»Ich begleite dich«, sagt Frank.
Alice macht gerade ein Pausenbrot in der Küche.
»Wohin?«
»Wenn du Romaine zur Schule bringst.«
»Warum?«
Er zuckt die Achseln. »Um Auf Wiedersehen zu sagen. Ich möchte mich auch von Derry verabschieden. Und Daniel.« Er macht eine Pause. »Ich wollte nur …, na ja, ein bisschen länger mit dir zusammen sein.«
Alice lächelt und streichelt seinen Arm. »Du komischer Kerl.«
Sie reißt ein Stück Folie ab und wickelt Romaines Bagel ein. Sie hatte sehr gehofft, dass Frank an diesem Morgen beim Aufwachen sein Gedächtnis wiederfinden würde. Dass er durch die Hintertür stürmen und laut rufen würde: Es ist alles bestens! Ich habe niemanden umgebracht! Und ich weiß, wo ich wohne! Morgen komme ich mit meiner Katze und all meinem Zeug zurück, und wir können zusammen ein neues Leben beginnen!
Stattdessen scheint er verschlossener denn je.
»Nicht komisch«, sagt er, »nur verängstigt. Und traurig.«
Sie hält inne und schaut zu ihm hoch. »Ist doch klar. Bin ich doch auch.«
»Bist du auch?«
»Natürlich bin ich das.« Sie merkt, wie sie rot wird, und beschäftigt sich mit Romaines Brotdose.
Er fragt nicht, warum, und darüber ist sie froh.
Sie beschließt, die Hunde zu Hause zu lassen. Auf dem letzten Spaziergang mit Frank möchte sie nicht dauernd anhalten müssen, um dampfende Hundehaufen vom kalten Pflaster aufzusammeln.
Sie ruft die Teenager herein, damit sie Frank Auf Wiedersehen sagen können, und um halb neun machen sie sich auf den Weg. Der Tag ist überraschend schön, es ist keine Wolke in Sicht, und die gleißende Sonne wärmt schon ein wenig. Romaine geht mit Frank Hand in Hand, und in der anderen trägt er ihre Brotdose mit Olaf, dem Schneemann drauf. Die Dose sieht unglaublich klein aus in Franks großer Hand. Ohne die Hunde, die sie aufhalten, erreicht Alice fünf Minuten vor der Zeit das Schultor. Derry starrt sie entsetzt an. »Was ist los?«, fragt sie und schaut theatralisch auf ihre Uhr.
»Sei bloß still«, gibt Alice zurück.
Gelassen blickt Derry Frank an. »Morgen.«
Er nickt und lächelt.
»Dann verlässt du uns also heute?«, fragt sie.
»Ich denke schon«, antwortet er. »Es wird Zeit.«
Derry nickt: »Ich habe gedacht, wir drei könnten einen Kaffee trinken, ehe du gehst.«
Alice und Frank blicken sich an und stimmen zu. Hauptsache, sie können die Sache hinauszögern.
»Nach neun schaue ich in meinen E-Mails, ob der Herausgeber der Gazette zurückgeschrieben hat.«
»Ja«, sagt Alice. »Das ist eine gute Idee. Man weiß ja nie.« Sie blickt zu Frank. »Vielleicht brauchen wir dann gar nicht mehr zur Polizei zu gehen.«
»Vorausgesetzt, sie antworten«, sagt Derry.
»Vorausgesetzt, sie antworten«, wiederholt Alice.
Alle drei nicken. Alle wissen sie, es ist die letzte Chance.
Das Schultor öffnet sich, und die Kinder stürmen hinein. Alice erhascht den Blick von Romaines Klassenlehrerin aus dem letzten Jahr, der Sittenwächterin. Die Lehrerin schaut auf sie, dann auf Frank und hebt eine Augenbraue. Alice möchte sie schlagen. Derry legt ihr beruhigend die Hand auf den Arm: »Ich bringe sie rein. Wir treffen uns hier draußen.«
»Was hat sie für ein Problem?«, möchte Frank wissen und drückt Romaine zum Abschied.
