Lily schreckt aus kurzem Schlaf auf. Es ist dunkel, und die Bettdecke hat sich um ihre Beine gewickelt. Sie sieht auf die Uhr neben dem Bett; sie zeigt 8:09. Einen Augenblick lang weiß sie nicht, ob es morgens oder abends ist. Dann fällt ihr ein, dass heute Samstagabend ist. Sie hat von ihrer Familie und von zu Hause geträumt. Sie nimmt das Telefon in die Hand und ruft ihre Mutter an.
»Mama«, sagt sie mit verschlafener Stimme. »Er ist immer noch verschwunden.«
»Komm nach Hause«, sagt ihre Mutter.
»Ich kann nicht nach Hause kommen. Vielleicht taucht er wieder auf.«
»Wenn er wieder auftaucht, wird er wissen, wo du bist. Und er weiß, wie er hierherkommt.«
»Nein, er kann nicht reisen. Die Polizistin hat immer noch seinen Reisepass.«
»Dann kann er dich anrufen, und du fährst zu ihm zurück.«
»Und wenn er verletzt ist?«
»Lily. Er ist in seinem Heimatland. Wenn er verletzt ist, gibt es dort Menschen, die sich um ihn kümmern.«
»Da bin ich nicht so sicher, Mama. Gestern war die Polizei noch mal da und hat seinen Computer mitgenommen. Sie haben gesagt, dass man so einen gefälschten Pass, wie er ihn hat, nur in der Verbrecherwelt bekommt. Carl könnte ein paar gefährliche Leute kennen. Vielleicht ist er ihnen in die Quere gekommen.«
Ihre Mutter gibt einen erstickten Laut von sich. »Herrgott noch mal, Lily. Du musst dort weg! Du bist ganz allein in der Wohnung. Was passiert, wenn diese Männer dich holen? Was willst du machen, wenn Carl zu dir kommt und sie ihm folgen? Für diese Leute bist du eine leichte Beute!«
»Ich kann nirgends hingehen, Mama! Ich kenne niemanden hier!«
»Ach, ich habe es gewusst. Ich wusste, dass das falsch war, gleich mit ihm zu gehen. Ich hätte dich davon abbringen sollen. Du hättest mit der Hochzeit noch warten sollen.«
»Ich hätte ihn trotzdem geheiratet, und er hätte mich trotzdem angelogen.«
»Nein, wenn du gewartet hättest, wäre dir klar geworden, dass da etwas nicht stimmt. Menschen zeigen sich zunächst immer nur von ihrer guten Seite. Deshalb hättest du warten sollen. Mit der Zeit lernt man auch die schlechten Seiten kennen. Und erst wenn da nichts Schlimmes ans Licht kommt, heiratet man.«
»Carl ist kein schlechter Mann, Mama! Wir kennen seine Geschichte doch gar nicht! Ich glaube, er war vielleicht früher schon einmal verheiratet. Ich habe Ringe gefunden. Vielleicht hat diese andere Frau ihn verletzt. Vielleicht ist ihm etwas Schlimmes passiert. Vielleicht hat er eine falsche Identität angenommen, um sich vor dieser Frau zu verstecken! Wir wissen rein gar nichts.«
Sie hört ihre Mutter seufzen. »Ich möchte, dass du nach Hause kommst. Ich bezahle dir den Flug.«
Lily hält inne. Sie kann nicht leugnen, dass sie jetzt gern zu Hause wäre. Sie möchte gern bei ihrer Mutter, ihren Brüdern, ihrem Hund und ihren Freunden sein. Sie möchte wieder in ihre Lieblingsbars gehen, jung und unbeschwert sein. Sie möchte ihr Haar vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer kämmen, in dessen Rahmen immer noch Fotos von ihr und ihren Freunden stecken. Sie möchte diese Freunde unterhaken und die altbekannten Straßen entlangschlendern, eine vertraute Sprache sprechen und vertraute Gesichter sehen. Sie möchte an einem Ort sein, wo sie mit einem Fremden reden kann, ohne dass sie missverstanden und argwöhnisch beäugt wird.
Dennoch – Carl war ihre Fahrkarte nach Großbritannien. Ohne Carl, oder wer er auch sein mag, darf sie vielleicht nicht wieder hierher zurückkommen. Und so einsam und verängstigt sie jetzt auch ist, sie möchte sich die Tür zu diesem Leben, von dem sie gerade gekostet hat, offen halten.
»Ich komme nicht zurück«, sagt sie. »Jetzt noch nicht. Erst wenn ich sicher weiß, was mit Carl passiert ist.«
Ihre Mutter seufzt. »Du«, sagt sie mit warmer Stimme. »Ich weiß nicht, wo du das herhast. So eine starke Frau. Allein in einem fremden Land. Du bist mutig, und du bist dumm. Aber ich kann dich nicht aufhalten.«
»Nein«, erwidert Lily. »Das kannst du nicht.«
»Ich vermisse dich. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
»Und sobald ich diesen großen Auftrag abgeschlossen habe, komme ich dich besuchen. Einverstanden?«
»Ja, bitte komm.«
»In einer Woche. Spätestens zehn Tage.«
»Das klingt gut. Danke.«
»Vielleicht weißt du bis dahin, wo dein Ehemann ist.«
»Ja, das wäre schön.«
»Wie gern möchte ich glauben, dass er ein guter Mann ist.«
»Das ist er. Ich weiß es.« Lilys Stimme bricht, Tränen steigen ihr in die Augen.
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Dann ist die Leitung tot, im Zimmer ist es still, und nur durch den Spalt der Tür zum Bad fällt Licht. Lily lässt das Telefon in ihren Schoß fallen und beginnt zu weinen.