln. Nur der hellgelbe Mond leuchtete ihnen den Weg. Gray folgte ihnen und versuchte zu verstehen, was sie sagten, aber ihre Stimmen gingen im Getöse der auf dem Strand aufschlagenden Wellen unter. Irgendwann blieben Kirsty und Mark stehen. Im Mondlicht konnte Gray ihre Umrisse erkennen und beobachtete mit Entsetzen, wie sie sich zueinander drehten und sich küssten, erst zärtlich, dann leidenschaftlicher. Gray wandte den Blick ab. Er wollte das nicht sehen, aber er wollte auch nicht unaufmerksam werden, für den Fall, dass Mark etwas tat, was seine Schwester verletzte.
Einige Minuten später löste sich Mark von Kirsty, nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie auf die Nasenspitze, und beide wandten sich zum Gehen. »Komm«, hörte Gray ihn sagen. »Es ist schon spät, ich sollte dich jetzt nach Hause bringen.«
Gray kam zehn Minuten vor Kirsty zu Hause an, etwas außer Atem, denn er war den ganzen Weg gerannt.
»Wo warst du?« Seine Mutter sah von einem dicken, zerfledderten Roman auf.
»Nirgendwo«, antwortete er. »Ich bin nur so rumgelaufen.«
»Das war ein schönes Abendessen, nicht wahr?«
»Es war ganz in Ordnung.«
»Wie lustig, dass wir ausgerechnet Mark getroffen haben.«
»Das war kein Zufall, Mum.«
»Wie meinst du das? Natürlich war das Zufall.«
Gray verdrehte die Augen angesichts ihrer Naivität. »Stört dich das gar nicht?«
»Was soll mich stören?«
»Dass Kirsty mit Mark rumzieht. Wo er doch so viel älter ist als sie.«
»Also wirklich. Mark ist erst neunzehn. Als ich so alt wie Kirsty war, hatte ich einen Freund, der zwanzig war.«
»Aber wir kennen ihn gar nicht.«
»Wir waren doch bei ihm zu Hause, Graham! Wir haben seine Tante kennengelernt! Das ist viel mehr als die meisten Eltern mitbekommen, wenn ihr Kind eine Beziehung anfängt.«
Beziehung?
Seine Mutter blickte auf ihre Armbanduhr, und in diesem Moment hörte man auch schon Gelächter vor der Haustür. Die Briefkastenklappe wurde geöffnet und wieder zugemacht, während Grays Dad zur Haustür ging, wo Kirsty und Mark und der hässliche Bär warteten.
»Immer rein mit euch!«, sagte Tony.
Mark schaute sich neugierig im Haus um. »Darf ich mich umsehen?«, fragte er. »Ich bin schon so oft an diesen kleinen Häusern vorbeigekommen, aber ich habe noch nie eines von innen gesehen.«
»Natürlich darfst du!« Tony machte die Tür weit auf und bedeutete Mark hereinzukommen. »Bitte sehr.«
»Wow«, sagte Mark. »Das ist wie ein Puppenhaus! So winzig!«
»Na ja«, sagte Tony. »Dieser Häuser wurden für kleine Menschen gebaut. Im sechzehnten Jahrhundert, als das hier gebaut wurde, wären wir alle Riesen gewesen!«
Mark zog den Kopf ein, während er von einem Zimmer ins nächste ging. Gray beobachtete ihn aufmerksam. Dann drehte er sich um und warf Kirsty einen Blick zu. Schamröte stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Und da oben?« Mark spähte die Treppe hinauf.
