Hermann Kanter hatte keine Freunde. Kanter sagte, ein Mann, der immer Frauen hat, braucht keine Freunde. Von einer zur nächsten. Und zweimal zurück. Nachdem Anneliese ihn verlassen hatte, war das mit dem Frauenhaben allerdings auch vorbei.
Was er hatte, waren 800000 Schulden, eine harte Leber und kein Zuhause.
»Die Zukunft war gestern«, hatte er neulich im Fernsehen gesagt.
Sie luden ihn nur noch ein, um den kaputten Kanter zu bestaunen.
Von einer Freakshow zur nächsten.
»Mit Haus am Meer, Bier für Helden oder Ich bin mein Chef wurde er berühmt. Er schrieb Hits für die Größten in der Musikbranche. Aber Alkohol und falsche Freunde zogen ihn in den Abgrund. Begrüßen Sie mit mir den letzten Cowboy Deutschlands: Jeff Kanter!«
Hermann Kanter hatte sich seinerzeit für Jeff entschieden, weil es klang wie Chef. Er bewunderte Bruce Springsteen. Aber mit Johnny Cash gab es gemeinsame Fotos.
»Wissen Sie. Es gibt nur zwei Arten von Männern. Männer im Frieden. Und Männer im Krieg. Ich ziehe jetzt in den Krieg und hole mir alles zurück, was man mir genommen hat. Für tausend Euro spiele ich überall. Ich rechne mit 800 Anfragen, das wird meine Schulden decken.«
Tatsächlich kamen über 3000. Kanter kaufte sich einen Wohnwagen. Er war seit vier Jahren unterwegs.
»Erst seit ich im Wohnwagen durch halb Europa gondle, fühle ich das, was ich mit meinen Liedern ausdrücken will.« Doch niemand interessierte sich für die Lieder. Es durfte keinen anderen Kanter als den kaputten Kanter mehr geben.
»Jeff Kanter am Nullpunkt seiner Karriere. Einst füllte er Hallen, jetzt spielt er auf Hochzeiten und in Wohnzimmern. Was war Ihr skurrilstes Erlebnis?«
Gerne erzählte er die Geschichte von der Schwulenhochzeit oder von dem Kindergeburtstag bei McDonald’s.
»Wissen Sie, ich habe erst durch diese Tour die Menschen, für die ich schreibe, wirklich kennengelernt. Ich höre ihre Sorgen und sage ihnen: Jeff Kanter ist einer von euch.«
Früher trank er, um vor ein Massenpublikum treten zu können. Heute trank er, um sich ein solches vorzustellen. Noch 30 Kilometer bis zum nächsten Gig. Frau Berner hatte ihm versichert, es würde der unvergesslichste Geburtstag ihres Mannes werden. Wie lange er denn für die tausend Euro spielte und ob man sich da auch etwas wünschen könnte.
»Wissen Sie, mein Mann ist der größte Johnny-Cash-Fan. Sie sind doch mit ihm befreundet. Und da dachte ich, Sie könnten ein kleines Medley spielen.«
Kanter hatte es aufgegeben, den Leuten zu erklären, dass er keine Wunschkonzerte gab.
»Kein Problem, Frau Berner. Ich werde um mein Leben spielen.«
Das wollte sie hören. Noch 10 Kilometer.
Als er vor dem Bungalow der Berners zu stehen kam, stieg er seufzend aus. Er öffnete das Wohnmobil und blickte direkt in das lächelnde Porträt von Elvis Presley. Springsteen hin, Cash her. Elvis blieb der Größte. Daneben hing ein Bild seiner Mutter. Sie tat sich ein wenig schwerer mit dem Lächeln, was nicht nur an dem fehlenden Schneidezahn lag, war aber für ihn die klare Nummer zwei. Sie hielt zu ihm in allen Lebenslagen. Leider starb sie zwei Jahre bevor es Kanter begann so richtig schlecht zu gehen. Und natürlich Kassel, der Hund. Er hing neben Mutter Kanter. Jeff hatte ihn nach seinem schlechtesten Auftritt benannt. Kassel, 1984. Eine echte Katastrophe. Kassel starb letztes Jahr und hing hier eigentlich nur aus schlechtem Gewissen. Der stockbesoffene Kanter hatte ihn auf dem Pannenstreifen ohne Leine laufen lassen. Das Foto zeigte Kassel vor dem Wohnmobil liegen. Und wenn Kanter betrunken war, rührte ihn das Foto zu Tränen.
