Eine Frau betritt das Café, und Alice weiß sofort, dass sie Lesley Wade ist, die Journalistin, auf die sie warten. Lesley ist eine sehr kleine, schroffe Frau mit weißem Kurzhaarschnitt und flippiger, strassbesetzter Brille. Umstandslos bestellt sie einen Muffin, tritt an den Tisch, setzt sich zu ihnen und schaut einen nach dem anderen fragend an.
»Also«, sagt sie jetzt, glättet die Ecken ihrer Serviette mit rosa lackierten Fingernägeln und mustert Frank fasziniert: »Sie sind also der mysteriöse halbwüchsige Sohn.«
»Ach ja?«
Sie nickt. »Diese Geschichte war so unheimlich. Woran können Sie sich noch erinnern?«
Frank schüttelt den Kopf. »Nur an meinen Vater, der in meinen Armen starb. Meine Schwester … im Meer. An das weiße Haus. Den Mann namens Mark. Und daran, dass ich ihn gesehen habe. In London. Wie er in sein Büro ging. In dem Moment fiel mir wieder ein, dass er meine Schwester angegriffen hat. Und ich habe meinen Kaffee fallen lassen.« Er schüttelt wieder den Kopf. Es tut Alice in der Seele weh, ihn so zu sehen. »Dann erinnere ich mich an nichts, bis Alice mich am Strand gefunden hat.«
Lesley spreizt ihre Finger auf der Tischplatte. »Also«, fängt sie an. »1993 wurde ein junger Mann mit Namen Graham Ross von einer Einheimischen aufgefunden, als er neben dem Leichnam seines Vaters am Strand hockte. Er wusste weder seinen Namen, noch wer der Mann neben ihm war, noch warum er dort war.«
Alice hält den Atem an. Das ist Frank also schon einmal passiert.
»Seine Schwester war verschwunden, wie auch der Freund seiner Schwester, Mark Tate. Keiner von beiden wurde jemals gefunden. Da es von Graham keine Zeugenaussage gab, konnte man den Hergang der Ereignisse nur mutmaßen: Graham und Kirsty Ross waren auf einer Party im Haus von Marks Tante gewesen. Dort hatte es Drogen und Alkohol gegeben. Später hatten sie beschlossen, bei Nacht schwimmen zu gehen und waren in Schwierigkeiten geraten. Als Mr. Ross seine Kinder nicht in Mrs. Tates Haus fand, suchte er sie am Strand und erlitt bei dem Versuch, sie aus den Fluten zu retten, einen schweren Herzinfarkt. Durch den Schock, den Vater sterbend in seinen Armen zu halten, geriet der junge Graham in einen vorübergehenden Fugue-Zustand.«
»Er ist jetzt auch in einem Fugue-Zustand«, sagt Alice.
»Ist das wahr?«, fragt Lesley und legt ihre Hände in den Schoß. »In dem Fall sollte er wirklich ins Krankenhaus. Meinen Sie nicht?«
Alice verteidigt sich vehement. »Ich habe ihm das ja gesagt, gleich von Anfang an. Aber er hat sich geweigert. Und ich wollte ihn heute zur Polizei bringen. Tatsächlich heute. Das hier war unser Abschiedskaffee.«
Lesley ignoriert das und wendet sich Lily zu: »Sagen Sie mir doch noch mal, was Sie mit dieser Geschichte zu tun haben.«
»Wie schon erwähnt, ich bin mit dem Mann verheiratet, der, wie Sie sagen, angeblich 1993 hier im Meer ertrunken ist.«
Lesley hält für einen Augenblick inne, holt tief Luft und sagt: »Hören Sie. Vielleicht sollten wir doch noch etwas warten, bis wir Frank … Graham … wen auch immer …ins Krankenhaus oder zur Polizei zu bringen. Ich glaube, vielleicht …« Glänzende rosa Fingernägel trommeln auf den Tisch. »Ich glaube, vielleicht könnten wir hier was machen. Nur wir untereinander.«
Derry blickt plötzlich auf: »Sie meinen, Sie wollen eine Story daraus machen?«
»Nun ja, nein, nicht notwendigerweise eine Story in dem Sinne, mehr ein Nachtrag. Verstehen Sie. Was ist aus dem Jungen vom Strand geworden? So in der Art.« Lesley lächelt das Lächeln einer Katze, die vor dem Mäuseloch sitzt. Ihre Absichten sind klar, aber Alice ist das egal. Sie möchte Frank ein bisschen länger bei sich behalten.
