Es ist Sonntag. Lily möchte, dass der Tag schnell vorübergeht, damit es Montag wird, denn dann kann sie bei der Polizei anrufen, zum Schlüsseldienst gehen und mit Carls Kollegen sprechen. Heute kann sie nur wieder bei dieser Nummer anrufen. Das Telefon von Carls Mutter läutet endlos. Nicht einmal ein Anrufbeantworter unterbricht das quälende, unablässige Klingeln. Das Telefon läutet so lange, bis ihm die Töne ausgehen, dann klickt es höhnisch in der Leitung, als wollte es sagen: Um Himmels willen, da ist niemand. Wann raffst du das endlich?
Während Lily, das Telefon an ihre Wange gepresst, dasitzt und die Wahlwiederholung drückt, stellt sie sich vor, wie die Frau aussieht, die nicht rangeht. Sie hat dunkle Haare, wie Carl, und die gleichen ausgeprägten Wangenknochen; sie sieht jung aus für ihr Alter, und sie trägt eine Seidenbluse und eine gut sitzende Hose. Wieder wundert sich Lily, warum sie nicht weiß, wie die Mutter ihres Ehemannes aussieht. Warum hat sie nie nach ihr gefragt? Warum gibt es keine Fotos von ihr in der Wohnung? Wer ist dieser Mann, den sie geheiratet hat? Was macht sie hier überhaupt?
Nachdem sie eine Stunde lang im Schneidersitz auf dem Bett gesessen und Carls Mutter angerufen hat, spürt Lily tief in ihrem Innern eine wachsende Wut. Genau da, wo auch die Quelle ihrer Tränen ist: in ihrer Magengrube. Lily pfeffert das Telefon durchs Zimmer und sieht zu, wie es gegen die Wand knallt und in zwei Teile zerspringt. Ein Plastikteil wird unter das Bett geschleudert. Lily heult frustriert auf, geht auf alle viere und fährt mit den Fingern den schmalen Spalt zwischen Bett und Teppich entlang. Da sie das Plastikteil nicht findet, schiebt sie das Bett so weit zur Seite, bis sie es sehen kann. Da liegt noch etwas. Einer von Carls schicken kleinen Seidenknoten-Manschettenknöpfen, flaschengrün und weinrot. Sie legt sich den Manschettenknopf in eine Hand und starrt ihn an. Sie kann Carl dort stehen sehen, so wie jeden Morgen, wenn er die Manschetten seines makellosen Businesshemds nach unten streift, die Knöpfe durch die Löcher steckt und ihr zulächelt. Sie weiß noch, wie sie sich dann gefühlt hat: Sie war furchtbar stolz auf diesen gut aussehenden erwachsenen Mann mit seinen feinen Hemden.
Sie legt den Manschettenknopf auf Carls Nachttisch und konzentriert sich darauf, das Telefon zu reparieren. Anscheinend hat sich irgendwas gelöst – aber sie findet nicht heraus, was genau –, und sie kann die zwei großen Teile ohne das fehlende kleine nicht mehr zusammensetzen. Lily bindet ein Haargummi darum und versucht noch einmal, Carls Mutter anzurufen, aber sie hat keine Verbindung. Sie hat das Telefon kaputt gemacht. Mit einem Stöhnen lässt sie den Apparat aufs Bett fallen. Alle Menschen, die Carl erreichen wollen – seine Mutter, seine Schwester, das Büro, Russ – haben diese Nummer.
Lily duscht, wäscht sich die Haare und zieht sich an. Dann nimmt sie ihr Handy zur Hand und schickt Russ eine SMS: Ich habe das Festnetztelefon kaputt gemacht. Das ist meine Handynummer. Bitte ruf mich unter dieser Nummer an, wenn du mich sprechen willst. Danke. Lily.
Dann tippt sie die Nummer von Carls Mutter in ihr Handy und wartet darauf, dass das endlose Klingeln wieder beginnt. Aber nach dreimal Klingeln hört sie ein Klicken in der Leitung und eine unsichere, leise Frauenstimme sagt: »Ja, bitte?«