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Lily sieht sich im Raum um. Er ist rechteckig, hat eine schräge Wand und zwei Mansardenfenster. Zu ihrer Linken steht ein Himmelbett, hübsch bezogen mit Baumwollbettzeug und Satinkissen. Es ist frisch gemacht, die Bettdecke glatt gezogen. Es riecht frisch, und die Wände sind recht modern tapeziert: Chrysanthemen auf taubenblauem Grund. Der Teppich ist neu und flauschig, und die Schränke sind fachmännisch eingebaut. Am anderen Ende des Raums befinden sich eine Tür zum anschließenden Badezimmer, eine kleine moderne Kochnische, zwei cremefarbene Sessel und ein Tisch mit einer Stehlampe. Es sieht wie ein Zimmer in einem anspruchsvolleren Bed & Breakfast aus und überhaupt nicht wie eines der anderen Zimmer in diesem Haus.

»Nun ja, interessant«, sagt Russ. »Anscheinend haben wir das Heim deiner mysteriösen Frau am Telefon gefunden.«

»Das verstehe ich nicht«, sagt Lily. »Warum sollte man in einem so großen Haus in einem so kleinen Zimmer wohnen?«

»Spart Heizkosten, nehme ich an.«

Lily beginnt, das Zimmer zu erkunden. Hier lebt eine nette, saubere Person. Die Frau, mit der sie telefoniert hatte, klang wie eine nette, saubere Person. Lily öffnet einen Wandschrank, und sofort riecht es nach Jasmin und sauberer Kleidung. Der Schrank ist voller teuer aussehender Sachen: geschneiderte Hosen, sauber an Holzbügeln aufgehängt, ordentlich zusammengelegte, weiche Wollpullover, Handtaschen mit goldenen Ketten, gepflegte Halbschuhe mit Quasten und glänzende Abendschuhe mit Spangen.

»Diese Frau ist sehr elegant«, sagt sie zu Russ, der gerade die Gegenstände auf dem Schreibtisch hochnimmt und mustert. »Sie hat Klasse. Wie Carl. Außerdem ist sie sehr ordentlich. Sie ist definitiv seine Mutter. Das ist offenkundig.« Lily schließt die Schranktür und stellt sich neben Russ. »Was hast du gefunden?«

»Ich glaube, dass der Bewohner dieses Zimmer erst kürzlich verlassen und eine Menge persönlicher Wertsachen mitgenommen hat.«

»Wie kommst du darauf?«

»Es sieht so aus, als wären einige Schubladen ausgeleert worden, und da sind auch noch ein leerer Schmuckkasten und ein leerer Ablagekorb. Schau mal.«

Die Jalousien vor den beiden Dachfenstern sind geöffnet. Draußen beginnt es zu dämmern. Lily bemerkt, wie Russ mit einem verstohlenen Blick auf sein Handy nach der Uhrzeit sieht. Ihr Unternehmen ist erfolglos geblieben. Lily wird die Dame mit ihrem Anruf verscheucht haben. Sie ist weg. Das Haus ist leer. Russ muss los. Er muss zu seinem Baby und seiner Frau und acht Stunden schlafen, ehe er morgen zur Arbeit geht.

»Du kannst gehen«, sagt sie und dreht sich auf dem Schreibtischstuhl zu ihm um. »Es ist spät.«

»Und was willst du machen?«

»Ich bleibe hier. In diesem hübschen Zimmer.«

»Aber, Lily, ich weiß nicht … Ich meine, das ist ein großes Haus. Du wirst ganz allein sein. Und wie willst du nach Hause kommen? Du weißt, dass ich dich nicht wieder abholen kann.«

»Ich habe Geld«, sagt sie. »Jede Menge Geld. Ich finde allein nach Hause.«

»Aber du weißt noch nicht einmal, wo wir sind.«

»Doch, das weiß ich. Wir sind in Ridinghouse Bay. Ich habe ein Telefon. Ich habe Geld. Bitte, Russ, ich möchte, dass du nach Hause zu deinem Baby und deiner Frau fährst …«

»Aber wenn dir etwas passiert …«

»Mir wird nichts passieren. Dieses Haus ist sicher. Die einzige Person, die hier hereinkommen kann, ist die Frau, die am Telefon war. Und …« Sie schaut sich im Zimmer um. »Sieht das hier so aus wie das Zimmer einer gefährlichen Frau?«

Russ lächelt und schüttelt den Kopf. »Nein, vermutlich nicht. Aber trotzdem, ich würde mich wohler fühlen, wenn du in einem Hotel wärst.«

»Ich möchte hierbleiben«, sagt Lily entschlossen.

Russ zögert, dann stöhnt er auf: »Ich muss gehen!«

»Das weiß ich doch. Also geh.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin sicher.«

Er lächelt und geht auf sie zu: »Bitte, bitte, ruf mich gleich morgen früh an, damit ich weiß, dass du die Nacht gut überstanden hast.«

»Das mache ich ganz bestimmt.«

»Und wenn du dich fürchtest, melde dich. Ich lege mein Handy neben mein Bett. Wenn du ein merkwürdiges Geräusch hörst oder so, ruf an. Ja?«

Sie lacht. Er sieht so ernst aus. »Ja, ich verspreche es dir.«

Sie geht auf seine offenen Arme zu, und sie umarmen sich lange und herzlich.

»Hast du noch irgendetwas in meinem Auto?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Na, dann verabschiede ich mich.« Er drückt sie noch einmal an sich, dreht sich um und verlässt das Zimmer, wobei er leise die Tür hinter sich ins Schloss zieht.

Lily setzt sich wieder auf den Stuhl und dreht sich einmal im Kreis. Sie sieht sich ihrem Abbild in einem raumhohen Wandspiegel gegenüber. Da wäre sie nun, denkt sie und starrt sich verdutzt an. Da wäre sie nun: sowieso schon Hunderte von Meilen von zu Hause entfernt und nun noch Hunderte mehr. Sie denkt an die leere Wohnung in Surrey. Sie denkt an die Baustelle mit ihren flatternden Plastikplanen, an das seltsame Licht nebenan. Sie denkt an morgen, daran, wie sie die Straßen dieser seltsamen kleinen Stadt erforschen will, an die Antworten, die sie schließlich auf all ihre Fragen finden könnte.

Aber hauptsächlich malt sie sich aus, wie sie hier vielleicht in der Nacht aufwachen wird, wie der Mond durch die Dachfenster auf sie niederscheinen wird und wie sie die zarte Berührung ihres Mannes spürt, seine Hand an ihrer Wange, sein Gesicht über ihrem, wie er sie anlächelt und sagt: »Du hast mich gefunden. Du hast den weiten Weg auf dich genommen und hast mich gefunden.«