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»Entschuldigung«, sagt die Frau, Alice heißt sie, und lehnt sich über den kleinen Tisch, um die dunkelblauen Vorhänge aufzuziehen. »Es riecht ein bisschen muffig. Ist schon ein paar Wochen her, dass hier zuletzt jemand gewohnt hat.«

Er schaut sich um. Er steht in einem kleinen Zimmer mit einem Velux-Fenster und einer Glastür, die in Alices Garten hinausführt. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Auf einer Seite steht ein Feldbett, dann gibt es ein Spülbecken, einen Kühlschrank, einen Miniherd, ein Elektroheizgerät, einen Tisch, zwei Plastikstühle. Auf dem Boden liegt eine schmutzige Binsenmatte. Aber die Holzwände sind in einem schönen Grünton gestrichen, und es hängen dort sehr ansprechende Kunstwerke: Blumen, Gesichter und Häuser, die anscheinend aus alten Landkarten gefertigt wurden. Und neben dem Feldbett steht eine perlenverzierte Lampe. Der Gesamteindruck ist angenehm. Aber Alice hat recht, es müffelt. Eine unheilvolle Mischung von Moder und Feuchtigkeit liegt in der Luft.

»Nebenan ist eine Außentoilette. Die benutzt sonst niemand. Und tagsüber können Sie sich in unserem Badezimmer waschen. Das ist im Erdgeschoss, gleich bei der Terrasse. Kommen Sie, ich zeig es Ihnen.« Ihr Ton ist knapp und ein wenig einschüchternd.

Während er ihr auf dem Kiesweg zum Haus folgt, betrachtet er sie genau. Sie ist groß und schlank, etwas rundlich um die Hüften. Sie trägt eine enge schwarze Jeans und einen weiten Pullover. Vermutlich versucht sie, den Hüftspeck darunter zu verstecken und ihre langen Beine zu betonen. Dazu schwarze Stiefel, die ein bisschen an Doc Martens erinnern. Ihre Haare sind eine wehende honig- und schlammfarbene Mähne. Schlecht gemachte Strähnchen, fährt es ihm durch den Kopf. Dann fragt er sich, wieso er dazu überhaupt eine Meinung hat. Ist er etwa Friseur?

Die winzige Hintertür klemmt, als sie sie öffnen will, und sie tritt einmal gekonnt gegen den Sockel. Drei Stufen führen in eine schmale Küche. Links davon befindet sich ein schlichtes Badezimmer.

»Wir benutzen alle das Bad im ersten Stock, dieses hier haben Sie praktisch für sich allein. Soll ich Ihnen eine Wanne einlaufen lassen? Dann wird Ihnen wieder warm.«

Bevor er antworten kann, dreht sie schon quietschende Wasserhähne auf. Schnell schiebt sie ihre Pulloverärmel zurück, um die Temperatur zu prüfen. Sein Blick fällt auf ihre Ellbogen, und er bemerkt die faltige, schlaffe Haut. Sie muss vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt sein, denkt er bei sich. Sie dreht sich um und lächelt. »Okay«, sagt sie. »Während das Bad einläuft, machen wir Ihnen etwas zu essen. Und legen das hier auf die Heizung.« Er gibt ihr die feuchten Brocken und Teile, die in seinen Taschen steckten, und folgt ihr wieder in die Küche: Die Wände sind magentarot angemalt, die Töpfe hängen von hoch angebrachten Stangen, die Eichenschränke sind handgefertigt, im Spülbecken stapelt sich Geschirr, und eine Pinnwand ist voller Kinderzeichnungen. An dem kleinen Tisch in der Ecke sitzt ein Mädchen im Teenageralter. Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu und schaut dann die Frau fragend an.

»Das ist Jasmine, meine älteste Tochter. Und das hier« – sie deutet auf ihn – »ist ein fremder Mann, den ich am Strand aufgegabelt habe. Er schläft heute Nacht im Studio.«

Das Mädchen mit dem Namen Jasmine zieht eine gepiercte Augenbraue hoch und wirft ihm noch einen vernichtenden Blick zu. »Abgefahren.«

Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Ihr dunkles Haar ist zu einem scheußlichen Bob gestutzt – wahrscheinlich ist das Absicht. Der Pony ist viel zu kurz, aber irgendwie rahmt dieser Schnitt ihr kantiges Gesicht, ihre vollen roten Lippen und die schweren Augen perfekt ein. Das Mädchen sieht exotisch aus, wie diese mexikanische Schauspielerin, an deren Namen er sich ums Verrecken nicht erinnern kann.