Er stieg in sein mobiles Wohnzimmer. Aus dem Kasten kramte er drei Outfits und steckte sie in den Koffer. Das vierte zog er an. Kanters Gesetz: Trete niemals in deinen Privatklamotten vor dein Publikum. Und der Auftritt begann mit dem Läuten an der Eingangstür.
»Jeff Kanter ist in der Stadt.«
»Ich habe Sie mir immer größer vorgestellt.«
»Frau Berner, ich bin nur ein kleiner Mann, der die Größe des Lebens besingt. Wo darf ich meine Gitarre hinstellen?«
»Im Wohnzimmer, wenn es Ihnen recht ist. Hier steht normalerweise der Fernseher. Es ist Günthers Lieblingsplatz. Sie könnten genau vor dem Sofa stehen. Wollen Sie Kaffee?«
»Und Wasser für mein Pferd.«
Ein Scherz, der nicht ankam.
»Günther müsste in einer Stunde hier sein. Ich habe auch noch die Rohrmanns eingeladen. Sie sind unsere Nachbarn. Ich hoffe, das stört Sie nicht.«
»Keineswegs, Frau Berner.«
»Ich habe Ihnen auch eine Garderobe vorbereitet. Es ist das Jugendzimmer unseres Sohnes. Ich dachte, Sie wollen sich vielleicht vorbereiten. Und es soll ja eine Überraschung sein. Ist der Kaffee in Ordnung?«
»Frau Berner, der Kaffee ist köstlich. Haben Sie vielleicht ein Bier im Haus?«
»Ein Bier für Helden?«, zwinkerte sie ihm zu und verschwand in der Küche.
Kanter sah sich um. An den Wänden hingen Fotos. Sie zeigten die Berners bei einem Rodeobesuch in Texas, mit einem Pappaufsteller von Johnny Cash, gegen den Sonnenuntergang reitend, gemeinsam mit ihrem Sohn, der die Westernklamotten offensichtlich unfreiwillig trug. Ein Foto zeigte die beiden mit Kanter nach einem Konzert. Er konnte sich aber nur an die Zeiten erinnern. An das Foto nicht.
Die Decken des Bungalows waren sehr niedrig. Die Einbaukästen verstärkten den Wunsch nach frischer Luft.
»Herr Kanter, ich sage Ihnen: Ich kann es kaum erwarten, Günthers Gesicht zu sehen.«
»Es ist eine tolle Überraschung, Frau Berner. Wie alt wird denn Ihr Mann, wenn ich fragen darf?«
»Sechzig, wir sind seit 34 Jahren verheiratet.«
Sie stellte ihm das Bier hin. Er nahm es und hielt es hoch.
»Frau Berner, sagen Sie doch Jeff zu mir.«
»Ich bin die Monika, aber Günther nennt mich Moni Moni. Ich kann es kaum glauben, dass Sie hier sind … Jeff.«
Schüchtern hob sie das Glas.
»Also, auf heute Abend.«
»Dein Mann kann sich glücklich schätzen, Moni … Moni.«
Nervös fiel ihr Blick auf die Uhr.
»Die Rohrmanns sollten längst hier sein.«
Verlegen zupfte sie am Tischtuch.
»Was macht Günther beruflich?«
»Er betreibt die Kantine im Tennisclub. Aber eigentlich sparen wir auf unsere Farm in Neuseeland.«
»Es ist schön, einen gemeinsamen Traum zu haben.«
»Ja, man hat dann etwas, worüber man reden kann.«
Ihr Blick fiel wieder auf die Uhr.
»Günther wird in 30 Minuten hier sein. Sie könnten wenigstens anrufen, wenn sie schon zu spät sind.«
»Sie werden jeden Moment hier sein.«
»Noch ein Bier?«
»Gern.«
Frau Berner verschwand in der Küche. Ihr schneller, gebückter Gang ließ Kanter an eine Heuschrecke denken. Die Proportionen der Wohnung wirkten eine Spur zu klein für die schlaksige Frau Berner. Durch die dünnen Wände hörte er sie mit jemandem sprechen.
»Alles in Ordnung?«
»Die Rohrmanns werden nicht kommen.«
Sie ging zwischen den beiden Stühlen auf und ab. Ihr Kleid sah aus, als hätte sie es vor 20 Jahren gekauft und für diesen Abend wieder hervorgekramt. Kanter wagte es nicht, nach dem Grund für das Fernbleiben der Nachbarn zu fragen.