Derry wirft Alice einen beunruhigten Blick zu. Alice schüttelt den Kopf. Derry verdreht die Augen.
Lesley hat bereits Block und Kugelschreiber aus ihrer Tasche genommen und sitzt startbereit da. »Also, Frank, Graham …« Sie wartet. »Was ist Ihnen lieber?«
»Frank«, flüstert er, und Alice schmilzt dahin.
»Na dann, Frank«, sagt Lesley. »Damals verließen Sie Ridinghouse, fuhren mit Ihrer Mum nach Hause, ohne Schwester, ohne Ihren Dad. Was geschah dann? Haben Sie Ihr Gedächtnis zurückerlangt?«
»Ich glaube schon. Ich meine, es muss so sein. Ich erinnere mich jetzt an meine Mutter. Ich lebe so gut wie Tür an Tür mit ihr. Auch an meinen Vater und meine Schwester habe ich mich erinnert. Ich weiß, dass ich an dem Abend in der Kneipe war, mit Mark und seinen Freunden, dass ich nach Hause gegangen bin und zugelassen habe, dass sie Kirsty überredeten, mit uns auf die Party zu kommen. Ich habe mich auch an manches auf der Party erinnert, laute Musik, verrückte Typen. Dass ich ein Mädchen namens Izzy geküsst habe. Und ich habe mich an einiges vor den Ferien erinnert, meine Freunde in Croydon …«
»Du bist aus Croydon?«, unterbricht Alice ihn. Das ist nur ein oder zwei Meilen von Brixton entfernt. All die Jahre haben sie so nah beieinander gelebt.
»Ja«, sagt er. »Ich glaube, das stimmt. Nicht gerade cool, oder?«
»Aber ich liebe Croydon!«, schwärmt Alice.
Frank lächelt ihr zu und dreht sich um, als Lesley sich räuspert. »Als wir wieder zu Hause waren, habe ich irgendwie so weitergemacht wie zuvor. Bin zur Schule gegangen. Habe mich meinen alten Freunden angeschlossen. Habe mein Abitur gemacht. Ich war, hm, also … in Therapie, vermute ich. Für eine lange Zeit. Aber ich habe niemals die Erinnerung an diese Nacht ausgegraben. Ich habe einfach die polizeiliche Darstellung der Ereignisse akzeptiert. Dass wir alle ins Meer gesprungen sind, randvoll mit Drogen, und dass Mark und meine Schwester ertrunken sind. Ohne die Erinnerung an die Auseinandersetzung mit Mark war das die einzige logische Erklärung. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich etwas Entscheidendes vergessen hatte. Aber es blieb verschüttet. Bis zu dem Tag in London. Als ich ihn sah.«
»Ja«, sagt Lesley und hält nachdenklich ihren Stift über dem Notizbuch bereit. »Und was fällt Ihnen denn jetzt dazu ein?«
»Ich …« Er macht seine Augen fest zu. »Mein Gott, es tut mir leid. Mein Hirn setzt beim vergossenen Kaffee aus. Aber …« Der Kopf sinkt ihm auf die Brust, seine Augen bleiben geschlossen. »Geben Sie mir eine Minute Zeit.«
»Auf alle Fälle, Frank«, sagt Lesley, »lassen Sie sich Zeit. Wir haben keine Eile.«
Frank versucht, sich den Mathewettbewerb zu vergegenwärtigen. Haben seine Schüler gewonnen? Wie haben sie abgeschnitten? Namen gehen ihm durch den Kopf: Zach, Nazia, Muhammed, Sam, Aisha, Crystal, Hannah, King. Die Kinder seiner Gruppe. Und was dann? Sind sie zurück in die Schule gegangen? Gab es noch Unterricht? Nein. Es waren Osterferien. Es war keine Schule. Nach dem Wettbewerb gingen alle nach Hause. Aber wie ist er nach Hause gekommen? Auto? Oder Bus? Er sieht die Ziffern 712. Er sieht, wie er den Fahrschein an das Lesegerät hält, wie er Platz nimmt im hinteren Teil, eine Ledertasche auf seinem Schoß. Dann befindet er sich in seiner Wohnung, an die er sich in der vorigen Nacht erinnert hat. Sie liegt in einer schmutzigen Straße. Ein Licht geht an, als er den schmalen Durchgang zu seiner Eingangstür passiert. Die Wohnung riecht nach dem morgendlichen Katzenfutter. Er kratzt die Schale aus, reinigt sie und füllt sie neu. Die Katze namens Brenda umkreist seine Füße.