Alice reißt einen roten Kühlschrank auf und sagt zu ihm: »Ein Schinkensandwich? Brot und Pastete? Ich könnte auch überbackenen Blumenkohl aufwärmen. Da ist auch noch ein Curry von letztem Samstag. Welchen Tag haben wir heute? Mittwoch? Ich bin sicher, das kann man noch essen. Currygerichte sind ja schließlich dafür da, Fleisch haltbar zu machen, nicht wahr?«

Er hat Mühe, die vielen Informationen zu verarbeiten. Eine Entscheidung zu treffen. Wahrscheinlich hat er deshalb mehr als zwölf Stunden lang am Strand gesessen. Ihm war klar, dass es verschiedene Möglichkeiten gab, aber er war nicht in der Lage, Prioritäten zu setzen. Stattdessen hatte er wie gelähmt dagesessen, bis diese entschlossene Frau gekommen war und eine Entscheidung für ihn getroffen hatte.

»Ich bin mit allem einverstanden, wirklich«, sagt er. »Egal was es ist.«

»Scheiß drauf«, sagt sie und lässt die Kühlschranktür zufallen. »Ich bestelle Pizza.«

Zunächst ist er erleichtert, weil sie ihm noch eine Entscheidung abgenommen hat. Aber dann fällt ihm ein, dass er, von ein paar losen Münzen abgesehen, kein Geld hat, und er fühlt sich unbehaglich.

»Es tut mir leid, aber ich habe kein Geld.«

»Ja, das weiß ich«, erwidert Alice. »Wir haben Ihre Taschen durchsucht. Erinnern Sie sich? Aber das ist in Ordnung, das geht auf mich. Und Jasmine …« Sie deutet mit dem Kopf in Richtung ihrer Tochter. »Sie lebt nur von Luft. Meistens muss ich ihr Essen wegwerfen. Ich bestelle einfach so viel Pizza wie immer. Als wenn Sie gar nicht da wären.«

Das Mädchen verdreht die schwarz geschminkten Augen. Er folgt Alice in ein winziges Wohnzimmer. In der Tür muss er den Kopf einziehen, um sich nicht an dem niedrigen Balken zu stoßen. Ein kleines Mädchen mit hellblonden Locken kuschelt sich an einen schlaksigen Teenagerjungen mit afrokaribischem Aussehen und schaut fern. Dann drehen sich die beiden um und mustern ihn beunruhigt.

Alice wühlt in einer Schreibtischschublade. »Diesen Mann habe ich am Strand gefunden«, sagt sie, ohne sich umzublicken. Sie holt einen Flyer hervor, gibt ihn dem Jungen und schließt die Schublade. »Wir bestellen Pizza«, sagte sie. »Such etwas aus.«

Das Gesicht des Jungen hellt sich auf. Er setzt sich aufrecht hin und löst den Arm des kleinen Mädchens von seiner Taille.

»Romaine.« Alice deutet auf das kleine Mädchen. »Und Kai.« Ihre Hand zeigt auf den hoch aufgeschossenen Teenager. »Und ja, das sind alles meine Kinder. Ich bin keine Pflegemutter. Um Himmels willen, setzen Sie sich doch endlich.«

Vorsichtig lässt er sich auf einem kleinen geblümten Sofa nieder. Ein Feuer brennt im Kamin, die gemütlichen Möbel sind mehr shabby als chic, aber geschmackvoll, dunkle Holzbalken an der Decke, grau gestrichene Wände und Wandleuchten aus Uranglas. Vor dem Fenster befindet sich eine Straßenlampe, und dahinter liegt der silbrige Schatten des Meeres. Sehr stimmungsvoll. Aber ganz offensichtlich ist Alice keine gute Hausfrau. Alles ist mit dickem Staub bedeckt, Spinnweben hängen von der Decke, in den Ecken häuft sich Krimskrams, und der Teppich wurde wahrscheinlich noch nie gesaugt.

