In meiner Kindheit hat man ständig Dinge in Schränken versteckt: Stereoanlagen, Fernsehapparate, Telefone, Vaters Silbermünzen, Spirituosen, ja, und meine Großmutter verbarg dort sogar die Vergangenheit, über die sie mit keinem reden wollte. Als sie dann starb und wir Kinder und Eltern in einem Akt der familiären Solidarität den modrigen Schrank – der roch, wie nur Schränke von toten Großmüttern riechen können – ausräumten, fiel es uns wie Schuppen von den Augen.

 

»Wie Schuppen von den Augen?« Als hätte irgendjemand, den ich kannte, je Schuppen auf den Augen gehabt. Hätte in unserer Familie jemand darunter gelitten, dann hätte man auch diese in irgendeinem Schrank für seltsame Hautkrankheiten versteckt. Auf jeden Fall fiel uns die Lade herunter, was bei den Einbauschrank-Obsessionen meiner Familie wahrscheinlich die entsprechendere Formulierung wäre.

 

Fein säuberlich hing sie dort, noch immer den chemischen Duft einer Reinigungsfirma verbreitend, die bereits in den 50ern Pleite gegangen war. Nostalgisch und penetrant. Die SS-Uniform meines Großvaters. Da standen wir also –

Eine solche Verdrängung des Alltäglichen wäre in den meisten anderen europäischen Städten schon aufgrund der durchschnittlichen Wohnungsgröße nicht möglich gewesen. Nehmen Sie London oder Amsterdam – kein Platz für Lagerungen dieses Ausmaßes, und das ist vielleicht mit ein Grund für den unbändigen Drang, seine Schränke in anderen Ländern aufzustellen. Aber in Österreich – wo man nicht umsonst stolz auf eines der dichtesten Kanalisationsnetze der Welt ist – verstaut man alles im eigenen Land, und kein Verdauungsapparat der Welt könnte das, was …

»Sie riecht eigenartig«, brach meine Mutter das Schweigen.

»Sollen wir sie waschen?«, entgegnete mein Vater. »Ich weiß nicht.«

»Lass sie mal hängen.«

»Wir haben noch den ganzen Keller vor uns«, meinte meine Mutter. Und mein Vater nickte und wartete, dass sich einer von uns von der Stelle rührte. Aber keiner rührte sich, als übte diese penetrant riechende SS-Uniform noch immer Befehlsgewalt aus.

Nach ungefähr fünf Minuten machte meine Mutter den Anfang. Sie begann, die oberste Reihe Textilien von den Regalbrettern zu nehmen. Übervorsichtig bemüht, den schwarzen Stoff der Uniform ja nicht zu streifen.

»Nicht zu fassen«, wiederholte sie es eindringlich. »Sie hat diese Bluse seit zehn Jahren nicht mehr getragen. Kein einziges Mottenloch. Sieh mal.«

Interesse vortäuschend neigte mein Vater den Kopf und sagte: »Nicht zu fassen. Tatsächlich!«

 

Meine Mutter nahm alle Blusen in eiligem Tempo heraus.

Sie durchsuchte jede einzelne nach Mottenspuren. Aber es war: »Nicht zu fassen. Wie neu.« Und mein Vater, in solidarischem Gehorsam, setzte jedem »Nicht zu fassen« ein »Tatsächlich« hinterher.

 

Nach ungefähr 40 »Nicht zu fassen«- und »Tatsächlich«-Sätzen baumelte die Uniform allein im Schrank. Als das letzte Stück Eigengeruch meiner Großmutter entfernt worden war, hing der penetrante Geruch der SS-Jacke in aller Deutlichkeit vor unseren Nasen. Scharf. Bitter. Sauber. Überdeckend. Anhaltend. Mottengift. Meine Großmutter hatte – wahrscheinlich weil sie ohnehin keiner mehr trug – eine Unmenge Antimottenstreifen in den Innenseiten der Jacke versteckt. Still und heimlich hatte die SS-Uniform meines Großvaters also noch einen Motten-Holocaust angerichtet,

Wie ich darauf komme?

Nun, in dem Schrank, in dem ich mich seit ungefähr zwei Minuten verstecke, riecht es genauso penetrant nach Antimotte wie in dem meiner Großmutter.

 

 

Begonnen hat alles vor einem Jahr. Und seither haben wir uns überall geliebt. Im Kaufhaus. Im Aufzug. Im Auto. Im Park. In der Sauna. Im Hotel. In einer öffentlichen Toilette. In der U-Bahn. Im Schwimmbad. Ja, sogar im Schrank auf einer Party gemeinsamer Freunde. Und hätten wir gekonnt:

Wir hätten es auch unter Aschenbechern, in leeren Weinflaschen, unter Secondhand-Buchumschlägen, in Hosentaschen von nichts ahnenden Fremden, unter den Augenlidern von schuppigen Versicherungsvertretern und inmitten des Drecks unter den Fingernägeln meines Automechanikers gemacht. Aber niemals hätte sich für mich die Frage nach ihrem oder meinem Bett gestellt.