»Schlafzimmer«, sagte Tony. »Willst du mal sehen?«
Mark drehte sich um und lächelte. »Nein«, sagte er. »Ich kann es mir schon vorstellen.«
»Kann ich dir ein Bier anbieten? Oder etwas anderes?«
»Nein, danke.« Mark sah auf seine Uhr. »Ich gehe jetzt nach Hause. Ich habe Kitty versprochen, heute nach dem Abendessen die Küche aufzuräumen. Ich habe ihr nicht einmal Bescheid gesagt, als ich wegging!« Er lachte, ein hartes, raues Lachen, das irgendwie nicht zu ihm passte. »Vielleicht sehen wir uns morgen am Strand? Das Wetter soll gut werden.«
»Morgen wahrscheinlich nicht«, antwortete Tony. »Wir wollen einen Ausflug machen.«
Einen Moment lang verdunkelte sich Marks Gesicht, und ein Anflug von Verdruss überschattete seine Augen. Aber dann fing er sich wieder und sagte: »Oh, das ist toll! Wohin soll’s gehen?«
»Wir wissen es noch nicht. Vielleicht fahren wir nach Robin Hood’s Bay. Vielleicht schauen wir uns auch eines der Schlösser an. Wonach uns der Sinn steht.«
Mark zuckte die Achseln und seufzte. »Also gut. Dann vielleicht ein anderes Mal.«
»Ja«, sagte Tony. »Sicher. Wie kommst du nach Hause?« Er deutete mit dem Arm in Richtung der großen Villa den Uferweg hinauf. »Soll ich dich hinfahren?«
»Tony«, sagte Mum. »Du solltest nicht mehr Auto fahren. Du hast schon Bier getrunken.«
»Ach, jetzt hab dich nicht so. Das waren nur zwei kleine Bier, und außerdem ist das schon zwei Stunden her.«
»Wirklich, ich kann das Stück laufen. Das habe ich schon unzählige Male getan. Bei jedem Wetter, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Aber vielen Dank für das Angebot. Sie sind sehr freundlich.«
Mark ging, nachdem er sich überschwänglich von allen mit Wangenküsschen verabschiedet hatte.
»Also«, fragte Gray seine Schwester am nächsten Morgen, während sie sich beide über Schüsseln voller Frosties beugten. »Worüber habt ihr den ganzen Abend geredet? Du und Mark?«
»Warum betonst du seinen Namen so, als wäre er nur ausgedacht?«
Gray zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Für mich fühlt sich der ganze Typ wie ausgedacht an. Als ob er die ganze Zeit von einem Skript ablesen würde.«
Kirsty sah ihn finster an. »Wovon in aller Welt redest du überhaupt, du Psycho?«
»Unwichtig«, gab er zurück, denn er würde ihr das Unbehagen, das Mark in ihr hervorrief, nicht erklären können. »Also, worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Nichts Besonderes«, sagte sie. »Nur über Schule, Familie und solche Sachen.«
»Magst du ihn immer noch?«
Kirsty wurde rot und starrte auf ihre Schüssel. »Vielleicht. Er ist ganz in Ordnung.«
»Du musst ihn nicht wiedersehen, wenn du nicht willst. Du kannst Nein sagen, wenn er dich wieder fragt.«
»Na ja, wahrscheinlich fragt er eh nicht noch mal. Insofern …«
»Was ist denn zwischen euch passiert?« Gray war neugierig, ob sie ihn anlügen würde. »Habt ihr euch geküsst oder so?«
»Was geht dich denn das an?«, blaffte sie ihn an.
»Ich bin dein Bruder«, sagte er mit mehr Nachdruck als beabsichtigt.
»›Ich bin dein Bruder‹«, äffte sie ihn mit tiefer Stimme und gestrafften Schultern nach. Sie lachte.
»Ja, also. Ich will nur nicht, dass du etwas Dummes machst.«
Sie verdrehte die Augen und stand vom Tisch auf. »Du bist nur eifersüchtig«, sagte sie. »Weil ich einen Jungen geküsst habe und du noch kein Mädchen.«
Es war ein unbedachter Seitenhieb. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen. Aber ihre Bemerkung traf Gray. Denn er wusste nicht, warum er noch kein Mädchen geküsst hatte, vor allem, weil er viel Zeit mit ihnen verbrachte. Er hatte viele Hollywood-Momente erlebt, Augenblicke, in denen es so aussah, als würde er gleich ein Mädchen küssen, aber dann drehten sie sich weg oder jemand kam zur Tür herein oder er verlor den Mut, und statt zu küssen, riss er Witze. Er wusste, dass es Mädchen gab, die ihn mochten. Das hatte er schon oft gehört. Aber das waren immer die Mädchen, die er nicht so toll fand. Traurige, pausbäckige Mädchen, die im Speisesaal verzweifelt Augenkontakt mit ihm suchten.
