1993
Tony öffnete die Tür des Cottages und sah die kleine Gruppe angetrunkener junger Leute, die dort draußen stand.
»Dad«, sagte Gray. »Ich gehe zum Haus von Marks Tante. Dort gibt’s ’ne Party oder so was in der Art.«
»Keine Party«, warf Mark ein. Für jemanden, der gerade einen Tequila nach dem anderen gekippt hatte, klang er erstaunlich nüchtern. »Nur ein lockeres Zusammensein mit einigen Freunden.«
Tony warf Gray einen verwirrten Blick zu. Dann sah er von Gray zu Mark und schließlich wandte er sich zu Grays Mum um, die gerade zur Tür gekommen war.
»Was ist denn los?«, fragte seine Mutter.
»Gray will auf eine Party gehen. Mit Mark.«
»Keine Party, Mrs. Ross. Nur ein zwangloses Zusammensein. Nur wir hier. Das sind alte Freunde von mir von zu Hause. Und meine Tante ist auch da.«
Tony starrte Gray ungläubig an. Gray starrte mit zusammengebissenem Kiefer zurück. Er würde zu dieser Party gehen, und wenn es ihn sein Leben kostete.
Dann schaltete sich Izzy ein: »Möchte Ihre Tochter auch mitkommen? Es wäre schön, noch ein Mädchen dabeizuhaben.«
Kirsty tauchte hinter ihren Eltern auf und sah Gray fragend an.
»Und da kommt sie auch schon«, sagte Mark. »Wir schnappen uns deinen Bruder für ein gemütliches Treffen im Haus meiner Tante. Und Izzy fragt, ob du auch kommen möchtest.«
»Äh …« Kirsty deutete auf den Schlafanzug, den sie trug. »Ich glaube nicht.«
Aber Gray bemerkte, dass sie über seine Schulter hinweg zu den zwei Glamourgirls in ihren teuren Kleidern und Marks ebenso gut aussehendem Freund mit dem halb offenen Hemd und der Urlaubsbräune sah. Die Gruppe war beeindruckend.
»Komm mit«, sagte Izzy. »Das wird lustig.«
Kirsty biss sich auf die Unterlippe. »Aber es ist schon spät«, entgegnete sie.
»Es ist erst zehn. Kurz vor zehn. Komm schon.«
»Ich weiß nicht.«
Tony und Pam tauschten einen Blick aus.
»Bitte«, sagte Izzy. »Wir warten, bis du dich angezogen hast. Das wird bestimmt lustig.«
Tony sah Gray streng an. Gray zuckte die Achseln. Ob Kirsty mitkommen wollte, war ganz allein ihre Entscheidung. Er würde sie nicht überreden. Aber er würde sie auch nicht zurückhalten. Er wollte jetzt einfach nur zum Haus von Marks Tante, noch einen Drink nehmen und das Gespräch, das er mit Izzy im Pub hatte, weiterführen. Das Gespräch, bei dem sie ihre Augen nicht von ihm genommen und zugelassen hatte, dass sich ihre Schultern und ihre Knie mehrmals berührten. Und sie hatte ihm gesagt, dass er »total süß« und »bezaubernd« sei.
»Also gut«, sagte Kirsty.
Tony und Pam warfen ihr einen panischen Blick zu.
»Was ist denn?«, sagte sie. »Das ist schon in Ordnung.« Dann wandte sie sich wieder den anderen zu. »Gebt mir zwei Minuten. Nein, tatsächlich genügt mir eine.«
»Wir bringen sie nicht zu spät nach Hause«, sagte Izzy. »Und wohlbehalten.«
»Gray«, sagte sein Vater zu ihm. »Ich will, dass ihr beide um Mitternacht zu Hause seid. Mitternacht«, wiederholte er.
Gray grummelte: »Ja, ja.« Wenn Kirsty nicht mitkommen würde, wären seine Eltern weniger streng gewesen. »In Ordnung«, setzte er noch hinzu.
»Und wenn ihr nicht pünktlich zurück seid, komme ich zum Haus hinauf und blamiere euch bis auf die Knochen. Verstanden?«
»Oh Gott«, murmelte er. »Ja, verstanden.«
Kirsty erschien. Sie trug ein rosa T-Shirt, eine Kapuzenjacke und Jeans. Ihre frisch gekämmten Haare glänzten ebenso wie der pinke Gloss auf ihren Lippen. »Okay?«
Gray bemerkte, dass sie Mark verlegen ansah. Dann blickte Mark zu ihm und lächelte.