Er korrigiert Hausaufgaben. Er sieht fern. Er googelt den Namen des Bürogebäudes, in das Mark Tate hineingegangen ist. Es ist ein Finanzunternehmen. Er klickt »Wer wir sind« an und scrollt herunter, bis er sein Foto findet. Sein Name ist jetzt offensichtlich Carl Monrose. Zum Abendessen macht er sich etwas aus dem Tiefkühlfach warm, Lasagne, soweit er sich erinnern kann, die seine Mutter für ihn zubereitet hat, als er letzte Woche erkältet war.
Dann führen ihn seine Gedanken verwirrend vom Essen aufgewärmter Lasagne auf dem Sofa in seiner Wohnung zu einem Bahnhof, wo er nachschaut, Bahnsteig 4, Zug 17.06 Uhr nach East Grinstead. Er folgt der vom Arbeitstag müden Menge, seinen Blick auf den Hinterkopf von Mark Tate geheftet. Dann ein Zeitsprung, er ist in der Schule und sitzt in irgendeinem Büro. Die Schule ist leer, und er trägt Jeans. Es sind noch Ferien. Er bittet um Beurlaubung wegen einer dringenden Familienangelegenheit. Sein Großvater liegt im Sterben. Hat er überhaupt einen Großvater? Der Mann hinter dem Schreibtisch, ein älterer Herr mit wettergegerbtem Gesicht und kurz geschnittener Afrofrisur, nickt mitfühlend und sagt: »Nehmen Sie sich ein paar Tage. Wir können Sie für eine Woche oder so vertreten.« »Mr. Josiah Hardman«, steht auf dem Schild an seiner Tür, »Schulleiter.«
Alice reicht ihm über den Tisch hinweg eine Tasse Tee. »Alles gut mit dir?«, fragt sie. Ihre Stimme erreicht ihn wie das Echo ferner Musik.
Er erinnert sich, dass er seine Mutter angerufen hat. »Ich bin auf einer Fortbildung. Den ganzen Tag Programm. Du kannst mich da nicht erreichen.« Er erinnert sich an die Worte seiner Mutter: »Pass auf dich auf. Ich werde dich vermissen.« Er erinnert sich, wie sich das anfühlte, der einzige Überlebende in der kleinen Familie seiner Mutter zu sein. Wie sich das Wissen anfühlte, dass jede Reise, die er unternahm, jede Entscheidung, die er traf, jede Person, die er in sein Leben aufnahm, seiner Mutter furchtbare Ängste bereitete. Zu wissen, dass er sie niemals verlassen konnte. Dass er an sie gebunden war.
»Ich bin ihm gefolgt«, sagt er schließlich. »Ich bin dem Mann bis in seinen Zug gefolgt.«
Lily wirft ihm einen entsetzten Blick zu. »Carl? Sie sind meinem Carl gefolgt?«
»Ja«, sagt Frank. »Ich erinnere mich, dass ich in den Zug um 17.06 Uhr nach East Grinstead gestiegen bin. Ich saß am anderen Ende des Abteils. Ich habe ihn beobachtet. Er stieg aus in …«
»Oxted«, ergänzt Lily.
»Ja«, sagt Frank. »Oxted. Und ich bin ihm hinterhergegangen. An Läden vorbei. Eine Schnellstraße entlang. An einer Baustelle vorbei.«
»Und dann?«
»Und dann zu einem Wohnblock.«
»Oh, mein Gott«, sagt Lily. »Sie sind zu mir nach Hause gekommen. Mein Gott. Was haben Sie dann getan? Haben Sie uns ausspioniert? Oder haben Sie ihn vielleicht umgebracht? Sie haben ihn auf die Baustelle gebracht. Dort haben Sie ihn getötet, stimmt’s? Ich habe das flackernde Licht gesehen. Das in dem Fenster. Ich wusste, dass da was komisch war.«
Die Leute drehen sich schon nach ihr um; Lily zeigt wütend auf Frank, und ihre Stimme überschlägt sich. Sie greift in das vordere Fach ihrer kleinen glänzenden Handtasche und zieht ein iPhone heraus. »Ich rufe die Polizei an. Die arbeiten an der Vermisstenanzeige für meinen Mann. Und ich habe die Durchwahl. Ich rufe da jetzt sofort an.«
Lesley legt beruhigend ihre Hand auf Lilys. »Nein«, sagt sie. »Das ist keine gute Idee.«
»Das ist eine sehr gute Idee. Vielleicht ist er noch am Leben. Die können jetzt gleich dort hingehen und nachschauen.«
»Nein«, sagt Lesley noch entschiedener.
