2

Lilys Magen fühlt sich hart wie Stein an. Ihr Herz schlägt schon seit Längerem so schnell, dass sie meint, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sie steht auf und geht zum Fenster, so wie sie es in den vergangenen dreiundzwanzigeinhalb Stunden im Abstand von wenigen Minuten immer wieder gemacht hat. In dreißig Minuten wird sie wieder bei der Polizei anrufen. So lange, haben sie gesagt, müsse Lily warten, bevor sie Carl offiziell als vermisst melden könne. Dabei wusste sie schon, dass er vermisst war, als er am Vorabend eine Stunde nach Arbeitsschluss noch nicht zu Hause war. Ein eiskalter Schauer war ihr über den Rücken gelaufen. Sie sind doch gerade erst aus den Flitterwochen zurückgekehrt. Jeden Abend ist er von der Arbeit nach Hause gerast. Manchmal ist er etwas früher gekommen, aber nie mehr als eine Minute zu spät. Er hat ihr Geschenke mitgebracht, Glückwunschkarten zu zwei Wochen Verheiratetsein oder Blumen. Er stürmte durch die Wohnungstür und rief: »Himmel, Kleines, ich hab dich so vermisst.« Dann schloss er sie verzweifelt in die Arme.

Aber nicht gestern Abend. Um sechs war er nicht da. Auch nicht um halb sieben. Oder um sieben. Jede Minute fühlte sich wie eine Stunde an. Zuerst hörte sie das Rufzeichen, bis die Voicemail ansprang, aber nach einer Stunde ertönte plötzlich nur noch ein schriller Ton. Lily fühlte sich vollkommen hilflos, und Furcht stieg in ihr auf.

Die Polizei … Na ja, bis gestern Abend hatte Lily keine Meinung über die britischen Ordnungshüter. So wie man keine Meinung über den Waschsalon um die Ecke hat, weil man noch nie da war. Aber jetzt hat Lily eine sehr entschiedene Meinung.

In zwanzig Minuten kann sie wieder bei der Polizei anrufen. Auch wenn das nichts nützen wird. Sie weiß genau, was die bei der Polizei über sie denken: dummes Mädchen, ausländischer Akzent, wahrscheinlich eine Katalogbraut. (Sie ist keine Katalogbraut. Sie hat ihren Ehemann im realen Leben persönlich kennengelernt.) Die Polizistin, mit der Lily gesprochen hat, glaubt, ihr Ehemann hätte eine Affäre und würde sie betrügen. Irgend so was. Das hört Lily an dem lustlosen Ton. »Kann es sein, dass jemand ihn nach der Arbeit abgepasst hat?«, hatte sie gefragt. »Vielleicht ist er im Pub?« Sie wusste, dass die Polizistin während des Telefonats noch etwas anderes tat, entweder blätterte sie eine Zeitschrift durch, oder sie feilte sich die Nägel.

»Nein!«, hatte sie erwidert. »Niemals! Er geht nicht in den Pub. Er kommt direkt nach Hause. Zu mir.«

Später erkannte Lily, dass es ein Fehler gewesen war, das zu sagen. Sie konnte die Frau vor sich sehen, wie sie süffisant die Augenbrauen hochzog.

Lily hat keine Ahnung, wen sie sonst anrufen könnte. Sie weiß, dass Carl eine Mutter hat, denn an ihrem Hochzeitstag hat sie mit ihr telefoniert, aber sie hat sie noch nicht persönlich kennengelernt. Sie heißt Maria oder Mary oder Marie oder so ähnlich, und sie wohnt in … also, großer Gott, Lily weiß nicht, wo Carls Mutter wohnt. Im Westen des Landes? Oder vielleicht doch im Osten? Carl hat es einmal erwähnt, aber sie kann sich nicht mehr erinnern. Er hat alle Telefonnummern in seinem Handy gespeichert. Also, was kann sie tun?

Carl hat auch noch eine Schwester. Sie heißt Suzanne. Susan? Sie ist viel älter als er und lebt in der Nähe der Mutter in einem Ort, der mit S beginnt. Die Geschwister haben sich zerstritten. Warum, hat Carl ihr nicht erzählt. Er hat noch einen Freund mit Namen Russ, der ruft regelmäßig an, um mit ihm über Fußball und das Wetter zu reden. Russ sagt immer wieder, dass er mit Carl etwas trinken gehen will, das aber im Augenblick wegen des kleinen Babys nicht schafft.

Lily ist sicher, dass Carl noch mehr Menschen kennt, aber da sie ihn erst vor ein paar Monaten getroffen hat, erst seit drei Wochen mit ihm verheiratet ist und erst seit zehn Tagen hier wohnt, kennt sie Carls Welt noch nicht gut. Sie ist auch neu in England. Sie kennt niemanden hier, und niemand kennt sie. Glücklicherweise spricht Lily fließend Englisch und hat daher keine Verständigungsprobleme. Aber trotzdem ist alles so anders hier. Und es fühlt sich seltsam an, so vollkommen allein zu sein.

Endlich ist es eine Minute nach sechs. Lily nimmt ihr Telefon in die Hand und ruft die Polizei an.

»Guten Abend«, sagt sie zu der männlichen Stimme, die den Anruf entgegennimmt. »Mein Name ist Lily Monrose. Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«