»Kommt schon«, sagte Gray. »Lasst uns gehen.«
Die Lilien im Flur waren verwelkt. Die schweren weißen Blüten hingen schlaff herab, und auf dem hellen Fliesenboden lag gelber Blütenstaub. Es kamen auch keine Hunde angerannt, um sie zu begrüßen. Im Haus war es ruhig und still.
»Wo ist deine Tante?«, fragte Gray.
»Was?«, erwiderte Mark geistesabwesend.
»Deine Tante. Wo ist sie?«
»Himmel«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«
»Du hast doch gesagt, sie wäre hier.«
»Na ja, vielleicht ist sie das auch«, entgegnete er. »Vielleicht schläft sie schon.«
Die Gruppe folgte Mark in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Der Raum war klein und quadratisch und verfügte über einen offenen Kamin, ein Sofa und zwei große Sessel sowie, hinten in der Ecke, eine voll ausgestattete Mahagonibar. Mark hob eine Klappe in der Täfelung, betätigte einen Schalter, und das ganze Möbel leuchtete. An der Wand waren verschiedene Flaschen mit Spirituosen befestigt, glänzend polierte Cocktailshaker standen auf schmalen Glasregalen; außerdem gab es einen Becher mit Strohhalmen und Rührstäbchen, einen Eiswürfelbehälter mit einer silbernen Zange, ein kleines Spülbecken, einen kleinen Kühlschrank, gefüllt mit Bier und Wein, sowie drei rote Lederbarhocker.
»Okay«, sagte Mark. Er stand hinter der Theke und klatschte in die Hände. »Wer möchte was trinken?«
Die Mädchen wollten Gin Tonics; Alex bestellte einen Whisky sour, und Gray bat um ein Bier.
»Und was möchtest du, Kirsty?«
»Hast du auch Coke?«
Mark lachte. »Wow, Kleine, dafür ist es noch ein bisschen früh am Abend!«
»Ich meinte Coca-Cola.«
»Ich weiß, was du gemeint hast.« Er lächelte sie nachsichtig an. Dann schob er eine CD in den CD-Player unter der Theke und drückte einen weiteren Knopf. Augenblicklich erfüllte der Sound von A Tribe Called Quest den Raum. Gray sah sich um und entdeckte vier Lautsprecher, je einen in jeder Ecke des Raums, an der Decke. Mark drehte den Bass auf, und der Beat dröhnte in den Dielen, in Grays Füßen. Mit einem Flaschenöffner, der an der Seitenwand der Bar befestigt war, öffnete er die Bierflasche für Gray und reichte sie ihm. Gray trank schnell. Izzy und Harrie saßen auf den Barhockern und flüsterten und kicherten verschwörerisch miteinander, während Mark ihre Cocktails mixte. Kirsty stand neben Gray, trank ihre Cola mit einem Strohhalm und wippte im Takt der Musik.
»Warum bist du mitgekommen?«, flüsterte er ihr ins Ohr, gerade so laut, dass sie ihn trotz der ohrenbetäubenden Musik hören konnte.
»Mir war einfach danach«, antwortete sie ebenso leise in sein Ohr.
»Ja, aber warum?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich wollte ich nicht, dass du mir morgen früh erzählst, was für einen tollen Abend du hattest. Ich wollte nicht die Loserin sein, die im Schlafanzug zu Hause rumsitzt.« Sie starrte ihn durchdringend an. »Und warum bist du mitgekommen?«
Er warf Izzy einen kurzen Blick zu, genau in dem Moment, als Izzy sich von Harrie abwandte und ihn auch ansah.
Kirsty nickte wissend. »Sie spielt in einer völlig anderen Liga.«
»Ich wäre mir da nicht so sicher«, sagte er.