Gray hatte Mädchen umarmt, und sie hatten sich auf seinen Schoß gesetzt. Er hatte Händchen mit ihnen gehalten, sie auf die Wange geküsst, er hatte sich mit ihnen amüsiert und mit ihnen geredet, und er hatte sie auf dem Gepäckträger seines Fahrrads mitgenommen. Aus einem unerfindlichen Grund aber gelang es ihm nicht, die Grenze zur intimen Beziehung zu überschreiten. Er würde sich fragen, ob er schwul war, wenn er nicht vom Gegenteil überzeugt wäre.
»Du kannst mich mal«, rief er seiner Schwester hinterher, die ihm den Rücken zudrehte. »Was weißt du schon?«
Sie beachtete ihn gar nicht und verließ den Raum.
Mark saß vor Rabbit Cottage, als sie von ihrem Ausflug nach Sledmere House zurückkamen. Er hatte sich seitlich auf die Kaimauer gegenüber gesetzt, das Gesicht der Nachmittagssonne zugewandt. Er trug ein frisches weißes Hemd und ausgeblichene Jeans. In der Hand hielt er einen Strauß rosa Rosen.
Gray bemerkte, dass Kirsty sich verkrampfte, als sie Mark erblickte.
»Gutes Timing«, sagte Mark und schlenderte auf sie zu. »Ich bin gerade angekommen.«
»Na also«, sagte Tony. »Das nennt man Glück.«
»Hier.« Mark reichte Kirsty die Rosen. »Für dein Zimmer. Damit es etwas freundlicher wird.«
»Oh«, sagte sie befangen. »Vielen Dank.«
Es entstand ein peinliches Schweigen, genau die Art von Gesprächslücke, die mit einer Einladung ins Haus gefüllt werden musste. Aber niemand bot Mark an hereinzukommen.
»War der Ausflug schön?«, fragte Mark.
»Klasse!«, sagte Tony. »Ich war zwar schon hundertmal auf Sledmere House, aber es ist jedes Mal wieder ein toller Trip.«
»Ich bin da noch nie gewesen«, sagte Mark in einem Ton, der durchblicken ließ, dass er nicht mal im Traum daran dachte, dorthin zu fahren.
»Also«, sagte Pam. »Was hast du heute gemacht? Warst du am Strand?«
Mark schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht.«
Sein ungezwungener Charme schien ihn verlassen zu haben. Kirstys Körpersprache war mehr als deutlich, und er verstand das.
Gray drehte sich um und ging zur Eingangstür von Rabbit Cottage. Er hatte den starken Verdacht, dass Kirsty vor Mark gerettet werden wollte und dass er das für sie tun musste. »Schlüssel, Dad«, rief er seinem Vater zu.
Tony reichte ihm die Schlüssel und lächelte Mark an.
»Dann sehen wir dich vielleicht am Strand wieder?«
Mark sah zu Kirsty, die sich mit den Rosen in der Hand von ihm entfernte. »Ich wollte fragen …«, sagte er. »Kirsty, hast du Lust, mit mir ins Kino zu gehen? Heute Abend?«
Kirsty sah ihre Eltern flehentlich an. Aber Pam verstand den Blick ihrer Tochter nicht. »Also, ich wüsste nicht, wieso sie nicht mitgehen kann. Wir haben nichts vor.«
»Super«, sagte Mark. Die Unsicherheit verschwand aus seinem Gesicht, und er strahlte wieder sein gewohntes Selbstbewusstsein aus. »Dann komme ich um sieben. Wenn das in Ordnung ist?«
»Ja, klar«, sagte Kirsty, die Augen auf den Boden geheftet. »Sicher. Bis später.«