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Am Abend hatte Lily die Jalousien nicht vollständig heruntergelassen, und der Schein der Morgendämmerung durchdringt nun das Dunkel des Raums. Es ist zehn vor sechs. Sie hat nur wenig geschlafen – drei, vielleicht vier Stunden. Es gibt so viele seltsame Geräusche hier am Meer. Möwen, die wie verwunschene Kinder krächzen, Füchse, die heulen, als würde ihnen langsam der Bauch aufgeschlitzt. Und die ferne Flut, die wie eine Menschenmenge murmelt und flüstert, Oh und Ah ruft und sich gegen unsichtbare Felsen wirft.

Sie schlägt die dünne Decke zurück und setzt sich auf. Sie fühlt sich benommen vor Müdigkeit und Fremdheit und von dem Widerhall der Träume, die sich in ihrem Kopf abgespielt haben, während sie ohne Hoffnung auf tiefen Schlaf dalag. Sie faltet die Decke ordentlich zusammen und steckt sie zurück in den Schrank. Dann glättet sie Laken und Kopfkissen, um alles wieder in den Zustand zu versetzen, in dem sie es vorgefunden hatte. Sie nimmt ein einzelnes schwarzes Haar vom Kissen und lässt es auf den Boden fallen. Diese elegante Frau soll nicht denken, dass eine verwahrloste Fremde auf ihrem schönen weißen Bett gelegen hat.

Sie nimmt aus ihrer Tragetasche eine Cola-Dose und trinkt sie in wenigen Schlucken aus. Dann verschlingt sie den Rest des gestrigen Donuts. Einen Augenblick bleibt sie sitzen.

Auf ihrem Telefon geht eine SMS ein, und sie nimmt es in die Hand.

Guten Morgen. Schreib mir bitte kurz, wenn du das hier liest. Russ.

Sie schreibt zurück: Hallo, hier bin ich. Alles ok.

Er schickt ihr ein Smiley zurück, und sie lächelt. Er ist ein netter Mann. Beinahe sendet sie ihm auch ein Smiley, lässt es aber dann doch sein. Das wäre zu viel.

Sie geht zum Fenster und zieht die Jalousie hoch. Dann hält sie die Luft an. Alles ist rosa. Der Himmel, das Meer, das Gras, die Bäume. Selbst die Möwen, die über ihr kreisen, sind rosa. Sie schmiegt die Hand an ihren Hals und blickt über die hügeligen, glänzenden Rasenflächen, die terrassenförmig zum Meer hin abfallen, über die pfirsichfarbenen Statuen im Garten, die alten Mauern, von Efeu und Kletterpflanzen überwachsen, die kleinen Teiche und Sonnenuhren.

Jetzt ist sie wirklich im Himmel. Sie wünscht, ihre Mutter könnte hier sein, um diesen Ort zu sehen. Ihre Freunde von zu Hause. Sie nimmt ihr Smartphone mit zum Fenster und macht ein paar Fotos, aber keines kann wirklich die Herrlichkeit dieses Ortes einfangen.

Letzte Nacht hat sie die Sachen der Frau durchsucht, aber keinen Hinweis auf Carl gefunden. Nur Kleidung, Schmuck, Speisekarten der örtlichen Restaurants, eine Kamera ohne Batterie, einen Stoß örtlicher Geschäftskarten und Belege von verschiedenen Läden. Sie will heute mit den Ladenbesitzern im Ort sprechen und sie nach der Frau fragen, die in dem großen weißen Haus auf der Klippe lebt. Sie will auch nach Carl fragen.

Zuerst aber will sie sich noch einmal im Haus umsehen. Sie wartet, bis die Sonne voll aufgegangen ist, bis das Rosa sich in Gold verwandelt und dann zu einem durchgehenden Blau erhellt hat. Dann verlässt sie vorsichtig das Dachzimmer und geht auf Zehenspitzen über den Flur, ein kleines Schälmesser fest in der Hand.

Ist Carl hier aufgewachsen?, fragt sie sich. Hat er in diesen großartigen Räumen gespielt, ist er über dieses wellige Grün gerannt? Hat er seine sandigen Stiefel in diesem Vorraum neben der Hintertür abgestreift und ist in die Küche gestürmt, um Süßigkeiten zu erbetteln? Sie entdeckt Hundeleinen am Garderobenhaken und stellt sich den kleinen Carl und einen großen Hund vor, wie sie zusammen zum Strand hinunterlaufen.

Eine Stunde verbringt sie damit, das Haus zu erkunden und zu durchsuchen. Sie inspiziert die Schubladen in den Wohnräumen und findet nichts als abgebrannte Streichhölzer, zerbrochenen Weihnachtsschmuck, leere Batterien und Packungen mit Sicherungen. Sie öffnet Umzugskartons, aber sie enthalten nur Besteck und Weingläser, Taschenbücher und Krimskrams.

Um acht Uhr ruft Russ an. »Wie kommst du voran?«

Beim Klang seiner Stimme wird es Lily warm ums Herz. »Es ist alles gut. Ich durchsuche gerade das Haus, und dann gehe ich in die Stadt.«

»Hast du irgendetwas gefunden?«

»Nein, überhaupt nichts. Nur … Scheiß. Bücher und Zeugs.« Sie seufzt. »Ist es nicht seltsam, dass ein Haus keine Hinweise gibt? Findest Du nicht? Das Haus ist voller Sachen, gibt aber nichts von sich preis.«

»Das ist seltsam, ja.«

Sie macht eine Pause und stellt sich Russ im Anzug vor auf dem Weg zur U-Bahn. »Wie geht es dir?«

»Mir geht’s gut. Mir geht’s großartig.«

»Ich hoffe, deine Frau war nicht mehr böse auf dich, als du nach Hause kamst?«

»Nein. Alles gut. Ich kam eine Stunde früher nach Hause als angekündigt – ich glaube, das hat geholfen. Und das Baby war ohne Probleme eingeschlafen. Und sie hatte ein Glas Wein getrunken. Also …«

»Gut. Da bin ich froh. Und ich danke dir.«

»Nicht der Rede wert! Es war nett. Ich fahre gern Auto.«

»Verstehe«, sagt sie. »Du bist ein guter Fahrer.«

Er lacht. »Danke. Das werde ich meiner Frau erzählen, dass du das gesagt hast.«

»Ja, sag ihr das.« Sie möchte diesem warmherzigen, freundlichen Mann noch mehr sagen, denn einen Menschen wie ihn hat sie noch nie kennengelernt. Sie möchte ihm beteuern, dass er etwas Besonderes ist und Jo ein Glückspilz. »Auf Wiedersehen, Russ. Einen schönen Arbeitstag«, ist aber alles, womit sie ihn verabschiedet.

»Ich rufe dich später wieder an«, sagt er.

»Ja, tu das bitte.«

Nach dem Gespräch fühlt sie sich völlig verlassen. Das Haus bedrängt sie, fremd und stumm. Aber bald wird die Stille abgelöst vom Verkehrslärm auf der Hauptstraße, die am Haus vorbeiführt. Montagmorgen. Die Stadt wacht auf.

Lily geht zurück ins Dachzimmer und holt ihren Mantel und ihre Sachen.