Nicht aus moralischen Gründen. Moral spielte zu diesem Zeitpunkt schon längst keine Rolle mehr. Irgendwann hat sich nur noch die Frage nach dem Ertapptwerden gestellt und dann nicht einmal mehr diese. Unser erotischer Höhenflug hat uns glauben lassen, nichts könne uns etwas anhaben. Und so endeten wir heute Nachmittag im Bett meines besten Freundes Paul, der dort seit zehn Jahren neben ihr schläft.

Eva schrie, als wollte sie die Wände der letzten zehn Jahre niederreißen. Als wäre diese Wohnung ein Schrank, in

Wenige Minuten später sprang ich panisch auf, riss die Tür des Kleiderschranks auf, als gebe es dort einen direkten Ausgang in die brechend vollen Straßen von Delhi, wo ich in der Menschenmenge verschwinden und erst in irgendeinem Kino, wo sie einen alten Aisha-Film spielen, zu Atem kommen würde.

Stattdessen stand wenig später Paul in der Tür. Er schwieg.

Eva täuschte vor, er hätte sie beim Masturbieren ertappt. Sehr clever, dachte ich mir, während ich überprüfte, ob ich auch alle Klamotten in Händen hielt. Positiv!

Ja, und jetzt sitze ich in diesem verdammten Schrank und höre Paul und Eva beim Vögeln zu. Ob sie bei Paul immer so schreit? Oder versucht sie, erotischen Kontakt zu mir zu halten?

Durch meine Nase fährt der scharfe Geruch der Antimottenstreifen. Ohne dass ich es recht merke, bewege ich die Hand im Rhythmus von Paul und Eva auf und ab. Ich onaniere im Schrank meines besten Freundes, während er draußen meine Geliebte vögelt, die auch zufällig seine Frau ist.

 

Wie es so weit kommen konnte? Eine berechtigte Frage. Und wie soll ich sie beantworten, ohne dass ich am Ende wie das größte

 

Ich bin erfolgreich, loyal, charmant, bescheiden, selbstironisch, intelligent, gut aussehend und wohlhabend. Und ich beweise Mut zur Größe, indem ich auch meine Schwächen nicht verbergen will: Ich vögle die Frau meines besten Freundes. Mein Gott! Dieser Bastard weiß sie doch ohnehin nicht zu schätzen. Er vernachlässigt sie. Interessiert sich nur noch für Karriere und seinen neuen Porsche-Zweisitzer.

Und – glauben Sie es ruhig – ich rette ihm mit meinem Schwanz zweimal die Woche die Ehe. Ach ja – das habe ich übrigens vergessen zu erwähnen:

 

Auch ich bin verheiratet. Seit acht Jahren. Wir sind alle miteinander befreundet. Fahren sogar gemeinsam in Urlaub. Eva würde Paul niemals verlassen, weil sie das Lisa – meiner Frau und ihrer besten Freundin – niemals antun würde. Und natürlich weiß sie, dass ich Lisa ebenfalls niemals verlassen würde.

 

Stellen Sie sich vor, sie würde mit irgendeinem Unbekannten vögeln. Der vielleicht in keiner Beziehung lebt. Alles wäre unberechenbar. Nein. Ich bin ein nicht zu unterschätzender Stabilitätsfaktor in diesem vierteiligen Gefüge. Ich bin es, der hier die Balance hält. Paul muss das verstehen. Selbst wenn ich onanierend in seinem Kleiderschrank sitze.

 

»Die Sicht ist schlecht, Sir!«, sagt Starbuck. »Aber wir sitzen jetzt schon ziemlich lange hier fest!«

Ich überlege. »Machen Sie startklar. Es wird Zeit.« Starbuck nickt und verschwindet eilig hinter den baumelnden Jacken im Dunkel des Schrankes. Er hat recht. Wir wissen nichts über die Gefahr, die hinter dem Nebel dieser Schranktüren wartet.

Plötzlich: Stimmen!

»Hier stimmt doch etwas nicht.«

»Was soll nicht stimmen? Komm doch wieder ins Bett.«

»Nein. Irgendetwas geht hier vor.«

»Was meinst du?«

»Wo ist er?«

»Wer?«

»Du hältst hier doch irgendwo einen Mann versteckt!«

»Jetzt verlierst du völlig den Verstand!«

»Er wird doch nicht unter dem Bett … «

Die Situation spitzt sich zu. Mein Blick wechselt zwischen Schlitz und Jacken. Wo bleibt Starbuck? Es ist nur eine Frage von Sekunden, bis …

Und dann fällt es mir auf. Unbändige Wut schießt hoch. Mein Blut stockt vor Entsetzen.

Ich koche. Ich schäume. Wie Babs Becker 2001, wie Uschi Glas 2002, wie Jennifer Aniston 2006, wie die Queen in all those difficult years.

Damit hätte ich niemals gerechnet. Dieses Schwein!