»Sie hasst mich.« Alice zuckt die Achseln. »Ohne Frage hat irgendjemand, der mit seinem kleinen traurigen Leben nichts Besseres anzufangen weiß, die Schule darüber informiert, dass ich einen Sonderling in meinem Garten beherberge. Sie wird das auf meine Mängelliste setzen als weiteren Grund, mich wie Dreck zu behandeln.«
Frank seufzt. »Das tut mir leid.«
»Nein!«, entgegnet sie, schärfer als beabsichtigt. »Nein! Das muss dir nicht leidtun. Das muss dir ganz und gar nicht leidtun. Das ist ihr Problem. Nicht deins. Nicht unseres. Wir sind gut. Wir waren …« Sie verstummt.
»Wir waren es«, bekräftigt er. Und dann nimmt er ihre Hand und hält sie fest, direkt hier vor der Schule. Direkt vor der Lehrerin. Alice erwidert die Berührung.
Im Café ist es ruhig an diesem Montagmorgen. Ein paar andere Mütter aus der Schule sitzen an den Tischen draußen, rauchen und trinken Kaffee aus großen Bechern. Eine von ihnen hat einen Yorkshire Terrier auf dem Schoß. Drinnen ist nur eine Mutter mit ihrem Neugeborenen im Kinderwagen. Zwei ältere Paare sitzen im Mantel nebeneinander, Teebecher in der Hand, unterhalten sich leise und mit gedankenverlorenen Pausen. Frank, Alice und Derry bestellen am Tresen Kaffee und Schinkenbrötchen und nehmen Platz.
»Na dann«, sagt Derry, nimmt ihren Schal ab, hängt den roten Mantel über die Stuhllehne und macht ihr Handy an. »Wollen mal sehen, ob unser freundlicher Herausgeber vom Käseblatt etwas herausgefunden hat.« Sie wischt über den Bildschirm, runzelt die Stirn und macht es wieder aus.
»Noch nichts«, sagt sie. »Aber es ist gerade erst neun. Ich versuche es später wieder.«
Als die Tür aufgeht, drehen sich alle um. Eine große, attraktive Frau erscheint. Sie ist sehr jung, hat hohe Wangenknochen, ihr feines dunkles Haar hat sie zurückgebunden. Sie trägt eine schwarze Daunenjacke, Jeans und hochhackige Stiefel, und in der Hand hält sie eine Plastiktüte. Sie geht direkt auf den Tresen zu und sagt ziemlich laut mit osteuropäischem Akzent: »Können Sie mir bitte helfen? Ich suche jemanden. Vielleicht kennen Sie die Person. Sie ist eine Dame, gut angezogen, wahrscheinlich mittleren Alters. Sie wohnt in dem großen Haus dort oben.« Sie zeigt auf die Klippen links vom Café. »Kennen Sie sie?«
Alice und Frank werfen sich einen Blick zu.
Der Mann hinter dem Tresen antwortet: »Meinen Sie Kitty?«
»Ihren Namen kenne ich nicht.«
»Sie ist die einzige Person, die mir einfällt. Sie meinen das Haus hinter der Kurve? Das weiße?«
»Ja, es ist weiß.«
»Na, dann muss es Kitty sein. Eine sehr elegante Frau.«
»Ja.«
»Was genau wollten Sie denn über sie wissen?«
»Egal was.« Sie klingt aufgeregt. »Eigentlich alles. Ich bin mit ihrem Sohn verheiratet und …«
Er unterbricht sie. »Ach so. Nein, dann sprechen wir über verschiedene Personen. Kitty hat keine Kinder.«
Die junge Frau hält inne. Ihre Schultern sinken herab. Dann richtet sie sich wieder auf und holt etwas aus ihrer Tragetasche. Es ist ein Fotoalbum. Sie öffnet es und reicht es ihm. »Hier, kennen Sie diesen Mann?«
Frank und Alice beobachten mit angehaltenem Atem, wie der Mann hinter dem Tresen das Bild studiert. »Nein. Tut mir leid. Dazu kann ich nichts sagen. Ist das Ihr Mann?« Er gibt ihr das Album zurück.