»Im Ernst. Sieh sie dir nur an. Und sie ist auch älter als du.«
»Bloß ein bisschen. Ein paar Monate.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Ein Jahr«, räumte er ein. »Das ist gar nichts.«
»Und wo wohnt sie?«
»Harrogate«, sagte er. »So wie Mark. Sie gehören alle zu den Schönen und Reichen, kennen sich vom Polo und so.«
Kirsty verdrehte die Augen. »Na ja dann«, sagte sie. »Viel Glück.«
»Ich glaube, sie denkt, ich wäre anders.«
»Also so viel ist mal sicher.«
»Hör mal, wir kommen ja nun nicht gerade aus der Gosse. Wir sind nicht so anders.«
Kirsty machte eine ausholende Handbewegung durch den hohen Raum, deutete auf die erleuchtete Bar, das Chesterfieldsofa, die Kamingitter und den Kronleuchter über ihren Köpfen.
»Ich meine die inneren Werte«, sagte Gray. »Wir leben in einem netten Haus, unsere Schulen sind vollkommen okay, wir machen Urlaubsreisen und haben ein anständiges Auto. Mum und Dad trinken Wein.«
»Ja, aber es gibt einen riesigen Unterschied zwischen unserem Leben und dem hier.«
»Egal«, sagte er. »Ich glaube, es ist nicht wichtig. Nicht wenn zwei Menschen eine … Verbindung zueinander haben.«
Kirsty verdrehte die Augen.
»Cheers!«, sagten alle, als Mark die Cocktails verteilte. Gray drehte sich um und stieß leicht mit seinem Bier gegen Izzys Cocktail. Für den Bruchteil einer Sekunde erwiderte sie seinen Blick und lächelte. Dann wandte sie sich ab, und er folgte ihrem Blick zu Mark, der kleine weiße Pillen auf die Theke aufreihte.
Izzy rieb sich die Hände und sagte: »Oh, wow! Klasse!«
Gray unterdrückte ein Stöhnen. Er hätte es ahnen sollen. Kinder reicher Leute und Drogen.
»Nein, danke«, sagt er, als Mark ihm eine Pille mit der Fingerspitze zuschob.
»Ganz ehrlich. Ich bleibe beim Bier.«
Izzy stupste ihn an. »Ach, komm!«, sagte sie. »Das ist doch nur E. Wir teilen uns eine, wenn du magst.«
»Ernsthaft, das ist nicht mein Ding.«
»Oh, Gray. Du ist so süß.«
Dieses Mal klang es für Gray nicht nach einem Kompliment.
»Ich teile eine Pille mit dir.« Kirsty berührte ihn sanft am Arm.
»Was? Auf keinen Fall! Du bist fünfzehn! Ich kann doch nicht völlig high mit dir nach Hause kommen. Was sollen Mum und Dad denn denken?«
»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte Mark und lehnte sich über die Theke. »Ihr beide teilt euch eine halbe Pille. Ein Viertel für jeden von euch. Ihr werdet fast nichts merken. Und bis ihr nach Hause geht, seid ihr wieder völlig normal.«
»Und wozu das Ganze dann?«
»Es macht einfach alles ein bisschen leichter. Die Welt sieht für eine kurze Weile etwas rosiger aus.«
»Ach bitte, Gray.« Izzy fasste ihn am Arm. Dann zog sie ihn zu sich, sodass ihr Gesicht ganz nah bei seinem war: der Geruch ihrer Haare, ihre weiche Haut, ihr nackter Arm um seine Taille. »Bitte.«
»Ehrlich«, sagte Mark. »Ihr erlebt nur eine besonders schöne Stunde, und dann liegt ihr auch schon wieder sicher zu Hause in euren Betten.«
Gray zuckte die Achseln. Er wusste, dass er dabei war, diese Schlacht zu verlieren. Eine leise, unbekannte Stimme in seinem Inneren raunte, dass dieser chemische Kick vielleicht genau das war, was er brauchte, damit Izzy ihn nicht mehr nur süß fand, sondern ihn auch küssen wollte.
Er nickte. Mark lächelte und zerbrach die Pille in zwei Hälften. Eine Hälfte gab er Izzy, die andere zerteilte er noch einmal und gab Kirsty und Gray je ein Stückchen.
»Bist du sicher?«, formte Gray unhörbar mit den Lippen in Kirstys Richtung. Sie nickte, und beide schluckten die Pillenstückchen hinunter.
Mark reichte Gray noch ein Bier und Kirsty noch eine Cola. Dann drehte er die Musik lauter und schaltete die Lampen aus, sodass nur noch das Licht der Bar und eine große Kerze auf dem Couchtisch hinter ihnen den Raum erhellten.
