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Lily macht überall Licht an, sogar das unter der Abzugshaube knipst sie an. Sie kann die Dunkelheit nicht einen Moment länger ertragen. Sie schaltet auch den Fernseher an, findet einen Film, in dem ein Hund mitspielt, und macht sich etwas zu essen. Es ist fast zehn Uhr abends, und seit ihrem Frühstück mit Russ hat sie nichts mehr gegessen. Das Brot im Brotkasten ist verschimmelt, deshalb macht sie sich in der Mikrowelle eine Packung Basmatireis und isst ihn dann mit Butter. Eine Zeit lang schaut sie den Film mit dem Hund, aber er macht sie traurig. Sie schaltet auf eine laute Datingshow um. Dann schenkt sie sich ein Glas Wein ein und bereitet sich auf das vor, was sie tun muss, seit sie weiß, dass ihr Ehemann nicht existiert. Sie legt Carls Post auf einen ordentlichen Stapel und starrt ihn einen Moment lang an. Dann nimmt sie den ersten Brief in die Hand und öffnet ihn.

Reklame von einem Immobilienmakler.

Der zweite Brief enthält einen Kontoauszug. Schnell überfliegt sie die Zahlen. Sie kann jeden Posten zuordnen. Die Zahlungen sind für Restaurantbesuche in Kiew, für das Hotel, wo sie ihre Hochzeitsnacht verbracht haben, dann für Drinks in Bali, Einkäufe am Flughafen, den Getränkehändler beim Bahnhof, Marks & Spencer, die Bahngesellschaft, die Reinigung, den Pub auf dem Land, wo sie letztes Wochenende zu Mittag gegessen haben. Dann noch mehrere kleinere Zahlungen hier im Ort und eine letzte Zahlung von zwei Pfund zwanzig an einen Coffeeshop in der Victoria Station am Dienstagnachmittag. Danach nichts mehr. Keine einzige Ausgabe. Eine gerade Linie und ein Piepton.

Das ist der Beweis, denkt sie, während sie den Kontoauszug in ihren Schoß sinken lässt und nach dem Weinglas greift. Er ist tot. Wie könnte er noch am Leben sein, wenn er kein Geld ausgibt?

Lily öffnet zwei weitere Briefe, beide enthalten Werbung. Dann hält sie eine Rechnung von ihrem Stromanbieter in den Händen und einen Kundenkontoauszug der Bekleidungsfirma, wo Carl seine Businesshemden kauft. Dann öffnet sie den letzten Umschlag. Das Schreiben ist von seinem Mobilfunkanbieter. Eine Rechnung mit Einzelverbindungsnachweis. Lily holt tief Luft und fängt an zu lesen.

Fast jeder Anruf und jede SMS gehen an ihre Nummer. Das überrascht sie nicht. Sie sucht das Telefonat mit Carls Mutter, die Nummer, die Carl im Haus ihrer Mutter in Kiew, am Tag ihrer Hochzeit, gewählt hat. Dann findet sie den Anruf: 21. März um 16 Uhr 46. Drei Minuten und fünf Sekunden. Lily nimmt einen Stift zur Hand und unterstreicht die Daten. Dann schaut sie zur Uhr. Es ist schon fast halb elf. Zu spät, denkt sie, um jemanden anzurufen, weil man ein wenig plaudern möchte. Aber ist es auch zu spät, um einer Mutter zu sagen, dass ihr Sohn vermisst wird? Mit angehaltenem Atem tippt sie die Nummer ein. Irgendwo, vielleicht im Osten des Landes, vielleicht im Westen, in einem Schloss oder in einer feuchten Mietwohnung klingelt jetzt ein Telefon. Vielleicht lauscht irgendwo eine Frau dem Klingeln, aber aus irgendeinem Grund nimmt sie nicht ab. Schläft sie? Ist sie nicht zu Hause? Vielleicht hat ihr Telefon eine Anruferkennung, und sie zieht es vor, Carls Nummer zu ignorieren. Lily lässt es zwanzig Mal klingeln, dann legt sie auf. Morgen wird sie es noch einmal versuchen.