 

»Es ist nicht zu fassen.«

»Tatsächlich.«

 

hängen doch an der Innenseite Antimottenstreifen – wahrscheinlich weil sie ohnehin keiner mehr trägt. »Nicht zu fassen«, wiederhole ich.

 

»Tatsächlich«, entgegnet Starbuck. »Wir sind startklar, Sir!«, nickt er mir dann zu, als Paul plötzlich die Läden aufreißt. Noch bevor er mich und meine Nacktheit erkennt, fahre ich hoch und verpasse ihm einen Kinnhaken, der ihn zu Boden schlägt. Nicht aus strategischen Gründen, nein. Aus blanker Wut. »Es ist nicht zu fassen! Paul!« Ich will aus dem Schrank steigen, um erneut auszuholen – doch Starbuck hält mich zurück: »Wir müssen los, Sir.«

Dazwischen das erwachende Stöhnen von Paul. »Lauf«, sagt Eva.

Mein Blick wechselt zwischen ihren aufgerissenen Augen und meiner alten Jeansjacke. Pauls Stöhnen. Evas Drängen. Aber die Jacke! »Die Jacke, verstehst du?«

 

Nachdem wir im Schrank meiner Großmutter die SS-Uniform meines Großvaters gefunden hatten, ging es bergab. Irgendwie lebten sich meine Eltern auseinander. Die Familie brach auseinander. Mein Vater lachte sich eine junge Sekretärin an. Mein Bruder zog ins Ausland – wahrscheinlich, um sich die mühsamen Grabenkämpfe der beiden zu ersparen. Und meine Mutter wollte von Männern nichts mehr wissen. Zumindest behauptete sie das ständig. Stattdessen pflegte sie das Grab meiner Großmutter mit übertriebenem Eifer. Und bewohnte nur noch die Hälfte der Zimmer unserer alten gemeinsamen Wohnung.

Zwei Jahre später ließen meine Eltern sich scheiden. Es wurde um alles gestritten – nur nicht um die alte SS-Uniform. Die blieb im Schrank hängen und wurde einmal im Jahr mit neuen Antimottenstreifen versehen. Das Eigenartige war, dass meine Mutter die Jacke im entleerten Schrank meines Vaters aufbewahrte – und in all den Jahren hatte sie dort kein einziges Kleidungsstück hinzugefügt. Der Schrank blieb leer, bis auf die Jacke.

Einmal fragte ich sie: »Warum tauscht du eigentlich jedes Jahr die Antimottenstreifen aus?« Meine Mutter sah mich verständnislos an: »Na, wegen den Motten.« Ich öffnete die

»Lauf«, flüstert Eva. Pauls Augenlider flattern bereits halbbewusst vor sich hin.

»Aber die Jacke!«

Eva sieht mich verdattert an. »Welche Jacke?«

 

Mein Blick fällt zurück. Wenn ich die jetzt an mich reiße, dann ist für Paul völlig klar, wessen Schlag ihn aus der Schranktür traf. Nichts ist mehr wie früher.

Paul wird Eva verlassen. Er kann einen solchen Vertrauensbruch nicht ertragen. Und Eva? Ich sehe sie an. Sie wird uns nicht verraten. Sie wird einen Unbekannten erfinden, einen Gesichtslosen. Aber wird sie eine Affäre einfordern, nachdem sie sich von Paul getrennt haben wird? Bestimmt. Aber Eva ohne Paul? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie gehören zusammen. Es würde nicht funktionieren. Es würde die Balance gefährden. Auch, was unsere Affäre betrifft: Eva wäre allein eine völlig andere Frau.

Und die Jacke? Ich muss sie Paul überlassen. In meinem Bauch formt sich ein warmes Gefühl der Erleichterung. Es ist Pauls Schuld, die hier hängt. Wegen der Balance. Auch wenn die Jacke keiner mehr trägt und sie mitten zwischen Evas Kleidern hängt.

Ich laufe hinaus.

 

Drei Wochen später wird Eva ausziehen. Ihr Kleiderschrank wird leer bleiben. Nur die alte Jeansjacke mit den

Eva wird mich kurz anrufen, von einer Autobahnraststätte. Sie wird sagen: »Ich wollte dir nur eine Chance geben.« Und ich: »Danke, aber … « Sie wird mich unterbrechen: »Schon gut. Das habe ich mir ohnehin gedacht.« Wenn sie auflegt, wird klar sein, dass wir uns nie wiedersehen werden.

 

Abends ruft Mutter an und fragt mich, was ich mir in diesem Jahr zu Weihnachten wünsche. Und da fällt es mir auf: Sie hat die Antimottenstreifen der SS-Uniform immer am gleichen Tag ausgewechselt. Wie hätte ich es sonst erfahren?

Jedes Jahr zu Weihnachten – der einzige Tag im Jahr, an dem mein Bruder und ich sie gleichzeitig besuchen. Sie hat eine Tradition daraus gemacht, genau dann die Antimottenstreifen auszuwechseln. In der SS-Uniform im leeren Schrank. Dort, wo einmal die Dinge meines Vaters hingen, der für sie niemals gestorben ist.