Eine Zeit lang schauten Gray und Kirsty den anderen einfach nur zu, die beinahe theaterreife Darbietung ihrer Unterhaltung, das Gejohle, die Insiderwitze und die Neckereien. Gray dachte schon, er hätte sich die Anziehung zwischen ihm und Izzy nur eingebildet, als sich plötzlich Izzys Cousine zu ihm umdrehte und fragte: »Also, Gray, hast du eine Freundin? Zu Hause in Croydon?«
Izzy stieß Harrie in die Seite und warf ihr einen gespielt entsetzten Blick zu. »Harrie!«
»Was ist denn?«, sagte Harrie. »Ich habe doch nur gefragt.«
»Nein«, mischte sich Kirsty ein. »Er hat keine Freundin. Genau genommen hatte er noch nie eine Freundin …«
Gray hielt seiner Schwester den Mund zu und drückte sie fast zu Boden. Sie wehrte sich, richtete sich wieder auf und schob heftig Grays Arm von sich weg. »Er hat noch nicht einmal jemanden geküsst, außer unserer Mutter.«
Gray hielt ihr wieder den Mund zu und sagte: »Das ist nicht wahr. Im Ernst. Das sagt sie nur, weil sie mich hasst.«
»Weißt du was? Ich glaube, ich habe kein Mädchen geküsst, bis ich siebzehn war«, sagte der schweigsame Alex mit dem Silberblick. »Oder war es mit sechzehn? Vielleicht war ich damals auch dreizehn. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich kann mich erinnern, dass ich das Gefühl hatte, sehr lange auf den ersten Kuss zu warten.«
»Ich werde dich küssen«, sagte Izzy und wandte sich Gray zu.
Gray ließ Kirsty los und blinzelte. »Wieso? Es stimmt ja gar nicht, dass ich noch kein Mädchen geküsst habe, also musst du es nicht aus reiner Freundlichkeit tun.«
»Oh, Gray, ich verspreche dir, mit Freundlichkeit hat das gar nichts zu tun.«
Und bevor er protestieren konnte oder auch nur daran denken konnte, es zu tun, küsste sie ihn vor allen anderen: Die Arme fest um seinen Hals geschlungen, die Zunge in seinem Mund, ihr kleiner Busen presste sich an seine Brust.
Kurz wehrte er sich gegen die Umarmung, aber dann ließen ihn das animalische Stampfen der Musik, die golden leuchtende Dunkelheit, die dumpfe Atmosphäre, Tequilas, Biere, Ecstasy und dieses Mädchen in seinen Armen – ihr Mund, ihr spontanes Verlangen nach ihm – alles um sich herum vergessen. Er hatte das Gefühl, dass es nur noch sie beide gab. In seinem Kopf schwirrten kaleidoskopartig Bilder, sie wechselten und bewegten sich, liefen auseinander und wieder zusammen, um schließlich im Takt der Musik ein neues Bild hervorzurufen, einen gespreizten Pfauenschwanz, wie er plötzlich erkannte. Das fächerförmige Rad schimmerte vor seinem geistigen Auge, die irisierenden Farbfelder aus Grün, Indigoblau und Lila tanzten hin und her.
Kurz überließ er sich diesem Augenblick der Schönheit, verlor aus dem Bewusstsein, dass er gerade Izzy küsste, dass ihre Hände durch seine Haare fuhren, dass die anderen zusahen, sie beide anfeuerten, jauchzten und klatschten. Er vergaß, dass das, was hier passierte, verrückt war, einfach verrückt. Als Izzy und er endlich voneinander abließen, blickte er ihr in die Augen und erkannte das Pfauenmuster in ihrer Iris. Er beugte sich vor und flüsterte in ihr Ohr: »Du bist wunderschön.« Und sie beugte sich vor und sagte: »Du bist auch wunderschön.«
Hinter der Bar zog Mark eine kleine Tüte aus seiner Hosentasche und legte noch eine Runde Pillen auf die Theke. Wieder brach er eine Pille in zwei Hälften. Eine Hälfte schob er Gray zu, die andere in Richtung Izzy.
Diesmal musste Gray nicht erst überredet werden.