»Moni, es wird trotzdem ein toller Abend. Ich werde nur für euch beide spielen.«
Sie rang sich ein Lächeln ab, nickte und setzte sich hin, um jetzt wieder am Tischtuch zu zupfen.
»Sie sollten sich umziehen.«
Kanter sah sie verdutzt an.
»Ich bin schon fertig.«
Ein enttäuschter Blick fiel auf Kanter.
»Verstehe. Ich hatte gehofft, Sie … du würdest etwas anderes anziehen.«
»Aber Schwarz ist die Farbe des Meisters. Das sollte deinem Mann doch gefallen.«
»Mir gefällst du glitzernd besser.«
Sie schickte ihm ein zögerliches, aber bestimmtes Lächeln.
»Also, ich werd dann mal«, sagte Kanter und verschwand Richtung Backstage.
Er nahm auf dem knarrenden Jugendbett Platz. In den Regalen die Kuscheltiere des Sohnes. Die gesammelten Werke von Karl May standen neben Drei-Fragezeichen-Platten. Das Zimmer schien seit Jahren unberührt. Er dachte darüber nach, ob er ihrem Wunsch nachkommen sollte.
Als er das schon etwas knapp sitzende Glitzerteil, in dem er aussah wie Old Shatterhand, der in den Himmel auffuhr, im Spiegel betrachtete, fiel ihm auf, dass sich die Veranstalterin und er kein Zeichen für den Beginn ausgemacht hatten. Wenn er jetzt hinausging, lief er bereits Gefahr, Frau Berner die Überraschung zu verderben. Mein Gott, diesen Anzug hatte er zuletzt vor 15 Jahren bei einem Wetten, dass..?-Auftritt getragen. Er setzte sich und dachte an alte Zeiten. Ein Bier! Aber er musste sich wohl bis zum Auftritt gedulden.
Er konnte nicht einschätzen, wie lange er eingenickt war. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Als er seinen Atem anhielt und lauschte, vernahm er nichts. Er stand auf und schlich durch den Gang. Er presste sein Ohr gegen die Wohnzimmertür. Stille. Zögerlich drückte er die Klinke. Das Zimmer war hell erleuchtet. Von Günther und Moni fehlte jede Spur. Die Decken wirkten noch niedriger als zuvor. Durch die dünnen Wände konnte er Moni schluchzen hören. Er folgte dem Geräusch in die Küche, wo Frau Berner vor einer halb geleerten Sektflasche saß.
»Würden Sie trotzdem spielen?«
»Haben Sie vielleicht noch ein Bier?«
Sie deutete auf den Kühlschrank. Dann schluchzte sie weiter.
»Hat er sich gemeldet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe in der Kantine angerufen. Die dachten, er hätte sich wegen des Geburtstags frei genommen.«
»Sie sollten die Polizei alarmieren.«
Sie trank das Glas in einem Zug aus und stellte es hin.
»Der ist weg. Das weiß ich.«
Als sie Kanter ansah, musste sie kurz lächeln.
»Sie haben das Glitzerkostüm angezogen.«
Kanter nickte.
»Wetten, dass..?! Ich erinnere mich genau.«
Sie lächelte ihn an, als könnte sie mit diesem Wissen ebendort auftreten.
»Mam, es wäre mir eine Ehre, wenn ich jetzt für Sie spielen dürfte.«
Der Luster versperrte zwar ein wenig die Sicht auf den stehenden Kanter. Aber durch den Couchtisch war so etwas wie ein Bühnenbereich markiert. Frau Berner saß ein paar Meter entfernt. Ihre Knie ragten über die Tischkante. Gebückt saß sie da und heulte, während Glitzer-Kanter einen Johnny-Cash-Klassiker nach dem anderen spielte. Dazwischen hob Frau Berner immer wieder das Gesicht, um ein wahnwitzig breites Lächeln in dieses zu zaubern. Allerdings ohne dabei mit dem Weinen aufzuhören. Dazwischen applaudierte sie jedes Mal so lange, bis sich Jeff Kanter verbeugte. Zu jedem Lied erzählte er ihr eine Anekdote. Und als nach der achten Zugabe noch immer kein Ende in Sicht war – Frau Berner hatte schon die zweite Sektflasche im Alleingang geleert –, sagte Jeff:
»Liebe Moni, das letzte Lied widme ich ausschließlich dir.«
Plötzlich verschwand das wahnwitzig breite Lächeln aus ihrem Gesicht. Sie starrte den innehaltenden Kanter schweigend an. Und als dieser nicht reagierte, wurde sie von noch heftigeren Weinkrämpfen gebeutelt. Jeff Kanter blieb nichts übrig, als den Bühnenbereich zu verlassen.