»Ja! Mein Mann. Und er ist seit letztem Dienstag verschwunden. Er hat mir erzählt, dass diese Frau, diese Kitty, seine Mutter sei. Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«
»Kitty? Mein Gott, nein. Soviel ich weiß, ist sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Ich meine, sie hat das Haus nur für die Ferien, wissen Sie.« Er lacht höhnisch auf. »Anscheinend wohnt sie in einem wirklich herrschaftlichen Anwesen, drüben in Harrogate.«
»Aber ich habe sie gestern hier angerufen. Ich habe sie hier angerufen. Und sie ist ans Telefon gegangen.«
Der Ton der Frau wird leicht aggressiv, und der Mann weicht etwas zurück. »Gut. Ich bin kein Hellseher. Mag sein, dass sie hier ist. Ich weiß es nicht.«
Alice blickt Frank fragend an. »Ihr Mann ist verschwunden«, flüstert sie eindringlich. »Mein Gott, glaubst du …?« Sie muss unbedingt die Fotos in dem Album sehen. »Ist sie Kirsty?«, zischt sie. »Frank? Ist sie Kirsty?«
Er zuckt die Achseln, mit Panik im Blick. »Ich glaube nicht«, flüstert er zurück. »Ich weiß es nicht.«
Alice steht auf und geht auf die Frau am Tresen zu. Als sie ihren Arm berührt, dreht die Frau sich abrupt um und wirft ihr einen eisigen Blick zu.
»Verzeihen Sie. Ich konnte nicht umhin zuzuhören, und, na ja, ich nehme nicht an …, ich meine …« Sie weist auf Frank und Derry, die sie von ihrem Tisch aus gespannt beobachten. »Sie kennen diesen Mann nicht, oder?«
Die Frau richtet einen vernichtenden Blick auf Frank. »Nein. Diesen Mann habe ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.«
Alice stößt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Wenn sie Frank jetzt hier Auf Wiedersehen sagen und ihn dieser feindlichen, unmöglichen jungen Frau übergeben müsste – da würde sie ihn lieber zur Polizei bringen.
»Oh, okay. Aber wissen Sie, ich habe Sie angesprochen, weil er genau am späten Dienstagabend hier aufgetaucht ist. Er ist mit dem Zug aus London gekommen und kann sich an nichts erinnern. Dann, vor ein paar Tagen, fiel ihm dieses Haus ein, das, nach dem Sie gerade gefragt haben. Er hat gesagt …« Sie macht eine Pause. »Er sagte, er hat dort gelebt.«
Die Frau verliert den ungeduldigen, verächtlichen Ausdruck und starrt Alice mit offenem Mund an. »Oh«, sagt sie und blickt von Alice zu Frank und wieder zurück.
»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Nur für einen Augenblick?«, fragt Alice. »Es könnte um verschiedene Personen aus derselben Geschichte gehen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Die Frau nickt und folgt Alice an ihren Tisch, das Fotoalbum fest an die Brust gepresst.
»Übrigens, mein Name ist Alice. Und das ist meine beste Freundin Derry. Und das ist … na ja, wir nennen ihn Frank. Aber eigentlich haben wir keine Ahnung, wie er heißt.«
Alice zieht für die Frau einen Stuhl heran, und sie nimmt Platz. »Mein Name ist Liljana, aber ich werde Lily genannt.«
»Und woher stammen Sie?«
»Ich bin aus Kiew. In der Ukraine.«
»Und Sie sind mit einem Engländer verheiratet?«
»Ja. Sein Name ist Carl. Obwohl …« Sie unterbricht sich und sieht von einem zum anderen. »Das ist auch nicht sein Name.« Sie lacht nervös. »Als ich ihn bei der Polizei als vermisst gemeldet habe, hat man mir gesagt, dass sein Pass gefälscht ist und keine solche Person existiert.« Sie zuckt die Achseln. »Also, zwei Männer ohne Namen. Unheimlich, was?«
Alice überläuft ein Schauer. Eine dunkle Ahnung unbegreiflicher Schwere verbirgt sich hinter diesen Worten. Zwei Männer ohne Namen. Das ist mehr als unheimlich.
»Das ist er.« Lily legt das Fotoalbum vor Alice und Frank offen auf den Tisch. »Das ist mein Mann.«
Alice blickt auf das Foto eines gut aussehenden Mannes, dunkelhaarig mit eindringlichen Augen, in einem perfekt sitzenden Anzug.
Dann sieht Frank sich das Foto an. Plötzlich springt er auf, sein Stuhl fällt um, sein Gesicht ist blutleer, und er presst beide Hände vor den Mund.
Alice packt seinen Arm: »Frank? Frank. Was ist los?«