Währenddessen entwickelt Franks Hirn Gedanken und folgert, stellt um und ordnet neu. Dann ist er plötzlich in einem leeren Raum mit breiten Glasfenstern, die mit Folie abgeklebt sind. Er sieht, wie ein Telefon durch die Luft fliegt. Und da ist etwas hinter diesem Bild. Ein Geräusch. Eine Stimme. Ein Bruchstück von etwas, das zu klein ist, um es zu identifizieren.
Dann wechselt die Szenerie; Frank hat sich wieder weiterbewegt. Er folgt gerade Mark Tate, folgt ihm in einen Coffeeshop. Frank trägt eine Baseballmütze und beobachtet, wie Mark Tate einen Kaffee und ein Schokoladencroissant bestellt. Sein Verhalten zu dem nicht sehr hübschen Mädchen hinter dem Tresen ist gleichzeitig schroff und lässig. Frank folgt ihm auf die Straße und dann zurück zu seinem Büro. Sein Herz schlägt wie wild. Er spürt, wie der Schweiß sich unter dem Rand seiner Baseballmütze sammelt. Jedes Mal wenn er Mark Tate sieht, fühlt er sich in dieses Dachzimmer zurückversetzt, hört, wie das T-Shirt seiner Schwester zerreißt, fühlt das heiße, schmerzende Pochen in seinem gebrochenen Handgelenk, das Hämmern von Hip-Hop, das den Fußboden vibrieren lässt. Sein Verstand wird von Panik und Ekel, von Zorn und Hass überflutet. Er möchte … Alles, was er möchte, ist, Mark Tate töten. Aber er kann ihn nicht töten, weil er erst mit ihm reden muss: Er muss herausfinden, was mit Kirsty geschehen ist. Ist sie am Leben? Und wenn nicht, wie lange konnte sie es im dunklen, kalten Meer aushalten? Wo ist ihre Leiche? Und warum? Warum, warum, warum?
Frank zieht jetzt Lilys Hochzeitsalbum zu sich heran und zwingt sich, Marks Gesicht anzuschauen. Er erinnert sich an den warmen Nachmittag am Strand, an das erste Mal, als er dieses Gesicht sah, wie er sofort die Konturen und Proportionen aufgenommen hat, wie seine Sinne die Mathematik dieses Gesichts in Sekundenschnelle verarbeitet und für problematisch befunden haben. Jetzt geht es ihm genauso beim Anblick dieses vierzig Jahre alten Mannes, der ein halb so altes Mädchen geheiratet hat.
»Ist er nett zu Ihnen?«, fragt er und schaut zu Lily rüber.
»Er behandelt mich wie eine Prinzessin.«
»Aber ist er nett zu Ihnen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Jetzt ist Frank in Kittys Wintergarten. Sie sitzt da, dünn und zerbrechlich, ihre Hand zittert leicht, als sie die Teekanne anhebt. Er hatte ihr Verhalten als Unfreundlichkeit empfunden, hatte angenommen, dass sie verstimmt war angesichts nicht eingeladener Gäste. Aber was, wenn sie sich vor Mark gefürchtet hatte. Was, wenn …?
Seine Gedanken entgleiten ihm. Er klappt das Album zu und lässt seinen Kopf in die Hände sinken.
»Ich habe ein paar Tage Urlaub genommen«, sagt er. »Ich hätte letzte Woche wieder in der Schule sein müssen. Ich werde wahrscheinlich rausgeschmissen.«
»Sie hatten also einen Plan?«, drängt ihn Lesley.
»Ich glaube … Ich bin nicht sicher. Ich wollte mit Mark reden. Ich wollte ihn dazu bringen, dass er mir sagt, was mit Kirsty passiert ist. Ich brauchte Raum. Ich brauchte Zeit. Und dann …«
Er ist zurück in dem leeren Zimmer mit den breiten Fenstern. Er sieht sein Spiegelbild in den nachtschwarzen Fenstern. Er ist allein und hat einen prall gefüllten Rucksack dabei. Er versteckt ihn in einem leeren Küchenschrank.
»Ich habe einen Platz gefunden.« Seine Erinnerungen flirren und schwirren durcheinander, und ihm wird übel. »Ich habe ihn dort hingebracht.«