»Aber Moni, irgendwann hat alles ein Ende.«
Er war sich selbst nicht sicher, ob er jetzt das Konzert oder Beziehungen im Allgemeinen meinte. Moni krallte sich an ihm fest. Lallend flehte sie in sein Ohr:
»Bitte, geh nicht, Jeff.«
Dieser hatte schon einen halben Kasten Bier intus. Er sagte:
»Moni, ich kann nicht mehr.«
Sie umarmte ihn noch fester und begann ungeschickt an seinem Hals zu saugen.
»Jeff, ich bin eine sehr einsame Frau.«
Er versuchte sich zu lösen, aber es fühlte sich an, als hätte Frau Berner ein Vakuum zwischen ihren Lippen und seinem Hals erzeugt.
»Moni, was ist, wenn dein Mann auftaucht.«
Er hoffte, ein Gespräch könnte dieses Vakuum lösen. Doch Frau Berner schaffte es zu sprechen, ohne das Saugen einzustellen.
»Er wird nicht kommen. Das weiß ich.«
»Er ist schon vor langer Zeit gegangen, stimmt’s?«
Frau Berner nickte, während sie schluchzte und saugte.
»Bleib hier, Jeff. Nur eine Nacht.«
Kanter fasste sie an den Schultern, strich ihr das nasse Haar zur Seite und sagte:
»Schau mich an.«
Sie zog die Nase hoch und sah ihn an.
»Ich kann das nicht, verstehst du. Das hat nichts mit dir zu tun. Aber ich bin ein Cowboy. Ich gehöre auf die Straße.«
»Günther war auch ein Cowboy.«
Er küsste ihre Stirn, was sie mit geschlossenen Augen goutierte.
»Wo ist er denn hin, Moni?«
»Willst du ihn sehen?«
Frau Berners Augen öffneten sich und lächelten ihn verrotzt an. Ein kalter Schauder lief Kanter über den Rücken. Kassel!
»Was meinst du damit?«
»Komm, ich zeig ihn dir?«
»Aber er lebt doch, oder?«
Da musste Moni lachen und obwohl sie nicht fest zudrückte, war es Kanter unmöglich, seine Hand aus der ihrigen zu lösen. Wie ferngesteuert folgte er ihr. Als Moni vor der Kellertür stehen blieb, hielt sie ihren langen Zeigefinger auf seinen Mund.
»Wir müssen jetzt leise sein.«
Kanter machte sich auf alles gefasst.
»Es riecht nach Formalin«, sagte er.
»Blödsinn«, flüsterte sie.
Geräuschlos öffnete sich die Tür. Der Raum war stockdunkel.
»Du zuerst«, sagte Moni. »Ich habe Angst im Dunkeln.«
Kanter zwinkerte ihr mannhaft zu und machte den ersten Schritt.
»Hallo?«, scherzte er.
Mit einem lauten Ruck fiel die Tür ins Schloss.
»Hallo! Moni!«
Er rüttelte an der Tür.
»Moni, was soll das!«
Er klopfte mit der Faust. Er trat mit dem Fuß dagegen.
»Das bringt deinen Mann auch nicht zurück!«
Er lief an und sprang mit der Schulter gegen die Tür.
»Sie werden mich suchen! Meine Agentur weiß, wo ich stecke!«
Moni hatte direkt gebucht. Es gab keine Agentur.
»Moni!«
Kanter blieb im Dunkeln stehen. Stille. Nur sein kurzer Atem füllte den Raum. Er fühlte sich beobachtet. Als würde jemand neben ihm stehen. Er hielt den Atem an. Er drehte sich im Kreis. Er schlug mit den Armen um sich. Nichts.
»Moni!«
Und dann fühlte er sie, die zittrige Hand, die von hinten seine Schulter berührte.
»Sind Sie Jeff Kanter?«
Die Stimme eines Mannes, der jetzt sein Gesicht abtastete.
»Günther?«
»Jeff Kanter. Ich glaube es nicht. Dann muss heute tatsächlich mein Geburtstag sein.«