Alice legt alles, was sie in seinen Taschen gefunden haben, auf die Heizung. »Bahnfahrkarten«, murmelt sie und löst sie vorsichtig voneinander. »Von gestern.« Sie sieht genau hin. »Die Uhrzeit kann ich nicht erkennen. Kai?« Sie reicht ihrem Sohn die feuchte Fahrkarte. »Kannst du das lesen?«

Der Junge nimmt die Fahrkarte, schaut sie sich an und gibt sie seiner Mutter zurück. »Neunzehn Uhr achtundfünfzig.«

»Der letzte Zug«, sagt Alice. »Wahrscheinlich sind Sie in Doncaster umgestiegen. Und spät hier angekommen.« Sie geht weiter die Papierfetzen durch. »Das hier ist irgendeine Quittung. Aber keine Ahnung, wofür.« Sie legt das Papier auf die Heizung.

Sie ist hübsch, findet er. Ausgeprägte Gesichtszüge, ein schöner Mund. Man sieht noch die Überreste des verschmierten Eyeliners, den sie heute Morgen benutzt hat, aber sonst ist sie ungeschminkt. Sie ist beinahe schön. Aber sie strahlt eine Härte aus, ihr Kiefer wirkt verkrampft, und wo Licht sein sollte, ist nur Schatten.

»Noch mehr Quittungen. Ein Taschentuch?« Sie hält es ihm hin. Er schüttelt den Kopf und wirft es ins Kaminfeuer. »So, das wär dann wohl alles. Kein Personalausweis. Sie sind ein vollkommenes Rätsel.«

»Wie heißt er?«, fragt Romaine.

»Ich kenne seinen Namen nicht. Und er weiß auch nicht, wie er heißt. Er hat sein Gedächtnis verloren.« Alice sagt das, als wäre es das Normalste von der ganzen Welt, aber das kleine Mädchen runzelt die Stirn.

»Wo hat er es verloren?«

Alice lacht. »Du bist doch sehr gut im Namenerfinden, Romaine. Er kann sich nicht erinnern, wie er heißt, also müssen wir ihm einen Namen geben. Wie soll er heißen?«

Das kleine Mädchen starrt ihn eine Weile lang an. Er glaubt, dass sie gleich einen kindischen, unsinnigen Namen vorschlagen wird. Sie kneift die Augen zusammen, schürzt die Lippen und spricht mit Bedacht den Namen Frank aus.

»Frank«, sagt Alice nachdenklich. »Ja. Frank. Das ist perfekt. Kluges Mädchen.« Sie streicht Romaine über die lockigen Haare. »Also, Frank.« Sie lächelt ihn an. »Ich schätze, die Wanne ist jetzt voll. Auf dem Bett liegt ein Handtuch, Seife ist auch da. Bis du im Bad fertig bist, ist die Pizza bestimmt schon da.«

Er kann sich nicht erinnern, eine Pizza ausgewählt zu haben; er ist nicht sicher, ob Frank sein richtiger Name ist. Diese Frau mit ihrer Bestimmtheit verwirrt ihn. Aber er ist sicher, dass seine Socken, seine Unterwäsche und seine Haut feucht sind, dass es ihn von innen friert und dass er sofort ein heißes Bad braucht, mehr als alles andere auf der Welt.

»Oh.« Jetzt fällt ihm etwas ein. »Trockene Kleidung. Natürlich ziehe ich auch diese Sachen gern wieder an. Oder könnte ich …«

»Kai kann dir eine Jogginghose leihen. Und ein T-Shirt. Ich lege dir Sachen neben die Hintertür.«

»Danke«, sagt er. »Vielen Dank.«

Als er aufsteht, um ins Bad zu gehen, bemerkt er, wie sie mit ihrem Sohn einen Blick austauscht, wie ihr die Maske der betonten Unbekümmertheit für einen Augenblick entgleitet. Der Junge sieht besorgt und genervt aus; er schüttelt leicht den Kopf. Sie antwortet mit einem bestimmten Nicken. Aber er kann auch Angst in ihren Augen sehen. Als ob sie ihre Entscheidung anzweifeln würde. Als ob sie sich fragt, warum er hier in ihrem Haus ist.

Schließlich könnte er irgendwer sein.